„Meine Mutter ist nicht hier, sie kommt normalerweise nur vormittags“, sagt der muskulöse Mann mit dem Schnauzer, der auf Klingelzeichen die gläserne Haustür öffnet. Normalität war vor einer Woche: Seitdem ein Tornado der Stufe F2 mit Windgeschwindigkeiten zwischen 180 bis zu 250 Stundenkilometern durch die Ortschaften Bascha-rage, Linger, Lamadelaine, Rodange, Rollingen, Käerjeng und Petingen fegte, kann bei vielen Bewohnern von Alltag keine Rede mehr sein. Auch nicht bei Frau H.: Der Sog des Sturms hat ihr Haus in der Avenue de la Gare in Petingen komplett abgedeckt. Seit Montag sorgt eine notdürftig angebrachte blaue Plastikplane für Schutz vor Regen, bis das Dach repariert werden wird.
Bevor das geschieht, müssen Experten der Versicherung den Schaden begutachten und beziffern. Die Regierung hat finanzielle Soforthilfen für die Betroffenen angekündigt. 19 Verletzte, zwei davon schwer, rund 500 beschädigte Häuser, 40 zerstörte Dächer, vier komplett unbewohnbare Häuser und 77 Bewohner, die vorübergehend in Hotels einquartiert werden mussten, lautet die bisherige Schreckensbilanz. Vor allem Dachdecker werden nun händeringend gesucht. Obwohl in den Straßen, die in der Schneise des Tornados lagen, lautes Klopfen und Hämmern, sowie zwei Kräne und mehrere Kastenwägen von der Anwesenheit zahlreicher Handwerker zeugen, sind es nicht genug, um den Riesen-Reparaturbedarf nach der Naturkatastrophe zu decken: Viele Firmen kommen aus Deutschland, andere sind extra aus dem Urlaub zurückgekehrt.
So auch die Versicherungen. Ein Foyer-Vertreter, der in der Rue de la Liberté ein Einfamilienhaus ohne Dachstuhl verlässt, zeigt seine dicht beschriebene Liste: 24 Häuser habe er heute begutachtet. „Zuerst die Schäden am Dach, denn die müssen am dringlichsten behoben werden“, sagt er. „Das andere muss warten.“ Rund 25 000 Euro koste es, eins der ortstypischen Arbeiterhäuser neu zu decken, so der Vertreter. Der Dachverband der Versicherer (Aca) schätzte den versicherten Gesamtschaden am Mittwoch auf etwa 100 Millionen Euro. Mehr als 2 400 Versicherte hätten Schäden gemeldet, zwei Drittel betrafen Gebäude, ein Drittel Autos, heißt es in der Aca-Pressemitteilung. Neben den Schäden an Häusern und Wohnungen hat der Wirbelsturm mit seiner gewaltigen Sogkraft Telefonkabinen aus den Verankerungen gerissen, Altkleidertonnen umhergewirbelt, Strommäste wie Streichhölzer umgeknickt, zudem wurden zahlreiche Autos durch herabstürzende Teile demoliert. Glücklich darf sich schätzen, wer gut versichert ist.
Die Sorgen über die Folgekosten sind es, die BewohnerInnen wie den 54-jährigen Hausbesitzer in der Rue de la Liberté zwei Tage nach dem Tornado am meisten umtreiben. „Ich habe Glück gehabt“, sagt er und zeigt nach oben: Der Wind hat die Dachrinne aus der Verankerung gerissen und, wie an vielen Häusern, einige Schindeln abgedeckt.Bis Mitternacht hätten sein Bruder und er, der mit dem 92-jährigen Vater im gemeinsamen Haushalt wohnt, mit anderen Anwohnern Trümmerteile aus dem Garten geräumt: „Du überlegst nicht lange und hilfst mit. Das gehört sich so“, sagt der Mann mit dem Pferdeschwanz, der früher bei der Armee war, beeindruckt von der Welle der Hilfsbereitschaft.
Über 200 Feuerwehrleute, 40 Soldaten und 40 Polizisten waren allein in der Nacht von Freitag bis Samstag im Einsatz, am Dienstag trafen Freiwillige des deutschen Technischen Hilfswerks ein, ein Krisenstab mit Vertretern der Gemeinden, des Katastrophenschutzes sowie der Regierung sieht sich regelmäßig. Jugendgruppen, Fußballvereine – alle machen mit. Betroffene, für deren Schäden keine Versicherung aufkommt, können sich bis 1. November beim Familienministerium (secretariatsolidarite@fm.etat.lu) melden. Es gibt Spendensammlungen der Gemeinden Petingen und Käerjeng (Telefon: 80 02 80 80). Wohlfahrtsorganisationen wie das Rote Kreuz und die Caritas haben Hilfe angekündigt. Eine private Facebook-Sammelaktion erbrachte binnen vier Tage über 107 400 Euro.
Am schlimmsten getroffen hat es in Petingen die Rue Neuve und die Route de Luxembourg: Hier stehen ein kahlrasiertes Haus neben dem anderen. Auch Tage nach der Katastrophe tragen Anwohner Möbel, die der Sturm heil gelassen hat, aus den oberen Stockwerken. Ein Mann im blauen Polo-Shirt zieht sein Smartphone aus der Tasche: „Ich habe das berühmteste Video im Netz!“ Die Bilder zeigen, wie der Sturm wie ein Monsterstaubsauger direkt vorm Wohnzimmer auf der Terrasse Metallmasten, Sonnenschirm, Kinderspielgerät mühelos wie Steckrüben aus der Erde zieht. Nach nicht einmal zwei Minuten sei der Spuk vorbei gewesen: „Das vergesse ich nie.“ Zum Glück war er allein im Haus geblieben, Frau und Kinder waren bei Freunden.
Nicht vergessen werden die Petinger aber auch die ungewohnte Welle von Solidarität und Nachbarschaft: Nachdem der erste Schrecken aus den Glieder gewichen war, packten alle an. Nachbarn, die sich eigentlich nur vom Grüßen kennen, eilten mit Schippen, Schubkarren und Motorsägen herbei, halfen Äste, Bäume und ganze Dächer zu zersägen und aus dem Weg zu räumen. Auch die betagte Frau H. hatte sich den Besen geschnappt und Scherben, Ziegel und Schindeln zusammengekehrt, während ihre kräftigen Söhne hinterm Haus die großen Brocken wegwuppten. Menschen, die zu zerbrechlich waren, um bei den Aufräumarbeiten zu helfen, brachten Wasserflaschen für die Fleißigen, einer hatte sein Auto mit Suppe beladen. Wieder andere stellten kurzfristig eine Kinderbetreuung auf die Beine.
Enya, 23-jährige Studentin, hatte von Freunden über Snapchat vom Tornado erfahren. Sie selbst hatte das Unwetter zwar gespürt, aber außer dass die Mutter das Bad mit dem offenen Fenster wegen des Soges plötzlich nicht betreten konnte, sei ihr Zuhause heil geblieben. „Einem Freund von mir riss der Sturm buchstäblich das Dach übern Kopf davon.“ Noch am selben Abend traf sie sich mit Freunden, denen sie sonst im Jugendhaus begegnet. Als kleine Gruppe zogen sie, darunter ein Gärtner mit Motorsäge, von Haus zu Haus, um bis spät in die Nacht Äste und Balken klein zu sägen und in säuberlichen Haufen für den Abtransport aufzustapeln. „Jetzt muss es doch der Letzte glauben!“, empört sie sich über die Ignoranz vieler gegenüber den Folgen des Klimawandels. Noch etwas bekümmert sie: „Die Trauerweide am Ortseingang hat es auch erwischt.“ Für Petinger sei der Baum wie ein Wahrzeichen gewesen. „Immer wenn ich von der Schule nach Hause ging, kam ich am Baum vorbei“, erinnert sie sich wehmütig. Dann gibt sie sich einen Ruck: „Es hätte schlimmer kommen können.“