Impfpflicht? Das war lange ein Tabuwort für die Regierung. Bis Premier Xavier Bettel himself am Montag gegenüber Le Quotidien erklärte, sie sei „toujours une possibilité“. Im Moment werde den Leuten die Wahl gelassen, mit allen Konsequenzen, die das mit sich bringe. „La vaccination obligatoire fait qu’on pénalise par une amende les gens qui ne se font pas vacciner et la question reste ouverte.“
Das hört sich an, als sei der Übergang zur 2G-Regel für Freizeitaktivitäten und 3G am Arbeitsplatz fließend. Denn ein Strafgeld für die, die sich nicht impfen lassen, wäre eine Konsequenz für eine individuell getroffene Entscheidung, genau wie die, nicht mehr ausszugehen und sich ab Mitte Januar auf dem Weg zur Arbeit einen Schnelltest zu kaufen. Niemand würde zum Impfen gezwungen. So ähnlich hatte sich auch LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert verstehen lassen, als sie am Mittwoch vergangener Woche in einem Corona-Webinar von Paperjam erklärte, „on ne peut pas vacciner quelqu’un de force. Mais une obligation qui prévoit des sanctions administratives ou va dans le sens d’empêcher l’accès à certaines activités c’est compatible. Maintenant il faut trouver une balance.“
Es ist aber alles andere als sicher, ob solche Aussagen ein Ausdruck dafür sind, dass die Regierung clever „die Waffen zeigt“, wie der Generalsekretär der Handwerkerföderation, Romain Schmit, es am Mittwoch im Radio 100,7 nannte, oder ob sie immer kopfloser agiert und nun die Impfpflicht ins Gespräch bringt, weil die Nachbarländer das schon getan oder zum Teil umgesetzt haben: In Frankreich muss Gesundheits- und Pflegepersonal gegen Corona geimpft sein, Deutschland dürfte demnächst folgen. Und dann ist da noch die neue „Omikron-Variante“, die für so viel Panik sorgt, dass Boris Johnson für England schon den Freedom Day zurückgenommen hat. Vermutlich will einfach niemand sich eines Tages vorwerfen lassen müssen, mit einem kategorischen Nein zur Impfpflicht gegen Covid-19 auf der falschen Seite gestanden zu haben.
Aber was würde man mit der Impfpflicht erreichen wollen? – Die Frage stellt der Virologe Claude Muller in den Raum, und sie ist ganz plausibel. „Man müsste sich darüber klarwerden, ob man damit bestimmte Bevölkerungsgruppen schützen will oder die gesamte Bevölkerung. Oder ob sie vor allem dazu dienen soll, die Krankenhäuser vor einer Überlastung zu bewahren, oder man hofft, damit das Coronavirus auszumerzen.“ Je nach Ziel würde daraus eine spezifische Impfpflicht folgen, sagt Muller dem Land. Und unterstreicht, an sich sei der Begriff so neu und ungewöhnlich nicht: „In elf EU-Staaten gilt eine Impfpflicht für mindestens eine Krankheit, in neun der elf sogar für acht Krankheiten oder mehr.“ In Luxemburg freilich sind alle Impfungen freiwillig. Mit der Ausnahme der obligatorischen Hepatitis-B-Impfung für Krankenhauspersonal.
Wohin Claude Mullers Überlegungen zu den Zielen führen könnten, ist ziemlich gut vorstellbar: Von den über 60-Jährigen zum Beispiel waren diese Woche elf Prozent noch nicht mit zwei Dosen geimpft. Das ist zwar ein Prozentpunkt besser als vergangene Woche, entspricht aber noch immer rund 13 800 Personen, die bei einer Covid-Infektion besonders schwere Krankheitsverläufe riskieren und vielleicht ihr Leben. Eine Impfpflicht ab 60 könnte auch helfen, die Intensivstationen und ihr Personal vor Überlastung zu schützen. Dagegen würde ein Schutz der gesamten Bevölkerung wohl zumindest über eine Impfpflicht für alle Erwachsenen führen, und wollte man das Virus ausmerzen, müsste sie wahrscheinlich auch für Kinder im Grundschulalter gelten. Die Erwachsenen waren diese Woche zu 78,5 Prozent mit zwei Dosen geimpft, die gesamte Bevölkerung, Säuglinge inklusive, zu 68,1 Prozent.
Doch derartige strategische Überlegungen und wie sie generalstabsmäßig umgesetzt werden sollen, hat die Regierung noch nie an die Öffentlichkeit getragen. Stattdessen erweckt sie den Eindruck, immer alles zu wollen. Das wurde ihr am Montag auf RTL sogar von der Präsidentin der nationalen Ethikkommission vorgeworfen: Julie-Suzanne Bausch hält die Diskussion um die Impfung fünf- bis elfjähriger Kinder für ein „Ablenkungsmanöver“, um die Frage zu umgehen, wie man die noch ungeimpften Erwachsenen erreicht.
Letzteres klappt bislang trotz Impfwoche und Pop-Ups noch nicht mit durchschlagendem Erfolg. Vergangene Woche hatten 81,2 Prozent der ab 18-Jährigen ihre erste Impfdosis erhalten, diese Woche 81,4 Prozent. Auch die „Boosterung“ scheint zu stagnieren: Hatte zwischen der vorletzten und der vergangenen Woche der Anteil der Erwachsenen mit dritter Dosis von 18 Prozent auf 23,3 Prozent zugenommen, erhöhte er sich diese Woche nur auf 23,9 Prozent.
Bei den über 60-Jährigen ist das ähnlich: Der Zuwachs belief sich nur auf 0,9 Prozentpunkte; damit haben 55,4 Prozent der Älteren eine dritte Dosis. In den Wochen zuvor war der Anstieg zehn Mal so stark gewesen. Falls es dabei bleibt, und immerhin ist bald Weihnachten, wäre das alarmierend. Da bei den Älteren die ersten beiden Dosen in der Zeit besonders lange zurückliegen, hätte diese Bevölkerungsgruppe den „Booster“ besonders nötig. Stattdessen verkürzte der Regierungsrat am Mittwoch für sämtliche Impfberechtigten die Frist, die von der zweiten bis zur dritten Impfung verstreichen muss, von sechs auf fünf Monate und stellte ab 3. Januar eine Verkürzung auf vier Monate in Aussicht. Was eine gute Idee sein mag, sofern die Impfstofflieferungen ausreichend hoch sind, doch eben das ist derzeit nicht so sicher.
Wäre es anders und genug Vakzin in Aussicht, könnte die Regierung auch eine Covid-Impfpflicht für Erwachsene erwägen. Sie hätte den Vorteil, egalitär zu sein und für alle zu gelten, statt Impfunwillige mit dem Freizeit-2G in einen Teil-Lockdown zu sperren und sie ab Januar für jeden Schnelltest, der dann nur noch 24 Stunden Gültigkeit hat, täglich zur Kasse bitten zu lassen. So gesehen, ist es nicht einmal ausgemacht, ob die Krawalle auf der Straße bei einer Impfpflicht zunähmen, sondern Ruhe einzöge, weil die Verhältnisse klar würden. Stattdessen ist sehr gut vorstellbar, dass sich die Antivaxx-Bewegung wegen 2G/3G noch mehr im Krieg gegen „die da oben“ wähnen wird.
Doch noch immer hat die Regierung es nicht einmal vermocht, eine Impfpflicht für das Personal von Spitälern und Alteneinrichtungen einzuführen sowie für die Mitarbeiter/innen dort tätiger Subunternehmen. Wie dringend nötig das wäre, demonstriert, dass der erste Omikron-Fall hierzulande Anfang der Woche ausgerechnet an einer Reinigungskraft festgestellt wurde, deren Firma „in den letzten Tagen in einem Altersheim im Süden des Landes gearbeitet hat“, wie der Direktor des Gesundheitsamts, Jean-Claude Schmit, am Montag auf einer Pressekonferenz mit der Ministerin erklärte. Er fügte hinzu, die junge Frau habe „relativ viele Symptome“.
Und nach wie vor besteht nicht einmal eine Auskunftspflicht, wer vom Personal und von Drittfirmen in Kliniken und Heimen geimpft ist. Kenner der Verhältnisse sagen, das werde in der Praxis so aufgefasst, dass nicht mal die Nachfrage erlaubt sei – der die Mitarbeiter/innen natürlich entgegnen könnten, „das sag ich nicht“, aber sie würden auch kaum gefragt.
So dass sogar eine sektorielle Impfpflicht dazu beitragen würde, Vulnerable zu schützen. Womöglich ist ihre Einführung nur eine Frage der Zeit, und hängt vom Vorbild Ausland ab. In der Zwischenzeit vermeidet die Regierung jeden Anschein, sich bei großen Bevölkerungsteilen unbeliebt machen zu wollen, und setzt lieber darauf, dass die Impfunwilligen sich mit der Faust in der Tasche irgendwann doch ihre Injektion holen. Wobei hinzuzufügen wäre, dass das Gesundheitsministerium sich selber die Möglichkeit nimmt, die Bedeutung der Impfung zusätzlich hervorzuheben: Die Inzidenz der Covid-Neuinfektionen gibt es in seinem Wochenbericht zwar für Geimpfte und Ungeimpfte getrennt an, aber jeweils auf die 100 000 Einwohner der Gesamtbevölkerung bezogen. Bezöge sie das auf jeweils 100 000 Geimpfte und Ungeimpfte, wäre das nicht nur korrekter, sondern die Inzidenz wäre bei den Ungeimpften wesentlich höher als jene, die seit Wochen im Bericht steht. Nicht auszuschließen, dass das die Impfbereitschaft steigern könnte.