L'homme qui

Der mentale Marathon

d'Lëtzebuerger Land du 18.04.2002

Rund um eine relativ kleine Spielfläche: ein Kreis aus Stühlen - fein säuberlich in Zweierreihen aufgestellt. Man ahnt es schon. Man wird sich drehen, umdrehen, umsehen müs-sen, suchen müssen, um den Anschluss nicht zu verpassen. Vielleicht ein wenig so, wie es die, um die es in dem Stück geht, ständig tun müssen, um sich halbwegs zurecht zu finden, um mit der Entfremdung ihres Intellekts von den Körperfunktionen - ausgelöst durch eine neurologische Verletzung - leben zu können.

In Baumgerüsten integrierte Bildschirme umgeben die Szenerie. Am anderen Ende des Saals im Forum Geesseknäppchen: eine große Leinwand. Auf ihr erscheinen Bilder wie aus einem medizinischen Lehrbuch. Gehirnschnitte sieht man, Verästelungen von Nervensträngen. Auch Aufnahmen, die an Röntgenbilder erinnern. Darüber gelegt die Erklärung zu den verschiedenen Erscheinungsbildern dieser neurologischen Störungen: Aphasie, Agnosie, Alexie ... Die Bilder verändern sich, tanzen miteinander und formen zwischen Poesie und Magie einen Reigen aus Wissenschaft und Kunst. So zerfließen knallrote Gehirnwindungen in ein Gebilde vol-ler Leben, voller verzweifelter Kraft. Intuitiv erfasst man: Es geht hier um Menschen, die orientierungslos auf der Suche nach Halt sind.

"Re-, Dé-, Nouvelles Connexions" erscheint auf dem Schirm. Diese Zeilen machen klar: Es geht um Verbindungen, die im Gehirn des Kranken nicht mehr stattfinden. Störungen, die das Verhalten der getroffenen Menschen bizarr verzerren, ohne dass sie jedoch in ihrer eigentlichen Denkfähigkeit gestört wären.

Nach einem kurzen Vorspann - man wähnt sich fast im Kino - folgt der Cut. Dunkelheit, Stille. Eine Stille, die eine eindringliche Stimme aus dem Off bricht. Sie erzählt von der Verlorenheit eines Kindes im dunklen Wald - auf den Bildschirmen rund um die Bühne flimmern in erbarmungslosem Schwarz-Weiß Aufnahmen von kahlen Ästen, sie erinnern an Nervenstränge: Die Schauspieler bewegen sich auf das Rund der Bühne zu. Von ihnen geht eine unheimliche Intensität aus, in die schwarz-weißen Äste mischt sich das strahlende Blau des Himmels - das Spiel kann beginnen.

Man muss sich auf dieses Stück mit allen seinen Sinnen einlassen - das Vorspiel mit seinen vielfältigen künstlerischen Mitteln ist intuitiv explizit und öffnet so unbewusst den Zuschauer für das Kommende. Für die eindringliche Begegnung mit den verschiedenen Spielarten neurologischer Störungen.

L'homme qui... beruht auf dem Buch The Man who took his Wife for a Hat von Oliver Sacks und wurde von Peter Brook erstmals für die Bühne adaptiert. Nun inszeniert Frédéric Frenay es in Luxemburg - und er tut dies ungeheuer beeindruckend, spielt mit sicherer Hand auf der Klaviatur der Ausdrucksformen. Sein Regiedebüt ist mehr als gelungen. Präzis führt er die Darsteller, darunter auch zwei Patienten, durch die Stationen ihres Leidens.

In kurzen Szenen lässt er Patienten und Ärzte - beide in Pyjamas ge-hüllt - aufeinander treffen. Während Sascha Ley, Claude Mangen und Daniel Plier, die professionellen Schauspieler, zwischen Patienten- und Ärzterollen wechseln, so hat Frenay seine "Laienschauspieler" aus dem Centre de rééducation et de réadaptation fonctionnelle de Hamm nur mit Ärzterollen bedacht. Um zu vermeiden, dass sie bloßgestellt werden könnten. Alice Adam und Pascal Munyanshongore machen ihre Sache gut und überzeugend. Es ist ein besonderes Verdienst dieser Inszenierung, dass sich das Spiel dieser Amateurschauspieler in das Ganze einfügt, dass es im Vergleich zur exzellenten Darstel-lung der "Profis" nicht abfällt, sondern ihm durchaus Paroli bieten kann.

Überraschend war, mit welch distanzierter Kälte die Ärzte sich ihren Patienten in dem Stück oft nähern. Das gipfelt darin, dass sie ihre Patienten äußerst brutal und schonungslos mit der Realität konfrontieren. Etwa wenn man einem, der glaubt, er wäre 23 Jahre alt, den Spiegel vors Gesicht hält, um ihm sein altes Gesicht vorzuführen.

Oder der Patient, der an Jargonaphasie leidet - er bekommt die Buchstaben nicht in die richtige Reihenfolge, weder beim Sprechen noch beim Lesen. Er erfindet unbewusst eine neue Sprache, eine sehr aussagekräftige und melodisch-rhythmische Sprache, untermalt von lebendiger Gestik. Daniel Plier bietet hier einen Akt bester Schauspielkunst. Er sprudelt die falschen Worte im Dialog mit dem Doktor nur so heraus - und man glaubt, man versteht jedes Wort. Er liest vor -  und tut das so bewegt, so von der Schönheit des Textes gepackt, dass man ganz gefangen mit ihm fühlt. Doch dann kommt der Bruch. Die Ärztin spielt ihm die Aufnahme vor, die sie von seinem Lesen gemacht hat. Er fällt in sich zusammen.

Frédéric Frenay hat sein Stück auf Luxemburg adaptiert. So besticht Claude Mangen, dessen ungeheuer präzise Beherrschung seiner Mimik und seiner Gesten seinen Rollen höchste Glaubwürdigkeit verleiht, wenn er auf Luxemburgisch die Verzweiflung eines Mannes verkörpert, der mit einem Lied aus seiner Kindheit im Kopf wach wird und sich langsam wieder zurückerinnert, je-nen Schnitt überwindet, der ihm den Zugang zu diesen frühen Jahren bisher verbaut. Als die Ärzte ihn in seiner Qual durch Medikamente ruhig stellen, möchte man sie wegreißen, damit er seinen Weg zurück weitergehen kann.

Die Schlussszene bestreitet Sascha Ley. Sie spielt eine Frau, die jeglichen Bezug zu ihrem Körper verloren hat. Nicht sie, sondern nur ihre Augen können diesen Körper bewegen. Sascha Ley vermittelt uns diese Qual des Abgekoppeltseins. Langsam richtet sie sich auf - Hände, Arme, Füße, Beine - bis sie steht. Zum Gehen reicht es nicht. Resignierend und im luziden Wissen um ihre Abnormalität gibt sie uns ihre Wahrheit preis. "Jeder Tag ist ein mentaler Marathon." Mit diesem starken Bild endet der Reigen - nur um ahnen zu lassen, dass wir nur einen kleinen Einblick in die Welt dieser Menschen erhalten konnten - doch der war schon intensiv ge-nug.

Bei L'homme... qui handelt es sich nicht wirklich um ein Stück im traditionellen Sinn, sondern eher um eine Aneinanderreihung kleiner Impressionen, die sich wie bei einem Musikstück in eine Harmonie fügen. Ja, eine eigene Harmonie. Auch wenn die dunklen Momente vorherrschen und Frenay sein Stück auch auf dieser Note ausklingen lässt, so erschließt sich dem Publikum doch ein Ganzes, das in sich schlüssig ist, eine Welt, in der durchaus Humor vorkommen darf, in der auch das Glück seinen Platz hat. Diese Welt zu entdecken, lohnt sich absolut. So wie es sich lohnt, Maskénadas innovatives Theater zu entdecken - davon sieht man in Luxemburg viel zu wenig.

 

L'Homme qui von Peter Brook, nach dem Buch von Oliver Sacks ; Inszenierung: Frédéric Frenay, assistiert von Daniel Tanson; mit: Alice Adam, Sascha Ley, Claude Mangen, Pascal Munyanshongore, Daniel Plier, Musik: StereOneric, video: Nicholas Elliott, Jean-Paul Frenay. Gespielt wird dreisprachig in Französisch, Deutsch und Luxemburgisch; weitere Vorführungen heute und morgen abend um 20 Uhr im Forum des Campus Geesseknäppchen und am 24. April um 15.30 Uhr im Rahmen des Festival de Théâtre Jeune Public Saar-Lor-Lux; Reservierungen über Telefon: 26 55 01 94 oder per e-mail : maskenada@pt.lu

 

Jutta Hopfgartner
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