Mit nur 1,5 Prozentpunkten Stimmenzuwachs hat Labour bei den Parlamentswahlen in Großbritannien die absolute Mehrheit erlangt. Es ging den Wählern vor allem darum, die Tories zu bestrafen

Der Fall der Tories

Photo: Claire Barthelemy
d'Lëtzebuerger Land du 12.07.2024

„Erdrutsch“, „Auslöschung“ und sogar „Massaker“ – so wurde das Wahldebakel der Tory-Partei in der britischen Presse beschrieben. Das Resultat war in der Tat desaströs: Die konservative Partei verlor ganze 20 Prozentpunkte an Stimmenanteilen und kassierte so das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Als großer Gewinner ging Labour hervor: Die liberal-demokratische Partei um Keir Starmer holte sich eine absolute Mehrheit und ist nun zum ersten Mal seit 2010 wieder Regierungspartei. Doch wie konnte es soweit kommen, dass die Tories, die fünf Jahre zuvor eine absolute Mehrheit gewannen, nun eine derartige Klatsche abbekamen?

„Ich habe Ihre Wut und Ihre Enttäuschung vernommen und ich übernehme die Verantwortung für diese Niederlage“, so Rishi Sunak letzte Woche, als er ankündigte, als Parteichef der Tories zurückzutreten. Wut und Enttäuschung sind auf der Insel jedoch bereits seit Langem spürbar. Denn in den 14 Jahren, in denen die Tories an der Macht waren, hat sich in Großbritannien vieles verändert.

Die drastischen Sparmaßnahmen, die David Camerons Regierung nach der Finanzkrise von 2008 einführte, setzten den britischen Sozialstaat enorm unter Druck. Laut Human Rights Watch schrumpfte zum Beispiel das Sozialhilfebudget für Kinder und Familien zwischen 2010 und 2018 um 44 Prozent. Auch der National Health Service (NHS), Großbritanniens Gesundheitswesen, ist stark unterfinanziert. Immer wieder gab es Berichte von verletzten und kranken Menschen, die stundenlang auf Krankenwagen warten mussten. Der Bettenmangel ist außerdem so erheblich, dass „corridor care“ - also Behandlungen im Krankenhausflur - zu einem Begriff geworden ist.

Als David Cameron 2016 das Brexit-Referendum ankündigte, sahen viele Briten Grund zur Hoffnung. Die „Vote Leave“-Gruppe, die von konservativen Politikern gegründet wurde, wusste das auszunutzen: Ein Austritt würde dafür sorgen, dass weniger Einwanderer auf die Insel kommen und wieder mehr Geld in die einheimischen Institutionen fließe, versprach sie. „Wir zahlen der EU jede Woche 350 Millionen Pfund - lasst uns stattdessen unser NHS finanzieren!“ So stand es auf den Werbe-Bussen, mit denen sich auch Boris Johnson gerne ablichten ließ. Später stellte sich heraus, dass die Zahl erfunden war. Doch für viele war dieses Versprechen bei der Abstimmung ausschlaggebend.

Vier Jahre nach dem EU-Austritt hat sich wenig verbessert, ganz im Gegenteil. Die Wirtschaft stagniert, Ziele für neue Handelsverträge wurden verfehlt und die Briten sind mit hohen Lebenskosten geplagt, an denen nicht nur die Pandemie und der Ukraine-Krieg, sondern auch die höheren EU-Importkosten schuld sind. Viele Europäer wanderten aus, was zu Arbeitskräftemangel führte, und immer noch warten Millionen Patienten auf ihre Behandlung im staatlichen Gesundheitswesen. Zudem wurden 2022 Rekordzahlen an Einwanderern verzeichnet, was vor allem Tory-Hardliners enttäuschte. Diese Frustration rund um den Brexit spiegelte sich in den Wahlresultaten wider: In Gebieten, wo viele für den EU-Austritt stimmten, litt laut BBC der Tory-Stimmenanteil besonders.

Neben den verpassten Brexit-Versprechen waren es aber auch Skandale, die für Wut in der Bevölkerung sorgten. Das wohl ausschlaggebendste Beispiel ist Partygate, bei dem konservative Politiker und Mitarbeiter/innen während des Lockdowns trotz strenger Abstandsregeln ausgelassen zusammen feierten. In Videos konnte man hören, wie sich manche sogar über Corona-Regeln lustig machten – und das während Familien ihre Sterbenden nicht in den Krankenhäusern besuchen durften. Die Affäre führte 2022 zu Boris Johnsons Rücktritt. Kurz danach erschütterte seine Nachfolgerin Liz Truss mit ihrer drastischen Steuerreform die Finanzmärkte dermaßen, dass die Regierung sofort eine Kehrtwende einschlagen musste. Sie dankte nach nur sechs Wochen ab und ging mit der kürzesten Amtszeit in die britische Geschichte ein. Rishi Sunak wurde von seiner Partei als Nachfolger gewählt und wurde so der dritte Premier in nur zwei Monaten. Die Briten hatten das Chaos satt, die Begeisterung für den neuen Amtsinhaber blieb aus.

Die Wahlkampagne war eine letzte Gelegenheit, das Vertrauen der Wähler zurückzugewinnen. Doch wieder gab es einen Skandal in den Rängen der Konservativen. Diesmal wurde Wahlkandidaten und Mitarbeitern Rishi Sunaks vorgeworfen, Wetten über den Wahltermin abgeschlossen zu haben, bevor das Datum öffentlich bekannt wurde. Sunak kündigte nämlich im März überraschend an, dass die Parlamentswahlen im Sommer und nicht, wie erwartet, im Herbst stattfinden werden. Einige seiner Vertrauten nutzten ihr Insiderwissen, um ein bisschen Geld zu verdienen. Der Skandal flog auf, nachdem eine Wettgesellschaft einen Tory-Politiker bei der Glücksspielkommission meldete. Die Ermittlungen im Wettskandal laufen noch, doch die Wähler haben die Partei nun deutlich abgestraft.

Den Tories steht ein Richtungsstreit bevor. Denn sie verloren viele Stimmen an Reform UK, die neue rechtspopulistische Partei von Nigel Farage, die mit 14 Prozent drittstärkste Kraft wurde. Farages Partei stehen allerdings nur fünf Sitze im Unterhaus zu, denn im britischen Mehrheitswahlrecht zieht nur die Person ins Parlament, die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen gewinnt. Der Erfolg von Reform UK lässt jedoch von einem Rechtsruck unter Konservativen ausgehen. Farage, der es beim achten Versuch nun ins Parlament geschafft hat, wird ein lauter Gegner sein. Wird die Tory Partei versuchen, Reform-Stimmen zurückzugewinnen? Oder wird sie den gleichen Weg wie Labour einschlagen und wieder in die Mitte rücken? Die kommenden Monate werden jedenfalls für interessante Diskussion sorgen.

Regierungswechsel gehen in Großbritannien zügig voran: Schon am Tag nach der Wahl wurde Keir Starmer von King Charles III. zum neuen Premier ernannt. Starmer steht nun vor gewaltigen Herausforderungen. Er erbt ein marodes Gesundheitssystem, einen ausgehöhlten Sozialstaat, steigende Armut und leere Staatskassen. Vor allem muss er nach Jahren von Chaos und Skandalen der britischen Bevölkerung wieder einen Grund geben, Politikern zu vertrauen. Denn hinter dem Wahlresultat gibt es eine ernüchternde Realität für Labour: Die Partei hat zwar eine absolute Mehrheit erlangt, doch ihr Stimmenanteil ist nur um 1,5 Prozentpunkte auf 33,7 Prozent gestiegen. Es ging den Wählern also vor allem darum, die Tories zu bestrafen. Das sah man auch am nächsten Tag: Anders als in Paris waren in London keine feiernden Massen auf den Straßen zu sehen.

Starmers Überzeugungsarbeit hat bereits begonnen. „My government will serve you. Politics can be a force for good“, versicherte Keir Starmer in seiner ersten Rede als Regierungschef. Das Land werde „Stein für Stein“ wieder aufgebaut werden. Wes Streeting, der neue Gesundheitsminister, kündigte Verhandlungen mit Assistenzärzten an, die seit längerem mit Streiks Lohnerhöhungen fordern. Rachel Reeves, die erste Finanzministerin der britischen Geschichte, kündigte verbindliche Wohnungsbauziele an. Außerdem beendete Starmer das geplante Ruanda-Verfahren, das vorsah, Migranten, die ohne Papiere in Großbritannien ankommen, nach Ruanda abzuschieben.

Außenpolitisch könnte sich auch einiges ändern. Der Ton mit europäischen Partnern wird freundlicher werden: „Wir wollen unsere Beziehung mit der EU verbessern, und das bedeutet engere Handelsbeziehungen mit der EU, engere Beziehungen in Bezug auf Forschung und Entwicklung und engere Beziehungen in Bezug auf Verteidigung und Sicherheit“, so Starmer. Eine Brexit-Kehrtwende sollte man sich jedoch nicht erwarten. „Wir haben die Entscheidung getroffen, die EU zu verlassen, also werden wir nicht wieder eintreten,” versicherte er während des Wahlkampfs.

Ob das Vereinigte Königreich mit Labour aus der Krise herauskommt, bleibt abzuwarten. Jedenfalls warnte Starmer in seiner Antrittsrede, dass die Veränderung des Landes „nicht per Knopfdruck“ geschehen wird - eine Ehrlichkeit, die in der vorigen Regierung selten zu hören war.

Claire Barthelemy
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