EU und der Friedensnobelpreis

Freude schöner Götterfunken

d'Lëtzebuerger Land du 26.10.2012

Feste muss man feiern, wie sie fallen. Auch wenn sie so unerwartet vom Himmel fallen wie die Verleihung des Friedensnobelpreises 2012 an die Europäische Union vor knapp zwei Wochen. Perplex ist wohl das richtige Wort für die Reaktionen. Der prompt verkündete Stolz und die Freude von Manuel José Barroso & Co wirkten irgendwie deplatziert und wie ein routiniert heruntergespulter Textbaustein.
Dass das norwegische Nobelpreiskomitee den Gewinner des diesjährigen Friedensnobelpreises beinahe an einem Freitag den Dreizehnten bekannt gegeben hat, ist mit Sicherheit Zufall. Schön hingegen ist es, dass es ein Zwölfter war. Für alle Anhänger von Zahlenmystik, und nur für diese, gibt es seit dem 9. Mai 1950 kaum ein besseres Jahr für die Verleihung. Am Zwölften verkündet im zwölften Jahr eines 21. Jahrhunderts, was will man mehr verlangen für eine Mischung aus Staatenbund und Bundesstaat, die stolz zwölf goldene Sterne auf tiefblauem Banner führt? Vielleicht liegt hier der tiefere Grund für diese doch etwas rätselhafte Auszeichnung.
Die zweite Reaktion auf die Preisverleihung ist Schrecken. Ein großer Schrecken. Wir wussten ja, dass die EU in der Krise steckt, aber dass es so schlimm steht, dass das norwegische Nobelpreiskomitee glaubte, uns daran erinnern zu müssen, was die EU neben Eurokrise, Gemeinsamem Markt, Reisefreiheit sowie Agrar- und Struktursubventionen Fundamentales leistet, das hätten wir nicht erwartet. Es ist bekannt, dass das Komitee mit der Verleihung auch gerne eine erzieherische Note verbindet und genau das ist es, was die Europäer beunruhigen muss. Barack Obama hat ja seinen Preis 2009 nicht für die schöne Rede in Kairo bekommen, wo er der muslimischen Welt die Hand ausgestreckt hat. Oder weil er das Gleiche gegenüber Iran und Russland getan und seine Kinderträume einer atomwaffenfreien Welt in aller Weltöffentlichkeit geträumt hat. Nein. Er hat seinen Preis bekommen, weil das Komitee ihm deutlich machen wollte, dass er sich doch, bitte, bitte, in seiner Präsidentschaft besser benehmen möge als sein Vorgänger George W. Bush.
Die Europäische Union bekommt ihren Preis in Zei­ten, in denen der Krieg näher rückt. Wie wird der Krieg in Syrien weitergehen? Wie viele Menschen müssen dort noch sterben? Wann und wie wird dieser Krieg enden? Es war eine große historische Leistung, Deutschland und Frankreich miteinander zu versöhnen. Es ist wahr, dass die EU Entscheidendes für die Demokratie in Europa geleistet hat und noch immer leistet. Es ist wunderbar, dass in Europa Frieden herrscht und selbst der Balkan, der in der Begründung für die Preisverleihung ausdrücklich genannt wird, langsam aber sicher einem dauerhaften Frieden entgegen taumelt.
Die Begründung der Preisverleiher liest sich auf den ersten Blick stimmig. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass das Komitee zurückblickt in eine Vergangenheit, der man bald das Attribut ferne umhängen kann. Wörtlich heißt es in der Begründung: „Das norwegische Nobelkomitee wünscht den Blick auf das zu lenken, was es als wichtigste Errungenschaft der EU sieht: den erfolgreichen Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie und Menschenrechte; die stabilisierende Rolle der EU bei der Verwandlung Europas von einem Kontinent der Kriege zu einem des Friedens. Die Arbeit der EU repräsentiert eine ‚Bruderschaft zwischen den Nationen‘ und entspricht einer Form von ‚Friedenskongress‘, wie Alfred Nobel dies als Kriterium für den Friedenspreis 1895 in seinem Testament umschrieben hat.“
Abgesehen davon, dass man als Europäer nur hoffen kann, dass sich die brüder- und schwesterlichen Staats- und Regierungschefs auf ihrem Sondergipfel im November zum nächsten EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre so benehmen werden, dass die Preisverleiher nicht schon am 10. Dezember ihr Entscheidung zutiefst bereuen, muss man sich fragen, ob die heutige Raison d’être der EU hier wirklich zutreffend beschrieben ist. Provozierend gesagt: Für den Frieden in Europa brauchen wir keine EU mehr. Deutschland und Frankreich würden auch dann keinen Krieg mehr führen, wenn sich die Merkel’sche Prophezeiung „Stirbt der Euro, stirbt Europa“ eintref-
fen würde. Zeitgemäßer wäre eine Begründung gewesen, die die Verantwortung der EU für den Frieden in der Welt zumindest angesprochen hätte. Schließlich darf ein Nobelpreis nicht an Tote verliehen werden.
Schon kurz nach der Bekanntgabe wurde diskutiert, wer den Preis entgegennehmen soll. Diese Frage ist keineswegs nur eine Protokollfrage zwischen EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, EU-Parlamentspräsident Martin Schulz und EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy. Dass man die Frage überhaupt stellen muss, sagt viel über die Unklarheit des europäischen Gebildes. Am besten wäre es, sie würden alle drei nach Oslo reisen, denn nur durch diese europäische Dreifaltigkeit wäre die EU wirklichkeitsnah vertreten. Und nur dann würde deutlich, dass die EU-Bürger, die EU-Institutionen und die EU-Mitgliedstaaten wirklich das sind, worauf es in Zukunft am meisten ankommt. Eins. Zusammengehörig. Unzertrennlich.
Europa und die Europäer müssen aufhören in die Vergangenheit zu schauen und endlich gemeinsam eine neue Raison d’être für die Europäische Union entwickeln. Das Fundament der Versöhnung und des Friedens trägt nicht mehr. Ein neues Fundament wird dringend gebraucht, aber woher nehmen? Es geht für die Bürgerinnen und Bürger der EU im 21. Jahrhundert um nichts weniger als ihre eigene Selbstbehauptung in einer Welt radikalsten Wandels. Es geht um Freiheit, Wohlstand, Demokratie und Frieden. Alles dies, was den meisten so selbstverständlich erscheint, dass es kaum noch der Rede wert ist, ist bedroht. Es kann bewahrt werden, wenn Europa und die Europäer zu sich selber finden. Es kann verloren gehen, wenn sie nicht begreifen, dass sie das 21. Jahrhundert nur gemeinsam bestehen können. Das ist die Mahnung aus Oslo, die das Komitee offen hätte ansprechen sollen.
Feste muss man feiern, wie sie fallen. Die Europäer sollten am 10. Dezember Europa und sich selber feiern und stolz sein auf das Geleistete. Hoch die Tassen! Dreimal hoch! Und dann wieder ran an die Arbeit. Aber dalli.

Christoph Nick
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