Sauregurkenzeit nennen Journalisten die Sommerzeit, wenn der offizielle Politikbetrieb eingestellt ist und potenzielle Informanten wie auf einen Schlag in die Ferien verschwinden, als hätten sie sich an einem geheimen Ort verabredet. Aus Mangel an aktuellen Themen hat sich eine Tradition eingeschlichen, die deutscher nicht sein könnte: das Sommerinterview. Das erste dieser Art soll das Zweite Deutsche Fernsehen 1988 mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl an seinem bevorzugten Urlaubsort Wolfgangsee aufgenommen haben (als wäre das nicht Warnung genug, von dem Format die Finger zu lassen). Die Idee ist, mit offeneren, grundsätzlicheren Fragen mehr über die Persönlichkeit des Gegenübers herauszufinden; nicht selten werden die Begegnungen daher zuhause, am Ferienort (schön wär’s!) oder, im Trend und kostengünstig, im Internet verabredet.
Politiker wären keine Politiker, wenn sie sich diese Gelegenheit entgehen lassen würden, um Werbung in eigener Sache zu machen – zumal wenn Medien ihnen den Raum dazu bieten. Es ist Sommer, alle Welt ist gut drauf, wozu mit kritischem Nachhaken nerven? Da stellt sich Premierminister Xavier Bettel (DP) fürs Foto lässig am Spielplatz auf. Nicht irgendeinem, sondern dem, wo er als Knirps seinen ersten heroischen, politischen Akt vollbracht haben will. Bei der Legendenbildung geben sich Politiker und Journalisten die Hand. Bettel lächelt, Bettel macht High Five: Seht her, soll das heißen, der Kapitän der MS Luxemburg kann mit jedem.
Die liberale Familienministerin Corinne Cahen steht entspannt vorm Altersheim, das Haar gewohnt offen tragend, das Lächeln breit wie in einem Rosamunde-Pilcher-Film. Sie schwärmt von der Familie als „Menschen, die sich füreinander verantwortlich fühlen“ und wie sehr ihr Ministerium ihr am Herzen liegt. Kulturministerin Sam Tanson (Grüne) bevorzugt indes die kopfige Kulisse, in feuerrotem Kleid in Omas Ohrensessel mit einem Buch in der Hand. Sie habe als Kind gerne gelesen, verrät die Juristin, und dass sie, wenngleich etwas widerwillig, früher öfter mit dem Vater ins Museum ging.
Nicht für jede fade Antwort können die PolitikerInnen etwas, denn manche/r Journalist/in wäre besser selbst in den Urlaub gefahren statt zum x-ten Male zu fragen, ob eine Neulings-Ministerin lange überlegen musste, um ein Mandat in der Chamber aufzugeben und ein Ministeramt zu übernehmen (die Antwort lautet zweimal nein) oder sie mit vergilbten sexistischen Pressemitteilungen überforderter Gemeindebeamten zu quälen. Obwohl das gesamte Land längst weiß, dass Arbeits- und Sportminister Dan Kersch (LSAP) einst Handball spielte, wird er erneut gefragt, warum er das Sportressort wählte: „Ich bin ein sportbegeisterter Mensch und habe 20 Jahre lang aktiv Handball gespielt. Das Sportministerium ist mein Traumressort.“ (Im Interview der Konkurrenz nach den Koalitionsverhandlungen waren es noch 30 Jahre gewesen. Zusatz-Preisfrage: Wie spielt man eigentlich passiv Handball?)
Die Bequemeren (Klügeren?) schicken ein E-Mail mitsamt Fragenkatalog – und stellen dann beinah entrüstet fest, dass nicht alle Auserwählten bei der Stilübung mitmachen wollen (vielleicht landete das Mail im Spam-Filter?). Beim virtuellen Pendant kommen besonders dynamische Antworten heraus. Zu „Gegenwärtige Geistesverfassung?“ ist von „Positiv und motiviert“ (Marc Hansen, déi Gréng) über „Inspiriert, motiviert und gespannt. Und froh“ (Paul Galles, CSV) bis Eugène Bergers, DP, „Den Blick und die Energie klar nach vorne gerichtet“ (Wohin sonst?) alles dabei. Hauptsache, es klingt zupackend, lebensbejahend. Nur Landwirtschafts- und Sozialversicherungsminister Romain Schneider (LSAP) gibt an, er habe Erholung nötig. Weil das Format starr ist und keine Rückfragen vorsieht, bleibt unklar, woher Schneiders Erschöpfung stammt: Er fiel im vergangenen Halbjahr und auch in den vergangenen fünf Jahren nicht unbedingt durch politische Hyperaktivität auf.
Vielleicht aber tun wir dem E-Mail-Interview Unrecht und es handelt sich in Wirklichkeit um eine standardisierte Umfrage, mit der nachgewiesen werden soll, wie die immer gleichen Fragen die fast immer gleichen Antworten produzieren. Mehrfachnennungen möglich und Antworttendenzen sowieso. So erfährt die Leserin, dass sich unter Luxemburgs Politikern gleich mehrere Stieg-Larsson- und Nelson-Mandela-Fans befinden und sich jede/r wünscht, die Familie möge gesund bleiben. Auf die Frage nach dem Lieblingsmaler, Lieblingskomponist oder Lieblingshelden fallen den Befragten fast nur Männer ein: Hieronymus Bosch (Gusty Graas, DP), Johann Sebastian Bach (Eugène Berger) und Robin Hood (Romain Schneider). Die Grüne Josée Lorsché nennt als Lieblingsgestalten der Geschichte die Widerstandskämpfer Geschwister Scholl und als Top-Autor(in) Simone de Beauvoir.
Alle PolitikerInnen lesen – zumindest im Urlaub, die PR-Gewieften unter ihnen einen Mix: Romane von der Bestsellerliste, um sich nah am Geschehen und der Wählerin zu geben, ein, zwei Sachbücher, um zu zeigen, dass man sich Zeit für philosophische Themen nimmt. Als Urlaubsziel kommt wahlweise die Heimat zum Zuge, weil’s da am schönsten ist (Franz Fayot, LSAP), oder ein Ort, „wo ich entspannen und neue Kulturen kennenlernen kann“ (Marc Hansen).
Kein Wunder, dass bei so spritzigen Antworten das alle Jahre wieder strapazierte Format allmählich Verschleißerscheinungen zeigt: Im Geburtsland des saisonalen Pausenfüllers sagte Angela Merkel dieses Jahr erstmalig seit 14 Jahren Kanzlerschaft das ZDF-Sommerinterview ab. Da rauschte es hektisch im Blätterwald: Die Kanzlerin. Sagte. Das Sommer-interview. Ab. Sie hatte das Ping-Pong-Ritual mit den bemüht lockeren, vorhersehbaren Fragen offenbar ebenso satt wie manch Leser/in und brauste kommentarlos in den Urlaub davon. In Südtirol, unweit wo der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker seine Zelte (Fake news: Er logiert selbstverständlich gehobener) aufzuschlagen pflegt, erwischten sie Paparazzi lesend auf dem Balkon: Der Tyrann des US-Literaturkritikers Stephen Greenblatt, in Papierversion (Deutschland lag beim Digital Economy and Society Index 2018 auf Platz zwölf, hinter Luxemburg auf Platz sechs).
Merkels Absage trifft die Medienmacher hart, denn mit der Zeit hatte sich ein zweites Format eingebürgert: die Analyse des Sommerinterviews. Wie nach Anne Will oder dem Tatort sezieren Kritiker Dramaturgie, Inszenierung und Regie bis ins kleinste Detail. Ein deutscher Nachrichtendienst fasste als besonderen Service am Leser alle Sommerinterviews zusammen, um herauszufinden, was die heißen Themen des Sommers 2018 waren. Das Ergebnis: Flucht, Asyl und Migration sowie die Krise der Union (hoppla, ein Reim!). In Luxemburg waren es, intensiven und extensiven Land-Recherchen zufolge, der Haushaltsplan 2019 und die Klima- respektive Nachhaltigskeitsdebatte (reimt sich nicht, Mist). Fällt das Sommerinterview flach, wird dessen Analyse ebenfalls hinfällig und wieder klafft eine leere Seite, die gefüllt sein will. Und sei es diese letzte.