In dem rabiaten sozialen Wandel durch die Globalisierung, der durch die Krise der EU noch verschärft wird, könnte die junge Generation zur Verlierergeneration werden, sagt der Soziologe Louis Chauvel, der an der Uni Luxemburg dazu forscht

"Die Fakten verstehen"

d'Lëtzebuerger Land du 12.10.2012

Louis Chauvels Forschungsinteresse gilt sozialen Ungleichheiten, Klassenbildungen und sozialen Bewegungen. Ehe er im Juli dieses Jahres für fünf Jahre an die Universität Luxemburg wechselte, hatte er eine Professur für Soziologie am Sciences Po, dem renommierten Pariser Institut d’Études Politiques, inne. Dotiert mit einem Pearl Grant des Nationalen Forschungsfonds FNR werden Chauvel sowie ein Ökonomie-Professor, der gegenwärtig rekrutiert wird, an der Universität eine Forschungsgruppe für soziale Ungleichheiten aufbauen. Die Uni hofft, daraus mit der Zeit ein internationales Referenzzentrum machen zu können.

d’Land: Monsieur Chauvel, in Frankreich hat die regierende Mehrheit gewechselt. Im Wahlkampf waren für François Hollande und die Sozialisten nicht zuletzt die bestehenden sozialen Ungleichheiten ein großes Thema gewesen. Also könnte man meinen, dass es  darum interessante Entwicklungen und Auseinandersetzungen geben wird. Warum haben Sie ausgerechnet in einer solchen Zeit Sciences Po Richtung Luxemburg verlassen?

Louis Chauvel: Mit einem Timing je nach der politischen Konjunktur hat das wenig zu tun. Ausschlaggebender war, was ich in den nächsten Jahren tun möchte und was mir von einem allgemeineren Standpunkt her nützlich erscheint. Die politische Konjunktur hat sich in Frankreich oft geändert. Es gab eine Zeit, da war ich politisch ausreichend engagiert, um ein Interesse zu haben, in einem Land zu bleiben, in dem etwas Neues geschah. Ich gebe zu, verglichen mit dieser schon etwas länger zurückliegenden Zeit realistischer geworden zu sein Ich meine auch, dass gerade in einer schwierigen Periode wie der gegenwärtigen eine politische Macht gleich welcher Farbe wenig Aussichten hat, unmittelbar etwas an den Verhältnissen zu ändern. Gleichzeitig denke ich, dass das kaum davon abhängt, ob ich in Frankreich anwesend bin oder nicht.

Aber warum gerade Luxemburg?

Weil es eines der offensten und vielfältigsten Länder Europas ist. Frankreich ist ein sehr interessantes Land. Letzten Endes aber ist es sehr eng. In Paris denkt man als Intellektueller zu 95 Prozent französisch. Sogar bei Sciences Po, was ein sehr internationaler Ort ist, denkt man vor allem französisch – für eine französische Presse zum Beispiel. Luxemburg dagegen bildet gewissermaßen die internationale Erfahrung Europas ab, und als Finanzzentrum auch ein wenig die des Rests der Welt. Für einen Sozialwissenschaftler ist das ein außerordentlicher Reichtum.

Das Forschungsprojekt, das Sie in den nächsten fünf Jahren an der Universität Luxemburg realisieren werden, befasst sich, wie in der Beschreibung des Nationalen Forschungsfonds FNR steht, mit „sozialen Ungleichheiten im nationalen, europäischen und internationalen Kontext“. Das ist so umfangreich, dass es wiederum etwas vage klingt.

Dass dieser Eindruck aufkommen kann, leuchtet mir ein. Aber das Projekt ist nach dem Matrjoschka-Prinzip aufgebaut; wie die russischen Holzpüppchen, die man ineinander steckt. Wir betrachten Luxemburg einerseits für sich, andererseits als Bestandteil der Großregion. Wir betrachten es drittens in seiner unmittelbaren Nachbarschaft zu Frankreich, Deutschland und Belgien als Staaten, überlagert schließlich von der EU, und auf der obersten Ebene von Globalisierungsprozessen.

Was genau interessiert Sie dabei? Es gibt ja viele Formen von Ungleichheiten, und man kann sie an Einzelpersonen betrachten, an Generationen, an Klassen ...

Wir werden ein wenig alles betrachten müssen. Denn es geht tatsächlich darum, die Transformationsprozesse in der modernen Welt besser zu verstehen. Luxemburg soll ein zentraler Beobachtungspunkt für das sein, was in Europa geschieht, aber auch darüber hinaus, so dass man soziale und ökonomische Veränderungen die hier stattfinden, auch auf das zurückführen kann, was zum Beispiel in China, den USA oder in den Staaten am Persischen Golf geschieht. Ein ganz besonderes Interesse gilt dabei allerdings dem, was sich zwischen den Generationen abspielt.

Es geht also um die Haltbarkeit des so genannten Generationenvertrags vor dem Hintergrund zunehmender globaler Konkurrenz, der Euro-Krise, der Spannungen innerhalb der EU?

Die Frage ist letzten Endes: Was hält eine Gesellschaft stabil? Natürlich lebt jede Gesellschaft von und mit ihrer Entwicklungsdynamik. Aber die sozialen Systeme wandeln sich stark, und vor allem die Generationen sind Detektoren für profunde Umwälzungen. Wir werden unsere Analyse von Ungleichheiten darauf konzentrieren, wie jede Generation jeweils zu jungen Erwachsenen wird und Zugang zum Arbeitsleben erlangt.

In Beiträgen in der französischen Presse zum Thema haben Sie oft erklärt, die Jugend werde „geopfert“.

Frankreich ist seit 30 bis 40 Jahren geradezu von einer Tradition der Massenarbeitslosigkeit geprägt, die sich vor allem auf die jungen Generationen konzentriert. Sobald man die Grenze Richtung Hagondange oder Mont Saint-Martin überquert, kann man kaum übersehen, dass für viele junge Menschen in diesen post-industriellen Zonen der Begriff „Beschäftigung“ quasi nicht existiert. Man kommt schnell in Viertel, in denen die Arbeitslosenrate der unter 25-Jährigen mitunter größer ist als 50 Prozent.

Wie konnte es dazu kommen?

Frankreich steht in der Tradition des kontinentaleuropäischen Sozialmodells. Darin geht es darum, so früh wie möglich ins Erwachsenenleben einzutreten und einen beruflichen Status zu erlangen, der einen für den Rest seiner Laufbahn und bis zur Pensionierung begleitet. Im Unterschied zu Deutschland, das in derselben Tradition steht, hat man es in Frankreich nicht verstanden, der Deindustrialisierung etwas entgegenzusetzen, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren stattgefunden hat. Es wurden Bergwerke und Hochöfen geschlossen, Schwerindustrie abgebaut, aber es gab keinen Ersatz dafür.

Ein weiterer Unterschied zu Deutschland besteht darin, dass man sich dort eine Idee von Vollbeschäftigung als Zielmarke bewahrt hat und mit einem besser organisierten System von Berufsausbildung für Qualifizierung sorgt. In Luxemburg übrigens auch.

Andererseits führt in Deutschland der Weg in eine Art „Vollbeschäftigung“ nicht selten in Mini-Jobs, in denen es wenig zu verdienen gibt.

Das stimmt und ich halte das für katastrophal. Aber der Ansatz ist trotzdem der, der jungen Generation einen Zugang ins Arbeitsleben zu gewähren. Damit berücksichtigt man den integrierenden Charakter von Arbeit. In Frankreich hat die Arbeiterklasse, um es kurz zu sagen, das Spiel verloren und ein massiver Teil ihrer Kinder schafft nicht die Integration in eine Arbeit, auf die man stolz sein kann, die stabil ist und einigermaßen vernünftig bezahlt. Schlimm ist, dass dann nicht nur „Beschäftigung“ als Begriff womöglich keine Rolle mehr spielt, sondern dass diese jungen Menschen die Erfahrung machen, dass die Ideen von Bürger-Sein, von Emanzipation und Selbstverwirklichung sich offenbar nur für eine Minderheit ihrer Altersgenossen verwirklichen lassen. Dann können diese Zustände auch politisch destabilisierend werden.

Dass es so weit kommen konnte, hat aber auch politische Gründe.

Eine große Frage war und ist: Soll es hinnehmbar sein, dass junge Menschen keinen Zugang zum Arbeitsleben erhalten, wenn dafür ältere Teile der Bevölkerung nicht arbeitslos werden? Es war ein großer Fehler der Linken in Südeuropa, in Spanien, Italien und Griechenland, diese Frage mit Ja beantwortet zu haben, weil man glaubte, die jungen Leute blieben nur vorübergehend ohne Arbeit und in der Zwischenzeit würden die Eltern ihre Kinder mitversorgen. Darin spiegelt sich fundamental das Sozialmodell der Mittelmeerstaaten wider, in dessen Richtung man auch in Frankreich gegangen ist. Das Gegenbeispiel sind die nordeuropäischen Länder, Schweden oder Dänemark. Dort hat man die Arbeit schon immer als einen Faktor gesehen, der die Gesellschaft langfristig stabilisiert, worauf es ja ankommt, und auf eine Integration der gesamten Bevölkerung in die Arbeitswelt Wert gelegt.

Dann existiert der berühmte „Dritte Weg“ Schwedens noch und wäre ein nachahmenswertes Beispiel?

Wir kennen in der europäischen Sozialforschung das angelsächsische Modell, in dem das Individuum sich vom Markt nimmt, was es bekommen kann. Wir kennen das kontinentaleuropäische Modell und drittens das der Mittelmeerstaaten. In Nordeuropa wiederum findet man ein verhandeltes, stark sozial kontrolliertes Modell. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es sich auf Frankreich, Deutschland oder auch Luxemburg übertragen ließe.

Warum?

Weil es eine ganz eigene Anthropologie hat, die gut 300 Jahre alt ist. Es steht sehr stark in einer lutheranischen Tradition von Arbeitsethos und enthält, wie gesagt, eine starke soziale Kontrolle durch die Arbeitskollegen, die Nachbarn und so weiter. In Frankreich und Deutschland ist die Tradition weitaus individualistischer. Und so wenig ich glaube, dass in Kontinentaleuropa das angelsächsische Modell gewollt wäre und man bereit wäre, zum Beispiel auf eine Gesundheitsversorgung zu verzichten, deren Leistungen verhandelt sind und die stark öffentlich finanziert ist, so wenig denke ich, dass man zum Beispiel bereit wäre, auf schnelle Autos zu verzichten, wie etwa die Schweden das tun.

Wie lassen sich solche Entwicklungen – um auf Ihr Forschungsvorhaben zurückzukommen – untersuchen, indem man Luxemburg sozusagen als Projektionsfläche nimmt?

Spannend ist, dass Luxemburg sich zwischen zwei so gegensätzlichen Entwicklungstendenzen wie der in Deutschland und der in Frankreich befindet, aber wiederum anders ist. Luxemburg ist wie der San-Andreas-Graben zwischen zwei tektonischen Platten, um eine Analogie aus der Erdbebenforschung zu gebrauchen. Das wird uns interessante Einsichten liefern. Wir nutzen aber – ich erinnere an das Bild von den Matrjoschkas – selbstverständlich nicht nur Daten über Luxemburg. Wir werden stark auf die Luxembourg Income Study zurückgreifen, die vor rund 30 Jahren eingerichtet wurde. Das ist eine riesige Forschungs-Datenbank, die Sozialdaten aus der ganzen Welt umfasst. Ich meine, in der Luxemburger Öffentlichkeit ist gar nicht so bekannt, was für ein Schatz in Cents lagert, wo die Server der Datenbank stehen. Sie ist weltweit einzigartig.

Wie werden Sie die Daten, aus Luxemburg und der ganzen Welt, zusammenbringen?

Wir verfolgen mit unserem Projekt ein paar Aspekte, die ganz konkret, aber auch ziemlich technisch sind. Wir wollen zum Beispiel die Stabilität zwischen den Generationen, von der wir annehmen, dass sie überragend wichtig ist für die Stabilität einer gesamten Gesellschaft, mit einer neuen statistischen Methode untersuchen. Dazu produzieren wir Analysemodelle, die denen der Epidemiologie nicht unähnlich sind, und so genannte Scaring effects ermitteln. Das sind Ereignisse, die Narben hinterlassen haben, und eine Frage lautet: Wann entwickeln junge Menschen eine Widerständigkeit gegenüber traumatisierenden Effekten, wie etwa einer Krise oder Massenarbeitslosigkeit, und holen wieder auf? Und wann tritt stattdessen ein Scaring effect ein, der für das ganze Leben weiterwirkt? Und der dann womöglich weitergegeben wird von Generation zu Generation, was schlimmstenfalls zu sozialen Ghettos führt.

Ein zweiter Aspekt ist eine vergleichende Analyse dessen, was in verschiedenen Ländern passiert. Wir sprechen da von „Architekturen der Ungleichheit“. Dabei geht es darum, ein ganzes Ensemble von Ungleichheiten zu verstehen, die in jedem Land einen anderen Cocktail produzieren. Der Cocktail français besteht zum Teil im Ausschluss eines großen Teils der Bevölkerung von der Arbeit. Frankreich hat keine Ghettos wie etwa Detroit, jedenfalls noch nicht, aber es gibt Zonen, aus denen die Arbeit komplett verschwunden ist, und Zonen, die ausschließlich durch soziale Umverteilung alimentiert werden. Das ist eine gefährliche Situation, denn zu einem bestimmten Moment könnte politisch entschieden werden: „Das reicht jetzt!“, und diese abhängigen Zonen können von einem Tag zum anderen alles verlieren. Ein großer Teil der französischen Bevölkerung ist von einem solchen Entzug potenziell bedroht.

Was in den nächsten Jahren geleistet werden soll, ist aber eine Team-Arbeit, die über die Universität Luxemburg hinausreicht. Die Kollegen vom LIS, die die Luxembourg Income Study betreuen, andere Luxemburger Forschungseinrichtungen sowie die Generalinspektion der Sozialversicherung werden an den Forschungsarbeiten mitwirken. Dadurch wird Luxemburg zu einem Beobachtungsposten, wenn Sie so wollen: zu einem Krähennest zur Beobachtung des sozialen Wandels in Europa.

Wie sehen Sie die Situation in Luxemburg selbst? Man könnte sagen, Luxemburg sei ein spezieller Fall, denn auch nach dem Ende der Trente glorieuses Mitte der Siebzigerjahre verstand man es hier, für relativ hohes Wirtschaftswachstum zu sorgen. Andererseits ist der Anteil der nach Sozialtransfers noch immer von Armut Bedrohten hierzulande laut Statistik größer als in Frankreich. Die Arbeitslosenquote der unter 25-Jährigen lag im Sommer bei 13,7 Prozent, die der unter 22-Jährigen sogar bei 17 Prozent.

Die Armut in Frankreich ist trotzdem nicht mit der in Luxemburg zu vergleichen. Wer hierzulande arm ist, kann auf Leistungen zurückgreifen, die allen zur Verfügung stehen, etwa im Gesundheitswesen. Die kommen auch Luxemburger Landwirten zugute, die in tiefen wirtschaftlichen Schwierigkeiten stecken, wie der sehr vielfältigen Bevölkerung von Bonneweg. Die extreme Armut in Luxemburg hat absolut nicht dieselbe Kontur wie die in Frankreich – im Moment.

Aber die Herausforderung, die junge Generation in Arbeit zu bringen, stellt sich hier wie überall in Europa, und es gibt Risiken, dass auch Luxemburg sich in eine gefährliche Richtung entwickeln könnte. Ein beunruhigendes Risiko ist zweifellos die Deindustrialisierung. Aber Luxemburg hat Entwicklungsspielräume, denke ich. Seine enorme Bevölkerungsvielfalt ist zugleich eine außerordentliche Ressource. Europa realisiert sich hier; Luxemburg ist vielleicht die europäischste Nation der EU, und alles was man European business nennen könnte, hätte eigentlich gute Gründe, sich gerade hier zu entwickeln. Das ist ein Aspekt, der, glaube ich, von vielen politischen Akteuren, der Linken wie der Rechten, noch vernachlässigt wird.

Sie haben die Deindustrialisierung erwähnt. Ist nicht eine Grundfrage auch die, welche Wirtschaft, welche Branchen man hier und in ganz Europa entwickeln will und wie in sie investiert werden soll? Es scheint ja so zu sein, dass die EU insgesamt als Ort für Investitionen an Bedeutung verliert – verglichen zum Beispiel mit China, aber vielleicht auch den USA?

Ja, das ist eine der großen Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Sie führt auch zurück auf Ungleichheiten: Eine Gefahr ist die, dass Ungleichheiten, die heute noch vor allem auf der Einkommensseite bestehen, sich radikalisieren, indem daraus Vermögens-Ungleichheiten werden und eine Klasse von Rentiers besteht, die ihr Vermögen vielleicht an ihre Kinder weitergeben, es aber nicht für die wirtschaftliche Weiterentwicklung ihres Landes einsetzen. Dieser Prozess ist schon im Gange, und die Vermögensflüsse so zu reorganisieren, dass daraus produktive Investitionen werden, ist absolut zentral.

Meinen Sie als Soziologe, dass angesichts solcher Probleme ein ganz besonderer Bedarf an Soziologie entsteht? In den USA hat sich ja eine Public sociology entwickelt, deren Vertreter den Kontakt mit der Öffentlichkeit suchen und gesellschaftliche Prozesse sozusagen für den Bürger analysieren.

Einen Aufklärungsbedarf gibt es schon. Denn es gibt Repräsentationsprobleme: Bestimmte soziale Zustände scheinen anders zu sein, als sie wirklich sind. Aber für diese öffentliche Soziologie besteht die Gefahr der Parteinahme, dass man beginnt, als Wissenschaftler Advokat für eine bestimmte Seite zu werden und letzten Endes politisch oder ideologisch argumentiert. Unter den Soziologen gibt es so manche Utopisten. Ich meine, ehe wir an Utopien arbeiten können, müssen wir die sozialen Fakten verstehen. Meine Priorität lautet, eine Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden, die vor allem auf die Jugend konzentriert ist. Mich interessiert mehr, durch Fakten zur Debatte beizutragen, als Richtungen vorzugeben.

Peter Feist
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