Fußgänger werden im Alltagsverkehr stark benachteiligt. Das kann bisweilen lebensgefährlich sein. Eine eigene Lobby haben sie noch nicht

Die Verletzlichen

d'Lëtzebuerger Land du 21.01.2022

Eine Frau mit Einkaufstasche läuft beim Bahnhofsplatz über den Zebrastreifen. Nicht in Richtung Gleise, sondern in die entgegengesetzte. Sie will ihren Bus, der vor dem Hotel Empire hält, noch rechtzeitig erreichen. Nun springt die Ampel für Fußgänger auf Rot. Eine Frau mit einer Krücke an der Rechten hatte dennoch angesetzt, um den Bahnhofsvorplatz zu erreichen. Ein Multiplicity-Bus fährt dicht an ihr vorbei. Für ein paar Sekunden sind die Gehwege frei. Dann füllen sie sich wieder: ein Mann steht wie ein Brett neben der Ampel, als würde er auf einen Befehl warten; Personen mit schwarzen, minzgrünen und roten Rollkoffern und ein Junge mit einem pinken Fahrrad gesellen sich dazu. Der Seitenstreifen quillt an, bis schließlich wieder 30 Leute gleichzeitig die Straße überqueren. Nun staut es in der rue Joseph Junck, ein blauer SUV muss bei Grün auf dem Zebrastreifen halten. Und auch die Fahrbahn vor dem Bahnhofsplatz ist inzwischen derart dicht befahren, dass die Autos, Lieferwagen und Busse nur noch schleichen. Eine Frau mit Bierdose in der Hand schlängelt sich zwischen zwei Fahrzeugen vorbei. Jetzt Achtung: Auch auf dem Zebrastreifen Richtung Bahnhofsplatz halten Autos. Schüler/innen, die sich an diesem späten Freitagnachmittag vermutlich auf das Wochenende freuen, huschen vorbei. Wie kann es sein, dass der Fußgängerstreifen von Autos besetzt wird, ist die Fußgänger-Ampel doch ziemlich knapp getaktet?

Tatsächlich folgt die Ampelanlage dem Prinzip „Dauergrün für Autos“. Das grüne Männchen ist meist nur fünf bis zehn Sekunden lang zu sehen, danach springt es wieder auf Rot. Damit es erneut aufleuchtet, müssen Fußgänger/innen je nach Tageszeit 50 bis 70 Sekunden warten, wenn sie den Rufknopf drücken. Manchmal sind es auch nur 30 Sekunden. Ende 2016 hatte die Stadt Luxemburg die Wartezeiten angepasst, nachdem ein von ihr in Auftrag gegebenes Audit ergeben hatte, dass sie bei 26 bis 31 Prozent der Ampeln „zu lang“ seien und bei über 50 Prozent „spürbar“. Die Stadt habe in der Folge reagiert und an vielen Stellen hochkomplexe „intelligente“ Ampelsysteme eingeführt, die je nach Tageszeit unterschiedliche Programme schalten, erklärt Laurent Vanetti, Leiter des städtischen Verkehrsdienstes, dem Land. Allgemein seien die Ampeln am Bahnhofsplatz darauf ausgerichtet, den Verkehrsfluss von Bussen und Tram zu beschleunigen. Seitdem die Avenue de la Gare für Autos gesperrt ist, habe der Verkehr dort merklich abgenommen.

Wie unsere Beobachtungen zeigen, sind die derzeitigen Wartezeiten für Fußgängerinnen aber immer noch zu lang, Passanten werden häufig ungeduldig und missachten das Signal. Vor dem Bahnhof sind lange Wartezeiten besonders heikel, weil manchmal nur Sekunden darüber entscheiden, ob jemand den Zug noch erwischt oder eine halbe Stunde auf den nächsten warten muss. Progressive Städte wie beispielsweise Graz gehen daher auf den Weg, den Fußgängern statt den Autos das Recht auf „Dauergrün“ zu gewähren, um die Wartezeiten zu verkürzen. Doch die Stadt Luxemburg sieht das noch skeptisch. Es mache wenig Sinn, Autos an der roten Ampel warten zu lassen, wenn kein Fußgänger in Sicht sei, sagt Vanetti. Wenn der Verkehrsfluss zu stark gebremst werde, führe das dazu, dass die Fahrer sich alternative Wege durch Wohnviertel suchen, und das wolle niemand.

Fußgänger sind die verwundbarsten Verkehrsteilnehmer, das wird in offiziellen Veröffentlichungen immer wieder betont. 2019 wurden im Großherzogtum 174 Passantinnen bei Verkehrsunfällen verletzt, davon 41 schwer, zwei Menschen starben. 2020 waren vier Tote zu beklagen, 2016 waren es acht. Ein Viertel bis ein Drittel aller Unfälle passiert in der Stadt Luxemburg. 2013 hatte das Ministerium für Infrastruktur Zahlen veröffentlicht, denen zufolge 94 Prozent der Unfälle mit Fußgängern in Agglomerationen geschehen.

Fußgängerinnen sind aber auch deshalb am verletzlichsten, weil die Straßeninfrastruktur sie ausdrücklich benachteiligt. Der öffentliche Raum gehört noch immer den motorisierten Fahrzeugen. Autofreie Zonen bleiben die Ausnahme. Zudem sind die Querungszeiten für Passanten wesentlich kürzer als für Autos. An der Stater Gare ist die Ampel für Fußgänger nur fünf bis zehn Sekunden grün, was insbesondere für Menschen mit eingeschränkter Mobilität heikel sein kann. Am Escher Bahnhof, wo die Fahrbahn schmaler ist, beträgt die Querungszeit bis zu 20 Sekunden, auch die Rufzeit ist wesentlich kürzer. Laut Vanetti liegen die Zeiten in der Hauptstadt aber noch über den derzeit gültigen Richtlinien für Lichtsignalanlagen.

Im Gegensatz zu anderen Verkehrsteilnehmern haben Fußgängerinnen in Luxemburg (noch) keine Lobby. Das mag daran liegen, dass sie keine einheitliche Gruppe darstellen. Irgendwie ist schließlich jeder irgendwann Fußgänger, selbst wenn er nur vom Parkplatz zum 100 Meter entfernten Laden geht. Allerdings entscheiden sich insbesondere innerorts immer mehr Menschen dazu, kleinere Strecken nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß zurückzulegen. Verlässliche Zahlen dazu gibt es bislang nicht, doch die Luxmobil-Studie von 2017 hat ergeben, dass rund sechs Prozent der Verkehrsteilnehmer den gesamten Weg zur Arbeit zu Fuß zurücklegen. Bis 2025 will der grüne Mobilitätsminister François Bausch diesen Anteil auf neun Prozent erhöhen.

Damit die Menschen häufiger zu Fuß gehen, müssen sie sich sicher fühlen. Neben kürzeren Wartezeiten und längeren Querungszeiten spielen noch andere Faktoren eine Rolle. Laut einer Umfrage von Bauschs Ministerium sind das fußgängerfreundlichere Kreuzungen, besser beleuchtete und breitere Bürgersteige sowie von Bürgersteigen getrennte Radwege. Das Audit von 2015 hatte ergeben, dass bei fast 90 Prozent der überprüften Bürgersteige (auf einer Gesamtlänge von 64,1 Kilometern) die bauliche Breite und die Barrierefreiheit „eingeschränkt“ oder „nicht ausreichend“ seien. In den vergangenen sechs Jahren seien viele Anstrengungen unternommen worden, betont Vanetti. In der Avenue de la Gare seien Telefonkabinen und anderes „Mobiliar“ entfernt worden, für Menschen mit einer Sehbehinderung seien Strecken mit taktilen Leitsystemen angelegt worden, Bordsteinkanten seien abgeschrägt und an manchen Fußgängerwegen sei die Beleuchtung verbessert worden.

Dass viele Kreuzungen und Zebrastreifen nicht fußgängerfreundlich seien, hat eine rezente Untersuchung des Zentrums für urbane Gerechtigkeit (Zug) ergeben. Das Zug ist ein Zusammenschluss von Bürger/innen, die sich um die Verkehrsfreundlichkeit in der Hauptstadt sorgen. Anhand einer selbstentwickelten App hatten sie vergangenes Jahr festgestellt, dass 475 Zebrastreifen nicht konform zum Gesetz seien. Eine großherzogliche Verordnung von 2008 verbietet es nämlich, Fahrzeuge (und Tiere) weniger als fünf Meter auf beiden Seiten von Fußgängerüberwegen entfernt abzustellen. Grüne und Linke hatten das Problem am 15. November im Gemeinderat angesprochen. Verkehrsschöffe Patrick Goldschmidt (DP) hatte in seiner Reaktion auf die Fragen der Opposition erklärt, die Stadt habe ein Sonderabkommen mit dem Transportministerium abgeschlossen. Dieser Absprache zufolge müsse die Fünf-Meter-Regel nur in Fahrtrichtung und nicht bei Ampelkreuzungen beachtet werden. Die Gemeindedienste hätten auf Basis dieser Sonderregelung eine eigene Analyse durchgeführt und seien zu dem Schluss gekommen, dass lediglich 32 der insgesamt 1 787 Zebrastreifen potenziell gefährlich seien. Wie es möglich ist, dass die Stadt mit dem Ministerium Ausnahmeregelungen zu geltendem Recht vereinbart, konnte Goldschmidt auf Land-Nachfrage nicht erklären. Das sei „vor seiner Zeit“ als Verkehrsschöffe passiert.

Stéphanie Majerus, Luc Laboulle
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