Theater

„Du Opfer!“

d'Lëtzebuerger Land du 16.11.2018

Im Hamsterrad stellt man sich offenbar dieselben Fragen wie ambitionierte Kulturschaffende: Wie kaputt ist die Welt, und wie (weit) kann sie einen kaputt machen? Oder sind Psychothemen einfach gerade en vogue? David Foster Wallaces’ Unendlicher Spaß im Grand Théâtre, Lenz im TNL und jetzt Versetzung im Kapuzinertheater.

Max Claessen (Tom auf dem Lande, 2017) hat ein Händchen dafür, wie er den zersetzenden Stoff auf die Bühne bringt. Er setzt auf eine Hand voll Charakter-Schauspieler, ein starkes – wenn auch recht karges – Bühnenbild und die Wirkungsmacht der Sprache. Damit schafft er es, dass seine Inszenierung unter die Haut geht, packt und am Ende verstört. Schon die Bühne hat Sogwirkung: Als Zuschauer blickt man in ein tiefes Loch! Was dahinter ist, weiß man nicht… Lehrer Roland Rupp (Nickel Bösenberg) steht vor dem Nichts, kann jederzeit wieder umkippen, obschon er, der bipolar ist, als „zwischenzeitlich geheilt“ gilt. Zehn Jahre ist sein letzter Schub her. Seitdem hat er sich gefangen, so scheint es. Rupp tritt souverän vors Publikum und bezieht es direkt mit ein – ein Moment epischen Theaters: „Habt ihr euch wieder beruhigt? Dann reden wir jetzt darüber.“

Wie schlimm sind Beschimpfungen wie „Missgeburt“ oder „Hurensohn“? – Eine Fragerunde in den Klassenraum. Die Erläuterungen des Lehrers Rupp scheinen zunächst fast pädagogisch: „Es ist keine Schande, ein Opfer zu sein. Aber eine Schande ist es, zum Täter zu werden (...).“ Der Monolog mündet in Walter Benjamins Diktum, Sprache spiegele soziale Realität: „Worte sind Taten.“ Dann die große Offenbarung: „Ich bin ein Opfer!“

Obwohl Rupps Niedergang vorgezeichnet scheint, schafft es Claessen, einen Spannungsbogen aufzubauen. Beklemmt folgt man dem Geplänkel der Figuren. Da belehrt Schüler Leon (Timo Wagner) seinen Lehrer: „Heute sagt doch keiner ,Opfer‘ mehr, heute sagt man: ,Du Jude!‘“ Obwohl das Unbehagen in der Luft liegt, will man an den Erfolg des gesellschaftlich Reintegrierten glauben, wenn Schuldirektor Schütz (Germain Wagner) Rupp jovial seinen Posten in Aussicht stellt: „Sie stärken das Profil der Schule.“

Durch den großen Kreis steigen die Schauspieler ein und aus – betreten die Bühne und treten wieder ab, verschiebt sich das Bühnenbild so unvermittelt wie der Krankheitsverlauf. Nora König gibt eine naseweise Lehrerin, schwärmt erotisiert von der Quantenmechanik und wickelt Rupp um den Finger. Marc Baum turnt im Torrero-Outfit herum und mimt kämpferisch verblendet den Impfgegner: „Aids war erst der Anfang!“, warnt er irre, während Sohn Leon etwas über den Wiener Kongress stottert. Die Figuren alle in ihrer Welt. Dann kursiert auf einmal ein Gerücht: „Das ist doch ein Psycho!“ Die Demontage geschieht schleichend. Die Mutter eines Schülers warnt Frau Rupp: „Sie erwarten ein Kind von ihm? Passen sie auf, diese Dinge vererben sich!“ Und während der Lehrer von einer nymphomanen Frau heimgesucht wird, mit der er einst eine Affäre gehabt haben soll, glotzt das Kollegium durch das große Loch. Als klar ist, dass Rupp manisch-depressiv ist, steht er auf der Bühne wie auf einer Anklagebank.

Der Zuschauer wird auch mit Wortspielen hinters Licht geführt, kann so ein Stück weit Rupps Realitätsverlust nachempfinden. In seinem Roman Die Welt im Rücken (2016 auf der Longlist für den deutschen Buchpreis) beschreibt Thomas Melle dieses Abgleiten in den Wahnsinn. Die Welt dreht sich nach seiner Wahrnehmung nur um ihn. In seinen Phasen der Manie glaubt er mit Madonna oder mit Picasso in Kontakt zu stehen. „Es geht um mein Leben in Rein-
form“, soll Melle über seinen Roman gesagt haben.

Ist die Gesellschaft krank oder Rupp? Ist das Umfeld verrückt oder er? Und wie verrückt darf man sein, um noch dazuzugehören? Die Figuren durchlaufen im Verlauf des Stücks alle eine Krise und haben es gerade deshalb nötig, einen Sündenbock zu finden. Da helfen nur Verschwörungstheorien! „Der Hund ist nur deshalb so still, weil er von der Pharmaindustrie eingeschläfert wurde“, sinniert Marc Baum. Als sein Bekenntnis fällt, lauern die Anderen nur darauf, ihn zu pathologisieren: „Kann es sein, dass sie wieder krank werden?“, fragt Rosalie Maes neckisch …

Eine Geräuschkulisse aus dem Off überlagert am Ende die schnatternde Meute, während Rupp von seinem Umfeld systematisch zerstört wird. Nickel Bösenberg ist grandios als Lehrer, der die Fassung verliert. Wenn er in den Wahnsinn abgleitet und die Bühne nach vorne rückt, fühlt man sich erdrückt. Dass gegen Ende das Ensemble im Chor „Wer sind wir?“ singt wie im Musical, ist da fast schon zu viel. Eine Reminiszenz an das Gripstheater? Das Klingeln der Schulglocke geht einem durch Mark und Bein, der Gürtel baumelt bereits um seinen Hals. Andere machen es richtig. Leon wurde geimpft. „Manchmal muss man im Kleinen beigeben, um im Großen zu siegen“, belehrt ihn sein Vater. Man erziehe seine Kinder zu Egoisten, damit sie gerüstet sind. Zu Opfern würden sie früh genug. Claessens Versetzung ist nicht nur großes Theater, es ist ein Lehrstück über das Leben.

Versetzung von Thomas Melle, in einer Inszenierung von Max Claessen; assistiert von Sally Merres; Bühne und Kostüme: Mirjam Benkner; Musik: Christoph Coburger; Licht: Steve Demuth; Maske: Joël Seiller; mit: Marc Baum, Nickel Bösenberg, Nora Koenig, Benjamin Krüger, Rosalie Maes, Nicole Max, Gintare Parulyte, Timo Wagner und Germain Wagner; eine Produktion der Théâtres de la Ville de Luxembourg ; letzte Vorstellung im Kasemattentheater am Samstag den 24. Novembre; theatres.lu.

Anina Valle Thiele
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