Gespräch mit Wolfram Eilenberger über die Geister der Gegenwart im Institut Pierre Werner

Über den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen

d'Lëtzebuerger Land du 30.05.2025

Der Weg zur Erkenntnis führt in der Dialektik bekanntlich über die These und Antithese zur Synthese. So auch im Gespräch mit dem Philosophen Wolfram Eilenberger, zu dem das Institut Pierre Werner am Mitte Mai lud. Im Zentrum stand sein Buch Geister der Gegenwart, in dem er auf den Spuren Theodor W. Adornos, Susan Sontags, Michel Foucaults und Paul Feyerabends ein ideengeschichtliches Panorama der westlichen Nachkriegszeit aufmacht. Vier Philosoph:innen, denen Eilenberger sich nicht als abstrakte Systeme nähert, sondern als Individuen, deren Werke auch von zeitgeschichtlichen Kontexten und biographischen Erfahrungen geprägt sind. Während des Gesprächs arbeiteten Eilenberger und der in Luxemburg lebende Germanist und Historiker Henning Marmulla, der den Abend moderierte, heraus, dass uns von den großen Fragen dieser Zeit weniger trennt als wir zuweilen glauben möchten.

In den letzten Minuten des Gesprächs in Neumünster zieht Eilenberger ein prägnantes Resümee der Wissensproduktion in der Spätmoderne. Dabei geht er auf die akademische Ausbildung von Philosoph:innen ein, der er eine starke Karriere- und Publikationsorientierung zuschreibt. Dies habe zu einer akademischen Publikationsindustrie geführt, die mit dem Tempo der eigenen Produktion nicht mehr mithalten kann. Die Beschleunigung und daraus resultierende Schnelllebigkeit der Wissenschaft stellt nicht nur in den Geisteswissenschaften die Forschenden vor große Herausforderungen. Von dem Humboldt’schen Ideal der Wissenschaft als Selbstzweck hat sich die Universität im Kapitalismus weit entfernt. Es ist aber auch ein programmatischer Befund für unseren gesellschaftlichen Umgang mit Wissensproduktion, der auf die schnelle Verfügbarkeit von Daten ausgelegt ist und ihre Verwertbarkeit möglichst rasch an die Wirtschaft auslagert. Wenn Eilenberger konstatiert, dass Philosoph:innen verlernt haben, den Blick auf das Ganze zu richten, so ist dies auch eine gesellschaftliche Diagnose. Ohne dass er selbst den Begriff benutzt, steht doch immer wieder die Frage im Raum, wie in einem zunehmend postfaktischen Zeitalter die kritische Hinterfragung von Behauptungen garantiert werden kann.

Ein ähnliches Erkenntnisinteresse verfolgte auch Theodor W. Adorno, einer der vier Philosoph:innen, die im Mittelpunkt von Eilenbergers Buch stehen und um den sich ein Großteil des Gespräches dreht. In seinem wohl bekanntesten Werk, Die Dialektik der Aufklärung, geht Adorno unter dem Eindruck der Verbrechen der NS-Zeit der Frage nach, wie eine Welt, die sich im Zeichen der Aufklärung versteht, solche Grauentaten begehen konnte und wie man die Rückkehr des Faschismus verhindern kann. Eine Problematik, die im zeitgenössischen politischen Panorama nicht von größerer Bedeutung sein könnte. Bereits in der 1950 erschienen Studie The Authoritarian Personality untersucht Adorno gemeinsam mit anderen Forscher:innen, ob der Faschismus sich auch in den USA durchsetzen könnte. Er kommt zum Schluss, dass die einzige Möglichkeit, die Wiederkehr des Faschismus zu verhindern, in der Erziehung zur Mündigkeit, also zum kritischen Denken besteht. Nur durch die Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit, wie Immanuel Kant in seinem berühmten Manifest der Aufklärung formulierte, könne der Mensch vor dem Rückfall in den Faschismus bewahrt werden.

Einem solchen Aufruf zum Sapere aude, dem Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, haftet angesichts des überall auf der Welt zu beobachtenden Rechtsrucks und Anti-Intellektualismus doch etwas des von Adorno so scharf kritisierten Schablonenhaften an. Es sind Worthülsen, die an der Realität abprallen. Universitäten stehen vor allem in den USA unter Druck, die Regierung unter Donald Trump hat zuletzt gedroht, ihnen die staatliche Finanzierung zu entziehen. Während die Harvard University sich bisher gegen eine solche Einschränkung der Forschungsfreiheit wehrt, was die Regierung inzwischen mit einem Aufnahmeverbot ausländischer Studierender quittiert hat, haben andere renommierte Institutionen wie die Columbia University dem Druck nachgegeben. Doch nicht nur von außen stehen die Universitäten unter Druck, auch die Strukturen der universitären Ausbildung selbst befinden sich in einem Transformationsprozess. Studierende verfassen ihre Arbeiten zunehmend mithilfe künstlicher Intelligenz, Universitäten reagieren mit unterschiedlichen Lösungsansätzen. Während Befürworter:innen von KI gegen ein Verbot in den Unterricht argumentieren, müssen die Gefahren, die ein solches ‚Outsourcing‘ fundamentaler kognitiver Prozesse an die KI und die dahinterstehenden Firmen birgt, Teil jeder Diskussion über künstliche Intelligenz sein.

Im Fokus der zweiten Hälfte des Abends stehen jedoch nicht die Herausforderungen durch KI, sondern ein anderer Vorwurf, dem die Wissenschaft sich in den letzten Jahren ausgesetzt sah, nämlich jenem der undifferenzierten Vermischung von Aktivismus und Wissenschaft. Die Rede ist von Susan Sontag, in deren frühen Schriften unter dem Eindruck rassistischer Strukturen in den USA und des Vietnam-Krieges auch eine große Wut greifbar wird. Später habe sich Sontag selbst von dieser frühen Phase distanziert, so Eilenberger, da sich die emotionale Natur von Aktivismus nicht mit dem Reflexionsbedürfnis der Philosophie vertrage, eine Feststellung, die er auch Foucault und Feyerabend in ihrer späteren Schaffensphase attestiert.

Eine Feststellung, die so banal wie unumstößlich wirkt: Die emotionale Dimension, die Aktivismus oft begleitet, und die Objektivität als Grundsatz jeder Wissenschaft schließen sich gegenseitig aus. Es wäre jedoch eine verkürzte Schlussfolgerung, Wissenschaftler:innen grundsätzlich die Möglichkeit zur aktivistischen Betätigung abzusprechen, vielmehr muss ihre wissenschaftliche Arbeit von Objektivität geleitet sein. Die oft geäußerte Klage einer aktivistischen Vereinnahmung der Wissenschaft, die auch an Universitäten breit diskutiert wird, erweckt bei genauerer Betrachtung zumindest in Teilen den Eindruck einer künstlichen Diskursverschiebung. In der zunehmenden Wissenschaftsskepsis in den USA, aber auch in Europa, zeichnet sich eine Instrumentalisierung des Narrativs der aktivistischen Wissenschaft zur Delegitimierung der Wissenschaft per se ab. Disziplinen wie Gender Studies und Rassismusforschung wird immer wieder die Sinnhaftigkeit abgesprochen, aber auch Bedrohungen wie der Klimawandel lassen sich durch eine gezielte Delegitimierung von Wissenschaft als nicht gesicherte Erkenntnisse darstellen, womit unmittelbare Konsequenzen für das politische Handeln einhergehen. Wenngleich auch Wissenschaft stets Objekt der kritischen Betrachtung sein sollte und keinen absoluten Wahrheitsanspruch erheben kann, wie Eilenberger unter Bezug auf Feyerabend betont, wäre auch eine Diskussion zum Umgang mit wachsendem Anti-Intellektualismus und Wissenschaftsskepsis an diesem Abend von Interesse gewesen. Eilenberger erwähnt die Vereinnahmung Feyerabends durch das rechtspopulistische Lager während der Corona-Pandemie, jedoch ohne das Thema zu vertiefen.

Eilenberger und Marmulla liefern im Laufe des Gesprächs zwar keine Lösungen für die angesprochenen Herausforderungen, aber Eilenberger erinnert gleich zu Beginn daran, dass das Ziel der Philosophie nicht darin besteht, alleingültige Antworten auf ihre Fragen zu finden. Die Idee, dass sie das berüchtigte „Todschlagargument“ finden wolle, sei für ihn eine irreführende und sogar gewalterzeugende Form des Nachdenkens über die Philosophie. Er wolle in seinen Büchern stattdessen ein „polyphones Philosophieren“ zeigen, dass Raum für mehrere Plausibilitäten lässt und die Leser:innen zum Mitdenken auffordert. Auch das ist ein Beitrag zu jener kritischen und aufgeklärten Diskurskultur, die ein wesentlicher Bestandteil jeder Demokratie ist.

Sophie Modert
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