Europa

State of the Union

d'Lëtzebuerger Land du 07.10.2011

Es muss schlecht stehen um die Europäische Union. José Manuel Barroso sorgt sich um den europäischen Stolz, nein, nicht der Bürgerinnen und Bürger, sondern um den Stolz der europäischen Institutionen und EU-Mitgliedstaaten. Er tut dies am Ende seiner Rede zum „State of the Union“ vor den Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Das wussten wir ja noch gar nicht, dass sich die Zweifel an Europa tief in die europäischen Institutionen und in die Regierungen der Mitgliedstaaten eingefressen haben sollen.

Barroso hätte allerdings gute Gründe an den Stolz der Europäerinnen und Europäer auf ihre Union zu appellieren. Es ist symptomatisch, dass der diese vergisst und letztlich nur die beiden Exekutiven im Auge hat. Brüssel ist und bleibt ein Apparat, für den der einzelne nur schwer positive Gefühle entwickeln kann. Barroso hätte seinen Aufruf besser in eine Frage gekleidet: Welche Gründe könnten die Europäer haben, stolz auf ihre Politiker zu sein?

Auf diesem Feld sieht es mau aus. Zweifel an Europa wachsen auch, weil vor allem der Rat seit über einem Jahr die griechische Krise nicht in den Griff bekommt. Niemand kann auf das Krisenmanagement von Merkel, Sarkozy und Co. stolz sein, das Gegenteil ist der Fall. Die amerikanische Regierung unter Führung von Präsident Obama geniert sich nicht, die unfähigen Europäer als die größte Gefahr für die Weltwirtschaft hinzustellen.

Barrosos Appell speist sich denn auch aus einer Abwehrhaltung gegen die USA. Niemand habe das Recht, den Europäern in ihre nach demokratischen Spielregeln organisierte Politik reinzureden. Da erwacht Barrosos Stolz, das will er sich nicht bieten lassen. Er zumindest ist noch nicht „von Zweifeln zerfressen“. Vielleicht hilft es, wenn er „Ich bin stolz, ein Europäer zu sein” am Eingang des Berlaymont unter den Schriftzug Europäische Kommission sprüht.

Welches Europa aber ist es, auf das Barroso so gerne stolz wäre? Natürlich die soziale Marktwirtschaft. Barrosos Götze und gleichzeitig seine Vision ist die Wettbewerbsfähigkeit. Barroso will keine Welt der G2, sondern eine EU, die globale Führung zeigt. Die unabdingbare Grundlage dafür, auf dieser Ebene gleichberechtigt mitspielen zu können, ist die Wirtschaftskraft, sicher, aber entscheidend ist im globalen Führungsgeschäft der entschlossene Wille und die technischen Fähigkeiten, diesen auch umzusetzen. Bei beiden Eigenschaften sind die Defizite eklatant, die Konsequenzen lassen den politischen Betrachter oft genug sprachlos zurück.

Hier sind wir an dem Punkt, an dem der Präsident der Europäischen Kommission am Bürger nicht länger vorbeikommt. Barroso hat sich in seiner viel beachteten Rede hauptsächlich mit den europäischen Maßnahmen gegen die Eurokrise beschäftigt. Er hält das für grundsätzlich, weil die EU der Krise nur noch mit mehr Integration beikommen kann, aber sich als unwillig oder unfähig erweist, diese auch zu liefern. In dieser Situation ist ein Appell an Geschlossenheit und Stolz der Akteure das letzte, aber das letztlich auch hilflose Mittel Barrosos.

Dabei steht viel auf dem Spiel. Europa steht tatsächlich an einem Scheideweg, der seine Zukunft leicht für zehn, zwanzig Jahre bestimmen kann. Barroso weiß darum und spricht von einer Feuerprobe für eine ganze Genera-tion. Es geht, wie schon seit längerem, um die globale Selbstbehauptung Europas. Aber diese Selbstbehauptung muss in erster Linie von den Europäern getragen werden. Sie sind es, die am Ende den Souveränitätsverzicht für eine effektive europäische Wirtschaftsregierung leisten müssen. Die Regierungschefs, die Merkels und Sarkozys, führen diesen nur aus, was sie leider meistens vergessen.

Barroso fragt nicht nach den Einstellungen der Bürger und wendet sich nicht direkt an sie, obwohl er dazu im Europäischen Parlament bestens positioniert ist. Er fragt die Bürger nicht: Wollt ihr im 21. Jahrhundert als Europäer eine selbstbestimmte Rolle spielen oder wollt ihr als Na-tionen mehr oder weniger zum Spielball der Politik anderer Mächte werden? Er fragt nicht: Mit welchen Mitteln wollt ihr euch selbst behaupten und wie viel darf das kosten?

Lieber mimt er den Robin Hood bei der Finanztransaktionssteuer und will diese doch nur als trojanisches Pferd benutzen, um die Europa-Steuer endlich durchzusetzen. Mit dem Titel State of the Union hat sich Barroso eine hohe Latte aufgelegt. Leider ist er locker darunter hinwegspaziert. Das ist schade. Denn eine Kommission, die öffentlich und lautstark Führung zeigte, den Rat vor sich hertriebe statt ihm doch nur nachzulaufen, wäre heute notwendiger denn je. Einer seiner Vorgänger, Jacques Delors, hat in Interviews gezeigt, wie das geht. Wir brauchen keine Institutionen, die stolz darauf sind, europäisch zu sein. Wir brauchen Bürger, die stolz auf ihre europäischen Institutionen sind. Und die gute Gründe dafür haben.

Christoph Nick
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