An die Erderwärmung haben wir uns gewöhnt, dem Schwinden der Artenvielfalt und dem Untergang von Inseln schauen wir weitgehend teilnahmslos zu. Die damit verbundenen Bilder lösen so wie die Aufnahmen überfüllter Boote kaum mehr etwas aus. Dabei sind wir der Kahn, der absäuft, weiß Calle Fuhr. Seinem Klima-Alphabet hat er Fragen vorangestellt: Wie von der Klimakrise erzählen? Wie ihre schwer zu bebildernde Drastik in Worten und Szenen einfangen?
Vor zwei Jahren schrieb Elizabeth Kolbert, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Wissenschaftsjournalistin für den New Yorker, einen Essay, der für diesen Abend Pate steht: „Climate Change From A to Z“. In 26 Begriffen spannt sie einen großen Bogen und führt all die Geschichten auf, die wir uns über die Zukunft dieses Planeten erzählen.
Calle Fuhr setzt dem Klimakrisen-Alphabet von Kolbert nun sein eigens für das Kasemattentheater Geschriebenes entgegen und betitelt es im Faltblatt zum Stück mit „Hyperobjekt im Schweinsgalopp“. Fuhr nutzt hier den vom Philosoph Timothy Morton geprägten Begriff des hyper object – er beschreibt Phänomene, die so stark Raum und Zeit durchdringen, dass sie das Fassungsvermögen übersteigen.
In 26 Situationen und Szenen springend ist ein Panorama über die Gegenwart der Klimakrise entstanden – „Theaterminiaturen über eine sich erwärmende Welt“. Tatsächlich saust das Ensemble bestehend aus Alexander Wanat, Eugénie Anselin, Laura Talenti und Pitt Simon durch das Klima-Alphabet.
Die Anfangsszene setzt direkt auf Emotionalisierung: In A wie Ahrtal telefonieren Renate und Christian miteinander nach einem weihnachtlichen Streit. Christian ist besorgt wegen der Überschwemmungen im Juli 2023. Die Überflutungen des Ahrtals kosteten damals 135 Menschen das Leben, 17 000 Menschen verloren ihr Zuhause. Renate und ihrem Partner ist nichts passiert, aber sie berichtet von Senior/innen, denen das Haus weggeschwommen ist und von Leichen.
Laura Talenti, die seit 2019 Schauspiel an der Ernst-Busch-Schule studiert, ist ein neues Gesicht auf der kleinen Bühne in Bonneweg. Ob als Renate oder Politikerin der Lega Nord überzeugt sie durch eine starke Bühnenpräsenz.
In B – wie Bergführer Saul – geht es um den Rechtsstreit eines peruanischen Kleinbauern aus den Anden gegen den Großkonzern RWE. Der Pegel des Gletschersees Placacocha sei durch die beschleunigte Schmelze rasant gestiegen. „Im vorliegenden Rechtsstreit Saul Luciano Lliuya gegen RWE fordert der Kläger: Der Energiekonzern RWE soll sich finanziell an den erforderlichen Schutzmaßnahmen beteiligen“, erklärt Eugénie Anselin bestimmt als adrette Anwältin. Der Anteil von RWE am menschengemachten Klimawandel betrage rund 0,5 Prozent. Diesen Anteil der Kosten, die auf den Kläger zukommen, solle RWE deshalb übernehmen.
Das Ensemble mimt satirisch Situationen, die mitunter in Ironie und bisweilen in Sarkasmus ausarten, über die Erfindung des CO2-Fußabdrucks, über klimaleugnerische Lobbyverbände, bis hin zu (vermeintlichen) Lösungen, die seit Jahren auf dem Tisch liegen.
So trommelt bei C wie CO2 die Chefin einer Werbeagentur ihre Mannschaft zusammen, um das Image von RWE aufzupolieren. Ein Pitch muss in Windeseile her, und zwar innerhalb von fünf Minuten!
Ein rechtschaffener Mitarbeiter schlägt vor, der Klient könne in erneuerbare Energien investieren, verwirft diesen Weg jedoch rasch und setzt auf D – wie Dekarbonisierung. „Unser Klient pumpt nicht nur Kohlendioxid in die Luft, er holt es auch wieder heraus. Kreislaufwirtschaft quasi. Wir erschaffen unseren eigenen Markt, indem wir CO2 hineingeben und dann holen wir es wieder heraus.“ Die Forderung nach einem CO2-Staubsauger sorgt für Gelächter im Publikum.
Doch ernsthafte Lösungen sind gar nicht erwünscht. „Wir müssen unsere Gesellschaft nicht vor dem Kollaps bewahren. Wir müssen dafür sorgen, dass es nicht mehr so scheint, als sei unser Klient verantwortlich“, schärft die Chefin ihrem Team ein. Und weiter geht es von E – wie Exxon über F wie Fossile Lobby hin zu G wie Greenwashing. Der Song Im Zweifel für den Zweifel von Tocotronic führt über in den nächsten Akt.
Beim Buchstaben H wie Hoffnung mimen die Schauspieler/innen eine Szene vom 21. Weltklimakongress in Paris. Der Klimagipfel und sein Abkommen markierten einen historischen Wendepunkt, hieß es seitens der politischen Verantwortungsträger: Man schreibe damit Geschichte, verkündete François Hollande staatstragend.
Doch schon im nächsten Kapitel I wie Ignoranz hört man Stimmen aus dem Europäischen Parlament, von Vertreter/innen der Lega Nord oder Sylvia Limmer (AFD), die den Klimawandel herunterspielen und den Green New Deal ablehnen.
Im dritten Akt wird im Kapitel M wie Medien eine Redaktionssitzung nachgespielt. Da sitzen vier überforderte Journalist/innen um einen Tisch, es wird geraucht und über Schlagzeilen gebrütet. Sie durchforsten Zeitungen und verlesen die reißerischen Titel: „Eisbären. Die Lebensgrundlage schmilzt“ oder „Doch noch Hoffnung für die Eisbären?“. Bis Journalist David feststellt: „Überlegt mal, wann gab es eine Klimaschlagzeile, die einen tatsächlich noch getroffen hat. Also so Al Gore-mäßig?“
Ein befremdendes Gurgeln aus dem Off lässt die Zuschauer/innen aufhorchen: „Wir hören gerade einen Ausläufer des isländischen Gletschers!“ Vielleicht klingt die Klimakrise ja so?
Zum Piepen schließlich in Q – wie Quereinsteiger – die Szene, in der invasive Arten vorkommen. Pitt Simon tritt als gigantische Süßwasserqualle, Eugénie Anselin als Borkenkäfer und Laura Talenti als Tigermücke auf. „Macht, was ihr wollt. Erfindet neue Pestizide“, wirft die Tigermücke irgendwann resigniert in den Raum.
Unter V wie Visual Utopias wird ein Werbespot vom Mouvement Écoloqique eingespielt: die Verwandlung und Begrünung eines Platzes in Esch/Alzette, stylisch entworfen durch eine Werbeagentur.
Satirischer Höhepunkt ist schließlich unter X wie Xenophobie eine Szene, in der Giorgia Meloni Asyl in Luxemburg ersucht, man ihr ihr eigenes fremdenfeindliches Gequatsche spiegelt und sie auf der Behörde abblitzen lässt: „Tut mir Leid, Fräulein Melone, wir haben keinen Platz für Sie!“
Die 26 Theaterminiaturen sind kreativ geschrieben, unterhaltsam und szenisch gut gespielt. Furios saust das Ensemble durch das Klima-ABC und reflektiert ironisch die zum Teil abgedroschenen Diskurse der Klima-Idealist/innen wie ihrer Gegner/innen und spart dabei kaum ein Klischee aus. Das ist amüsant und doch streckenweise etwas wohlfeil, bedient es doch ein rot-grünes Publikum in seinem Behagen: Im kollektiven Unrechtsempfinden über den Klimawandel kann man sich moralisch überlegen fühlen und dabei noch beherzt lachen.