Schengen auf dem EU-Dezembergipfel

Europa ist tot. Es lebe Europa!

d'Lëtzebuerger Land du 01.01.2016

Am Dienstag vor dem letzten EU-Gipfeltreffen des Jahres hat die Europäische Kommission einen Gesetzesvorschlag für die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Grenz- und Küstenschutzes für den Schengen-Raum vorgelegt. Nur Stunden später stellte Frans Timmermanns, erster Vizepräsident der EU-Kommission, den Vorschlag in der Plenarsitzung des Europäischen Parlaments in Straßburg vor. Die Agentur Frontex, für die die EU-Mitgliedstaaten bisher Mitarbeiter und Material eher weniger als mehr abstellen, soll durch eine selbst handlungsfähige Agentur ersetzt werden.

Im Einzelnen fordert der Gesetzesentwurf eine schnelle Eingreiftruppe von mindestens 1 500 Experten, die innerhalb von drei Tagen einsatzbereit sein und über ihre eigene technische Ausrüstung verfügen soll. Die zukünftige Agentur soll selbst die Beschaffungen dafür durchführen und gleichzeitig über Ausrüstung aus einem Pool der Mitgliedstaaten verfügen können. Mit 1 000 Beschäftigten soll sie doppelt so stark besetzt sein wie die heutige Frontex. Bis 2020 will die Kommission die vorgeschlagenen Maßnahmen umsetzen. Ein eigenes Lagezentrum zur Beobachtung von Flüchtlingsströmen innerhalb und außerhalb der EU soll eingerichtet werden. Die Agentur soll den Auftrag erhalten, Schwachstellen an der Außengrenze zu identifizieren. Diese Analysen sollen verpflichtend sein, damit sich ihr kein Mitgliedstaat entziehen kann. Der wichtigste Punkt ist der Vorbehalt, dass die EU-Kommission die schnelle Eingreiftruppe in dringenden Fällen und wenn sich ein Staat auf Dauer als unfähig erweist seine EU-Außengrenze zu schützen, auch gegen den Willen eines Staates einsetzen kann. Nationale Küstenwachen sollen teilweise unter dem Kommando der Agentur eingesetzt werden. Weiter soll sie mit einem eigenen Zentrum verstärkt Verantwortung für die Rückführung von illegalen Migranten übernehmen und auch in Drittstaaten tätig werden dürfen. Zusätzlich sollen die Daten aller EU-Bürger, die in die EU einreisen, systematisch mit polizeilichen Datenbanken abgeglichen werden. EU-Parlament und Ministerrat müssen dem Gesetzesvorschlag zustimmen.

Hintergrund der Bestimmung, dass die Kommission die EU-Schengengrenze auch gegen den Willen eines Landes in Notsituationen sichern will, ist der Umstand, dass Griechenland in diesem Herbst erst dann der Zusammenarbeit mit FRONTEX zugestimmt hat, als es massive Drohungen gab, das Land aus dem Schengenraum auszuschließen. Ein effektiver Grenzschutz war und ist die Voraussetzung für Reisefreiheit innerhalb der EU. Der nun oft gehörte Satz, dass die Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen innerhalb der EU ein so tragender Pfeiler sei, dass sie nicht geopfert werden könne ohne gleichzeitig Europa zu opfern, ist überzeugend. Die EU ist mittlerweile so stark integriert, dass die dauerhafte Wiedereinführung nationaler Grenzkontrollen nicht nur unbequem für die Bürger wäre, sondern ohne schwere wirtschaftliche Folgeschäden gar nicht mehr durchgeführt werden könnte.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben scheinbar über den Kommissionsvorschlag ohne große Kontroversen diskutiert, der im Vorfeld einige Schlagzeilen hervorgerufen hatte. In den Schlussfolgerungen, die nach jedem Gipfel veröffentlicht werden, wird nur in allgemeinster Form auf Problemlage der ungeschützten Grenzen eingegangen. Der Text wirkt, als seien die führenden europäischen Politiker von den zahlreichen Krisen des Jahres 2015 so erschöpft, dass sie selbst dringendste Probleme nicht mehr anpacken, sondern nur noch vertagen konnten. Dabei kann die Tragweite des Vorhabens gar nicht überschätzt werden. Das gilt sowohl für den Fall, dass es scheitern sollte, als auch für den Fall, dass die Kommission ihr Vorhaben am Ende durchsetzt.

Zum ersten Mal seit Robert Schuman am 9. Mai 1950 seinen Vorschlag für die Schaffung einer europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorgestellt hat, wollen sich einige EU-Mitgliedstaaten, allen voran Deutschland und Frankreich, in einem bestimmten Bereich aus existentiellen Gründen stärker integrieren. Weder die Schaffung des Gemeinsamen Marktes noch die Einführung des Euros wurden vorangetrieben, weil die Union grundsätzlich auf dem Spiel stand. Die Gemeinschaft für Kohle und Stahl hingegen war 1950 sehr wohl existentiell wichtig für Frankreich. Schuman, der wie nur wenige für einen dauerhaften europäischen Frieden kämpfte, legte seinen Vorschlag vor, um zu verhindern, dass Westdeutschland wieder die alleinige Verfügungsgewalt über die Kohle- und Stahlindustrie des Ruhrgebietes erhielt. In den 1950ern glaubte man, dass Stahl der Stoff war, der Kriege entschied. Frankreich wollte seine Erfahrungen von 1870/71 und aus den beiden Weltkriegen nicht noch einmal erleben müssen.

Der Kommissionsvorschlag zielt auf nichts weniger, als dem Schengenraum wieder die Kontrolle über die eigenen Grenzen zurückzugeben. Mit der obligatorischen Datenkontrolle aller EU-Bürger beim Grenzübertritt würden auch alle Europäer einen hohen Preis dafür zahlen. Ein Preis, den die heutigen und zukünftigen Krisen dieser Welt vielleicht notwendig machen. Stimmen die Mitgliedstaaten dem Gesetzesentwurf zu, verzichten sie auf ein klassisches staatliches Prärogativ. Entsprechend ablehnend sind einige Reaktionen. Der polnische Außenminister nannte einen von den Mitgliedstaaten unabhängigen Grenzschutz schockierend. Auch aus Ungarn kommt Widerstand. Wie genau die Kräfteverhältnisse einzuschätzen sind, werden wir frühestens auf dem EU-Gipfel im Februar erfahren. Sicher ist dies: An den Millionen, die nach Europa strömen, entscheidet sich im Moment noch mehr die Zukunft der EU als an der Eurofrage. Schafft die EU einen unabhängigen Grenzschutz, überschreitet sie eine Schwelle, jenseits derer der Weg in den Bundesstaat offen liegt. Verweigert sie sich diesem Schritt, wird Schengen fallen und die schon heute spürbaren Zentrifugalkräfte werden weiter gestärkt werden. In der existentiellen Krise der EU braucht Europa die Kraft für Visionen und Ideen wie sie Schuman und seine Zeitgenossen einst aufgebracht haben.

Christoph Nick
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