Impfstoffknappheit, Virusmutanten und womöglich wieder geschlossene Grenzen: In der Luxemburger Wirtschaft ist die Stimmung angespannter als Ende 2020

Wann hört das auf?

Schueberfouer 2015
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 19.02.2021

Für den Wunsch, dass bald wieder alles normal werden möge, ohne Masken, „social distancing“ und tägliche Medienberichte über Infektionszahlen, den R-Wert und mutierte Coronaviren, gibt es vielleicht kein besseres Symbol als die Schueberfouer. Für die Menschen zum einen, für die Schaustellerbetriebe zum anderen. „Die haben im Grunde seit dem Sommer 2019 nichts mehr verdient, das muss man sich mal vorstellen!“, sagt Nicolas Henckes, der Direktor der Handelskonföderation. Die kleinen Kirmesfeste in den Wohnvierteln im vergangenen Sommer und die kleinen Weihnachtsmärkte waren nur Tropfen auf den heißen Stein.

Die Nöte der Schausteller mögen ein extremes Beispiel sein, aber auch die Event-Branche und die Reisebranche sind schwer getroffen. Doch die Stimmung ist derzeit offenbar in vielen Bereichen der Luxemburger Wirtschaft nicht gut – trotz staatlicher Hilfen, trotz der Kurzarbeitregelung, trotz des Konjunkturprogramms „Neistart Lëtzebuerg“.

Dabei gibt es Zahlen, die nicht schlecht aussehen. Die Fondation Idea, ein „Think-tank“ der Handelskammer, gab vergangene Woche ein „Tableau de bord économique et social“ heraus, das unter anderem Meinungen aus den Branchen wiedergibt. In der Industrie sind sie demnach überwiegend positiv, im Baugewerbe auch; in Letzterem würde fast jeder dritte Betrieb Neueinstellungen planen. Bei den Nichtfinanz-Dienstleistungen seien die Einschätzungen der Wachstumslage „stabil“ und leicht positiv. Besonders negativ seien sie im Handel. Weil sich unter den Tabellen von Idea auch eine über die Investmentfondsbranche befindet und ihr ein Wachstum der Fonds-Aktiva um 5,4 Prozent im vergangenen Jahr entnommen werden kann, lässt sich leicht verstehen, dass der Finanzsektor die Bilanz der Gesamtwirtschaft in Corona-Zeiten erheblich verbessert.

Doch was Idea an Stimmungsbildern zusammengetragen hat, datiert vom Dezember. Wo es damals Zuversicht gab, sei sie mittlerweile „ein bisschen abgeflaut“, sagt Handelskammer-Generaldirektor Carlo Thelen. „Vor Jahresende 2020 gab es zwar starke Einschränkungen wegen der hohen Corona-Fallzahlen, aber andererseits Hoffnungen auf Impfungen, und man hatte noch wenig von Virusmutationen gehört.“ Heute dagegen herrsche nicht nur Impfstoffknappheit in der EU, sondern unter vielen Luxemburger Betrieben Nervosität angesichts der Maßnahmen gegen die Seuche, die in den Nachbarländern ergriffen werden. „Bisher wurde in Luxemburg immer versucht, die Einschränkungen jeweils ein bisschen zu verschärfen und ein bisschen zu lockern“, stellt Thelen fest. Zurzeit dagegen habe er den Eindruck, dass die Regierung vermeiden will, die Nachbarn zu irritieren. Der Handelskammer-Chef versteht das: „Die anderen machen Politiken für viel größere Länder.“ Derzeit aber, meint er, würden im Grunde alle Regierungen in Europa zu erraten versuchen, „was der andere womöglich denken könnte“. Also nehme die Unsicherheit zu.

Kein Wunder, dass auch makroökonomische Prognosen derzeit rar sind oder unsicher. DP-Finanzminister Pierre Gramegna twitterte am Dienstag begeistert von der Eurogruppen-Sitzung: „Luxembourg has well resisted to COVID-19 shock. Economy shrank by -3.1% in 2020, well below EU average of -6.8%, and is expected to grow by +3.2% in 2021.“ Das sind die Zahlen aus der „Winterprognose 2021“, die die EU-Kommission schon am Donnerstag vergangener Woche herausgegeben hatte. 3,1 Prozent BIP-Rückgang im vergangenen Jahr wäre tatsächlich noch besser als jenes Minus von 3,5 Prozent, welches das Statistikinstitut Statec Anfang Dezember als optimistisches Szenario für 2020 genannt hatte. Im pessimistischen standen minus 4,5 Prozent. Die nächste Statec-Schätzung soll am 1. März vorliegen, „aber wieder mit Szenarien“, fügt Statec-Direktor Serge Allegrezza hinzu. Er sei zwar „optimistisch“, dass es nicht so schlimm kommt, wie im vergangenen Jahr gedacht. „Doch der Schlüssel dazu liegt natürlich in der Impfkampagne.“

Wie die weitergeht, kann niemand sagen. Man könnte es für den Ausdruck eines schlechten Gewissens angesichts der vielen Vorwürfe aus den Mitgliedstaaten halten, nicht rechtzeitig genug Vakzine eingekauft zu haben, wenn die EU-Kommission in ihrer Winterprognose schreibt, „der EU-weite Start der Impfkampagnen [gibt] Anlass zu vorsichtigem Optimismus“. Doch wie viel Optimismus angebracht ist, hängt nicht nur von der Verfügbarkeit der Impfstoffe ab, sondern auch davon, ob das Coronavirus womöglich weiter mutiert. Der Statec-Direktor zitiert aus einer Studie des McKinsey Global Institute, laut der eine sechzigprozentige Immunisierung der EU-Bevölkerung vielleicht schon im dritten Quartal erreicht sein könnte, in den USA und in Großbritannien vielleicht schon im Sommer. In der Studie mit dem schönen Titel „When will the COVID-19 pandemic end?“ steht aber auch, dass diese Zahlen unsicher sind und „Herdenimmunität“ vielleicht erst 2022 erreicht werden könne. Sei es, dass die Impfbereitschaft in den Bevölkerungen nicht weit genug reicht, sei es, dass Virusvarianten, die leichter übertragbar sind, einen höheren Durchimpfungsgrad erfordern – und dann umso höhere Impfbereitschaft.

Für die Wirtschaft wären das schlechte Nachrichten, sollte dies sich bewahrheiten. Denn da sind einerseits die Branchen, die von der Seuche bisher schon stark in Mitleidenschaft gezogen wurden: Jeder Monat, in dem die Gastronomie geschlossen bleibt, koste ein Zehntel Prozent BIP, denn die Schließung wirke sich auch auf nachgelagerte Sektoren aus, rechnete das Statec vergangenes Jahr vor. Innerhalb der Sektoren wiederum kann die Situation bald besser, bald schlechter sein. Der Möbelhandel etwa habe nach dem Lockdown im Früjahr einen regelrechten Boom erlebt, sagt Nicolas Henckes von der Handelskonföderation. Lebensmittelhändler und Supermärkte seien ebenfalls nicht schlecht gefahren, denn durch Lockdown und Telearbeit kochten die Leute mehr selber. Dagegen hätten Textilhändler ihre stark geschrumpften Umsätze nur während der Schlussverkäufe etwas aufbessern können und säßen zum Teil noch immer auf großen Lagerbeständen. Geschäftsschließungen habe es ebenfalls gegeben; vor allem durch große Ketten, die Läden in Luxemburg aufgaben. „Das sieht man nicht an Konkursen, aber zum Beispiel in der Avenue de la Gare in Luxemburg-Stadt.“

Andererseits gibt es auch dort, wo auf den ersten Blick die Lage gut zu sein scheint, Kontraste. Und Unruhe wegen der Infektions- und Impflage. Die Industrie sei bisher nicht schlecht durch die Pandemie gekommen, sagt Fedil-Direktor René Winkin. „Kein einziger Betrieb stand während des Lockdown im Frühjahr still.“ Elektronikfirmen hätten geboomt, „da wurden die Halbleiter knapp“. Davon seien auch die Autozulieferer betroffen gewesen. „Viele liefern nach Asien. Im Frühjahr war das kein Problem wegen Lockdowns, denn die gab es in Asien kaum, sondern eher wegen mangelnder Computerprozessoren.“ Mittlerweile habe sich das aber gelegt.

Die Baubetriebe hätten sich nach der Wiederöffnung der Baustellen im Mai gut erholt, fährt Winkin fort, „wenngleich noch nicht ganz auf den Stand von vor Corona“. Der Lebensmittel- und Verpackungsbranche gehe es gut, zum Teil sehr gut. „Nur wer mit seinen Lieferungen stark an der Gastronomie hängt, hat es schwer.“ Dagegen habe es „im Packaging überproportional viele Neueinstellungen“ gegeben.

Betriebe mit regelmäßigen Kontakten im Ausland hätten jetzt neue Sorgen: „Schon sagen die ersten, wir können unsere Teams nicht raus in die Welt schicken, weil sie nicht geimpft sind. Und wenn wir das nicht tun, schafft es die Konkurrenz womöglich?“ Das seien „so Fragen“, sagt Winkin. Andere entstünden durch die von Land zu Land verschiedenen Corona-Bestimmungen. „Belgien hat das Reisen bis März verboten. Wer für einen Betrieb reisen muss, darf das, aber nur wenn es sich um eine belgische Firma handelt; wer für eine Luxemburger Firma reisen will, darf nicht.“ Seitens der Fedil-Mitgliedsbetriebe werde mittlerweile „regelmäßig“ berichtet, wie schwierig es geworden sei, Lieferanten aus dem Ausland nach Luxemburg zu holen. „Das betrifft leider gerade solche Betriebe, die auf Hochtouren laufen könnten und investieren möchten.“ Einer habe einen Lieferanten aus Dänemark lediglich für Wartungsarbeiten kommen lassen wollen. „Das war nicht möglich, weil er sich nach seiner Rückkehr für zwei Wochen in Quarantäne hätte begeben müssen.“ Umgekehrt funktioniere das auch: „Wer ein Team aus Luxemburg nach Tschechien schickt, hat es anschließend zwei Wochen nicht auf Arbeit.“ Telearbeit ist in der Industrie seltener als etwa in der Finanzbranche.

Angesichts solcher Umstände werden aus der Wirtschaft an die Regierung neue Wünsche laut. „Wenn Deutschland Grenzkontrollen oder Schnelltestverpflichtungen einführt, müssten Lieferanten aus Deutschland in Luxemburg Tests reserviert bekommen, damit sie nach ihrer Rückkehr nicht in Quarantäne müssen“, sagt René Winkin. Handelskammer-Direktor Carlo Thelen sähe es gern, wenn die Unternehmen Impfstoffkontingente erhielten. „Als Handelskammer sagen wir, die Betriebe sollten in die Impfkampagne mit rein und ihre Mitarbeiter impfen lassen. Das hätte auch den Vorteil, dass einer den anderen mitzöge.“ Thelen weiß, dass sich das nicht nur wegen der zurzeit herrschenden Knappheit kaum verwirklichen lassen wird, sondern auch, weil Luxemburg seine Impfdosen aus den EU-Bestellungen bezogen auf die ansässige Bevölkerung zuerkannt erhält und Grenzpendler/innen ausgeschlossen sind. „Längerfristig aber sollten die Betriebe beteiligt werden. Sonst wird eine fehlende Impfung womöglich zum Problem für LKW-Fernfahrer oder für Piloten.“

Bemerkenswerterweise wurden im vergangenen Jahr über 7 000 neue Arbeitsplätze geschaffen (4 058 für Grenzpendler/innen und 3 256 für Ansässige). Das waren etwa halb so viele wie 2019, aber der Zuwachs von 1,6 Prozent ist im Vergleich der Eurozone außergewöhnlich. Die Kurzarbeitregelung – von der bislang mehr als 34 000 Personen betroffen waren – verhinderte Massenarbeitslosigkeit. Dennoch betrug die Arbeitslosenrate Ende 2020 6,4 Prozent, rund einen Prozentpunkt mehr als vor der Pandemie. Die staatlichen Corona-Hilfen vermieden auch Konkurse. Die Zahl der Firmenpleiten blieb 2020 mit 1 206 sogar unter der von 2019, als 1 239 registriert wurden.

Carlo Thelen geht davon aus, dass sich dahinter Konkurse verbergen, die noch kommen werden. „Das gilt in der ganzen EU, in den Medien ist ja von Zombiefirmen die Rede, die am Leben erhalten werden, obwohl ihr Geschäftsmodell nicht mehr gut ist.“ In welchem Ausmaß damit zu rechnen sein wird, lasse sich aber nicht sagen. Nicolas Henckes hält es für „einen wichtigen Knackpunkt, wie wir aus den Hilfen in die Normalphase kommen“: Stelle die Regierung die Nothilfen an die Betriebe zu schnell ein, könnten „viele ins Straucheln kommen, weil sie sich an die Hilfen gewöhnt haben“.

„Unter dem Strich bereiten wegen der Pandemie vor allem Gastronomie, Handel und Tourismus Sorgen“, sagt der Statec-Direktor aus der Makro-Sicht. Aber wenn das BIP stärker wüchse als im Dezember angenommen und vielleicht so, wie die EU-Kommission das für möglich hält, läge das natürlich in erster Linie am Finanzsektor: Nach bisherigen Zahlen wuchs 2020 neben der Fondsbranche auch die Versicherungsbranche. Im Bankgeschäft dagegen waren bis zum Ende des dritten Quartals die Margen auf Zinsen und die Nettoeinkünfte auf Kommissionen um zehn beziehungsweise zwölf Prozent kleiner als ein Jahr vorher: Zum einen sind die Banken mit der Kreditvergabe vorsichtiger geworden, zum anderen sank die Kreditnachfrage. „Aber wenn es heißt, der Finanzplatz habe uns gerettet, dann sind die Wirkungen der Finanzdienstleistungen auf die Wirtschaft insgesamt gemeint“, so Serge Allegrezza. „Die können ja auch digital und in Telearbeit erledigt werden. Sofern es dabei keine Verzögerungen gibt, bemerkt man die Pandemie gar nicht.“

Peter Feist
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