Adrett knüpft er den Sakko zu, bevor er das Wort ergreift. Dann blickt er auf die Regierungsbank unter dem Porträt des neuen Großherzogs und ist zuerst einmal froh.
Lucien Weiler ist der zum Offizier aufgestiegene perfekte Parteisoldat, der vor dem halbvollen Parlament seine Pflicht tut: den Haushaltsentwurfseiner Regierung überschwänglich loben, Oppositionseinwände mit bleierner Ironie abschmettern.
Während sein Parteikollege Laurent Mosar gespannt ein blaues Geschenkpapier zerreißt, ist Weiler zuerst einmal froh, dass Premier Jean-Claude Juncker gerade eine Erklärung vor dem Parlament abgegeben hatte. Juncker hatte dem Parlament gemeldet: Auftrag erledigt, siegreich aus Nice zurückgekehrt mit einem Kommissar, sechs Europaabgeordneten, vier Ministerratsstimmen und einem Steuerveto.
Von Athen bis Sidney. Luxemburg und die Olympischen Spiele heißt das Buch, das Laurent Mosar geschickt bekam. Marcel Glesener entdeckt unterdessen im zweiten blauen Geschenkpaket, das alle Abgeordneten an diesem Tag in ihrer Post fanden, den Katalog einer Fotoausstellung der Sparkasse.
Junckers Frontbericht hätte die verschlafenen Haushaltsdebatten zum Wesentlichen führen können. Denn wenn es um Europapolitik geht, geht es laut Weiler "direkt und implizit um die Luxemburger Staatsfinanzen". Aber der Bericht war nur das Signal an das Parlament, dass die Budgetpolitik "eine angenehme Aufgabe" bleibt angesichts des "blendenden Zustands der Staatsfinanzen".
Dafür verkneift Weiler es sich nicht, daran zu erinnern, dass DP-Minister Henri Grethen vor zwei Jahren noch vor "belgischen Verhältnissen" in der Staatskasse gewarnt hatte. Aber bei der DP-Fraktion ist niemand zu Hause. Die fünf liberalen Abgeordneten lesen Zeitung.
Fast die Hälfte des Staatshaushalts, über den die Kammer zu debattieren hat, wird am Finanzplatz erwirtschaftet. Da trifft es sich gut, dass laut Weiler "der Herr Thiel heute morgen noch gemeint hat, dass der Bankenplatz mit den Ergebnissen von Nice leben kann".
Mit dem Plazet des Direktors der Bankenvereinigung lassen die Abgeordneten sich zufrieden in ihre Sessel zwischen falschen Marmorsäulen und bordeauxrot verhangenen Pulten zurücksinken. Denn alles deute darauf hin, dass das hohe Wirtschaftswachstum in Luxemburg anhalte, schätzt Weiler. Sein Koalitionskollege Jean-Paul Rippinger spricht sogar von einem "Wirtschaftswunder in Luxemburg".
Um die heimelige Idylle perfekt zu machen, lügen sogar die züngelnden Glühlämpchen des Kronleuchters, sie seien Kerzen. Juncker blättert durch einen Stapel Fotokopien: die Auslandspresse über den EU-Gipfel. François Bausch fürchtet im Namen der Grünen, dass bei soviel Wachstum die Lebensqualität durch Verkehrschaos und Landverbrauch beeinträchtigt wird. Der einsame Vertreter der Lénk, Aloyse Bisdorff, gibt ihm theoretisch weit ausholend Recht.
Den erstaunlichen Meinungsumschwung der CSV in Sachen Bankgeheimnis und Quellensteuer kaschiert Weiler mit Sticheleien gegen die LSAP. Empört lassen sich Jeannot Krecké und Jean Asselborn von Juncker bestätigen: "Die LSAP hat sich mustergültig verhalten!" Die beiden Oppositionspolitiker lächeln stolz. Weiler will plötzlich völlig missverstanden worden sein.
Also erinnert Krecké die DP daran, dass sie in ihrem Wahlprogramm für das Bankgeheimnis und gegen die Quellensteuer war. Alle hacken auf den Liberalen herum. So als ob ihnen noch immer niemand den Wechsel gönnen würde. Vielleicht auch, weil sie sich nicht wehren können.
François Bausch, der grüne Fraktionspräsident aus dem Fitnessstudio und mit den modischen Anzügen, bringt einen Antrag ein, um dem Finanzplatz "neue Pisten" zu zeigen, nämlich politisch korrekte Investitionsfonds. Dann führt auch er genüsslich die Liberalen mit ihren gesammelten Oppositionsversprechen zur Steuer- und Rentenpolitik vor.
DP-Fraktionspräsident Jean-Paul Rippinger und seine paar Kollegen nicken und lächeln hilflos. Wenn es gar nicht anders geht, hat Rippinger eine Formel parat: "Mit 31 Abgeordneten machen wir alles, was in unserem Wahlprogramm steht." Jempi Klein (LSAP) begutachtet den dritten Band der großen Armeegeschichte von Willy Bourg (CSV).
Die LSAP will Budgettransparenz und neue Wahrhaftigkeit gegen ihre Autoren kehren, um "die Steuern weiter zu senken, mehr Personal für die Pflegeversicherung einzustellen und mehr Geld für die Amiperas locker zu machen", so Weiler, der wissen will, wie die LSAP das bezahlen will. Vor allem wollen die Sozialisten den Eingangssteuersatz nächstes Jahr bei sechs Prozent belassen und nicht auf 14 Prozent erhöhen, so wie es die Regierung plant. Jeannot Krecké sieht da kein Problem. Denn die Einnahmen aus der Abonnementtaxe auf den Investitionsfonds seien heute schon Milliarden höher als die Veranschlagung im Budget für nächstes Jahr.
Weiler hatte schon darauf hingewiesen, dass Wahrhaftigkeit bei der Einnahmenschätzung schön und gut sei. Aber "der Staatsrat hebt schon halb den Finger, um zu bedeuten, man soll auch nicht übertreiben".
Krecké, der in der Opposition gestrandete Technokrat, lässt die Tabellen und Diagramme seiner Steuervorschläge auf die Bildschirme der Abgeordneten laden. Nur zwei oder drei öffnen das Programm, um einen flüchtigen Blick darauf zu werfen. Auf der Zuhörertribüne lauschen einige Beamte, Journalisten, ein erregter Rentner. Im Hintergrund döst ein Polizist.
Mit beiden Armen breit aufs Rednerpult gestützt, knurrt Gast Gibéryen die Regierungsbank an. Im Eifer des Gefechtes leckt er sich ständig die Lippen, als fletschte er die Zähne. Immer bemüht, etwas lauter zu sein, schlägt das ADR in einem Entschließungsantrag die radikalste Steuerreform vor. Die Steuertabelle soll nur noch drei Stufen zählen, die Doppelveranlagung und die Klasse 2 sollen abgeschafft werden! So nahe an die neoliberale Flat tax herankommen, hieße, dass alle besteuerbaren Monatseinkommen von 100 000 Franken schon unter den Spitzensteuersatz fielen. Die selbsternannte Partei der kleinen Leute will den hohen Gehältern die Steuerprogression schenken.
Auf Seite 52 von Gusty Graas' viel belächeltem Haushaltsbericht steht unscheinbar der Satz : "De plus, la COFIBU relève que trois quarts des collectivités ne présentent pas de cote d'impôt sur le revenu, étant donné qu'il s'agit de petites entreprises et de collectivités ne dégageant pas de bénéfices imposables ou bien étant donné encore la possibilité du report illimité des pertes sur les bénéfices ultérieurs." Nur Steuerexperte Krecké, Autor eines nach eigenen Angaben weitgehend folgenlos gebliebenen Berichtes über die Steuerhinterziehung, hält das für eine schwer zu glaubende Ungeheuerlichkeit: Wenn das stimme, dann sei etwas an der Besteuerungsgrundlage oder an der Kontrolle falsch, dann habe der Staat einen Teil seiner Fähigkeit zur wirtschaftlichen Lenkung verloren. Ob das stimme? Graas lächelt unsicher, nickt zögerlich und eilt zu Budgetminister Luc Frieden.
Dabei schätzt schon die Privatbeamtenkammer in ihrem Haushaltsgutachten, dass 30 Prozent und am Ende der Steuersenkungen in einem Jahr bis zu 40 Prozent der Privathaushalte aufgrund ihrer niedrigen Einkommen oder ihrer Kinderzahl keine Einkommenssteuern zu zahlen brauchen. Ist die Hälfte des Landes ein Taxfree Shop, und zahlen nur noch eine Minderheit von Betrieben und etwas mehr als die Hälfte der Haushalte überhaupt Steuern? Oder ist es die schon mit dem Empire-Kitsch des Plenarsaals vorbereitete Rückkehr ins 19. Jahrhundert, dem die zwangsläufige Wiedereinführung des Zensuswahlrechts folgt?
Niemand sucht eine Antwort. Parlamentspräsident Jean Spautz sitzt kerzengerade unter dem Staatswappen, zu jeder Seite einen Parlamentsschreiber, und überblickt unbeweglich den Saal. Auf der Regierungsbank erledigen einige Minister Papierkram. Nichts erinnert mehr an die Zustände des 19. Jahrhundert als der zur New economy gestylte Neoliberalismus. Gusty Graas' Haushaltbericht lobt die Krediterhöhungen zugunsten des elektronischen Staates. Doch die Finanzinspektion hatte dem Finanzausschuss vorgerechnet, dass die Verwaltungen schon heute die diesbezüglichen Kredite gar nicht ausschöpfen können. Säuberlich trennt Jean-Marie Halsdorf (CSV) einen Artikel aus dem tageblatt.
"Eine Rede von der Stange", ruft Asselborn Rippinger lachend zu. Trotz seiner halbrunden Lesebrille hat der DP-Fraktionspräsident jede erdenkliche Mühe, um den Redetext zu entziffern, den er gegen Wind und Wetter herunterliest. Ein unbegabter Referent hatte ihm viel schwerfällige Polemik gegen die LSAP und einige Floskeln über das Budget aufgelistet: Der Staat könne seine Überschüsse umverteilen und so für den Konsum ausgeben, er könne sie sparen oder in die Zukunft investieren, letzteres tue diese Regierung. Die Sozialisten wollten dagegen jeden Franken umverteilen, sobald er verdient sei, wirft Rippinger der LSAP vor. Asselborn fragt zurück, ob die DP den Staatsbeamten das auch so erklärt habe.
Rippinger lobt die Steuersenkungen der Regierung. Er wird sofort daran erinnert, dass er noch zwei Wochen vor der Bekanntgabe gegen die vorgezogenen Steuersenkungen war, weil die Regierung ihn nicht informiert habe. Nach drei Viertelstunden hat Rippinger seine Pflicht getan. Lachend und schulterklopfend marschiert er durch die Reihe der gerade noch mit der ideologischen Keule platt gemachten Sozialisten. Seine Fraktion ruft mechanisch "Très bien!". Nesthäkchen Xavier Bettel schreit übermütig: "Super!"