Leitartikel

Grünes Licht

d'Lëtzebuerger Land du 19.10.2012

Ein halbes Dutzend Gewerkschaften hatten am Dienstag zu einer Protestkundgebung gegen die geplante Rentenreform aufgerufen. Ob tatsächlich 2 000 Leute, wie behauptet, zur Place Clairefontaine gekommen waren, darf bezweifelt werden. Doch selbst dann wäre die Veranstaltung nicht gerade ein Erfolg gewesen, wenn man sie in Verhältnis zur Summe der Mitgliederzahlen von OGBL, CGFP, FNCTTFEL, Aleba und FGFC stellt. Am Ende hatte sich der LCGB mit seinem Alleingang in Niederanven nur zur Hälfte lächerlich gemacht. Denn im Vergleich zur vereinten Konkurrenz in der Hauptstadt war seine Saalkundgebung ganz ordentlich besucht.
Dass der Protest gegen die Rentenreform diese Woche bescheiden blieb und keine Steigerung gegenüber der Versammlung im alten Limpertsberger Straßenbahndepot im Frühjahr darstellte, hat sicher mehrere Ursachen: Ein Teil der Betroffenen ist überzeugt, dass Sozialminister Mars Di Bartolomeo an seinen „Stellschrauben drehen“ muss, um die Rentenversicherung solvent zu halten. Andere haben sich wohl ausgerechnet, dass sie persönlich noch ziemlich ungeschoren davon kommen dürften. Eine Rolle hat aber wohl auch gespielt, dass die Gewerkschaften getrennt und nur halbherzig mobilisiert hatten. Sie beschränkten sich vor allem auf Detailkritiken an den Bestimmungen für ausgewählte Versichertenkategorien. Um diesen Kritiken die Spitze zu brechen, hatte Minister Di Bartolomeo kurz vor der Kundgebung Änderungsanträge in Aussicht gestellt und den politischen Spielraum, den er für Konzessionen in seinen Gesetzentwurf gebaut hatte, ausgenutzt – zugunsten der Bezieher niedriger Renten, der Schwerstarbeiter und Studenten.
So liegt der Verdacht nahe, dass der Protest der Gewerkschaften eher ein taktischer ist. Denn sie rechnen es dem sozialistischen Sozialminister oder wenigstens den hohen Rücklagen der Altersversicherung an, dass die Reform längst nicht so weit geht wie in anderen europäischen Ländern. Pünktlich am Tag der Kundgebung hatten die Vorsitzenden der Unternehmerverbände einen offenen Brief an die Regierung und das Parlament geschickt, in dem sie warnten, dass die Reform in ihrer augenblicklichen Form früher oder später zu „massiven Leistungskürzungen“ und „unerträglichen Beitragserhöhungen“ führen werde. Angesichts der Kritiken aus Unternehmerkreisen, der Opposition und selbst Teilen der CSV, denen die Reform zu zaghaft ist, scheinen die Gewerkschaften vor allem Druck auszuüben, damit der Minister nicht nach der anderen Seite umfällt. Mars Di Bartolomeo kommt das vielleicht gar nicht ungelegen, da er seine Reform so erfolgreich durch die Institutionen lotsen kann, indem er den goldenen Mittelweg für sich beansprucht.
Während der Minister beispielsweise der Forderung der Gewerkschaften nach einer weiteren Erhöhung der Grundrente nachkommt und einen entsprechenden Änderungsantrag zu seiner Gesetzesvorlage einbringt, ist die Umsetzung einer entscheidenden Unternehmerforderung bereits beschlossen, ohne dass sie überhaupt als Teil des Reformprojekts erscheint: Die Unternehmer hatten vorgerechnet, wie wichtig es für die Finanzen der Pensionskasse sei, dass die Rentenanpassungen an die Lohnentwicklung nicht erst ab 2020 manipuliert, sondern bereits heute abgeschafft würden. Die Rentenanpassung aber ist, wenn nicht endgültig, so doch erst einmal für nächstes Jahr abgesagt, und die Geschichte der Indexmanipulationen lehrt, wie langlebig provisorische Maßnahmen sein können, die als endgültige politisch nur schwer durchsetzbar sind. Der bescheidene Erfolg der Kundgebung am Dienstag gab jedenfalls grünes Licht, damit die Reform tatsächlich, wie angekündigt, im Dezember verabschiedet werden und im Januar in Kraft treten kann. Dann wird sie weniger ein Glanzstück höherer Versicherungsmathematik als politischen Manövrierens sein.

Romain Hilgert
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