Die kleine Zeitzeugin

Sind wir Andere geworden?

d'Lëtzebuerger Land du 21.10.2022

In der ersten Corona-Euphorie, als wir Aufblühendes anstarrten wie ein Weltwunder, was es ja ist, in einem magisch stillstehenden Frühling, und selbst die Schwerhörigsten sich umzwitschert wähnten, beschlich uns so eine tollkühne Hoffnung. Das Heraufdämmern einer Utopie. Utopien waren den meisten von uns gründlich vergangen. Hatten mit Extremjugend zu tun, längst in einem Hirnhinterstübchen eingemottet. Und jetzt, als wir durch von der Sonne geflutete, von Menschen befreite Straßen wandelten, blitzte sie auf. Es könnte so schön sein! Wenn nur wir nicht.

Aber wir könnten uns ändern. Wann, wenn nicht jetzt? Now or never. Reumütig versanken wir in der Betrachtung der Schöpfung, die uns unschuldig erschien. Ein von Delphinen umspieltes Venedig, ein unversehrter Himmel, von reinstem Himmelblau. Was hatten wir nur aufgeführt, mit dem Stress und der pervertierten Lebensgier, was hatten wir dem Leben angetan! Buße war nicht mehr in, gab auch kein geschmeidiges englisches wording dafür. Dann eben Detox. Wir flugschämten uns und flugbeschämten die Klimakiller*innen, schmückten uns mit den zurückgelegten Meilen in durch Europa holpernden Zügen, Deutsche-Bahn-Reisende erhielten Märtyrer*innenstatus. Alles außerhalb von Europa war verpönt, am schönsten war es im Blumentopf auf dem Fensterbrett.

Das Schönste hält man meist nicht durch. Und diese schräge Zeit der Verzückung, in der wir uns gratis selber fanden, bis wir vor uns davongelaufen wären, hätten wir nur können, war irgendwann seltsamerweise vorbei. Nur kurz vielleicht, nur kurz. Wer weiß. Wer weiß überhaupt noch was. Wo alles umgewertet wird, nicht nur Gehirne und Geld gewaschen werden, sondern auch Atom, strahlend grün sogar. Der Himmel ist wieder gestreift, die Welt wird wieder zum Sonderangebot, man muss schnell zugreifen. Für die, auf deren Konten noch Geld wächst, die andern horten Zwieback. Blackout, wispern sie sich zu und starren auf die Grenzen.

Naja, Mensch ist halt zäh, Verdrängung sein Überlebensrezept, Hauptsache wir düsen wieder über die Erdoberfläche und sind wieder oberflächlich und geben uns wieder Kussien, nicht nur dicke über FB.

Oder? Obschon der Motor wieder voll aufgeheult hat, sind viele von uns noch im Standby. Noch nicht ganz da. Dabei. Unter Leuten. Oder Menschen. All den Unvollkommenen. Noch in Zag-Haft. Zu lang in Einzelhaft. Wir fremdeln noch. Wir hatten uns mit uns abgefunden, nach all dem Finden. Man hatte sich gewöhnt. An sich. An die paar Unvermeidlichen. So eine Coronaretraite-Nostalgie schwelt, wie eine DDR-Nostalgie. Als das Leben noch hart, aber einfach war. Die Luft war rein. Im Krieg hielten alle zusammen. Die Familie buk zusammen Brot, jetzt sitzt sie bei McDonalds.

Der Anderen ist man entwöhnt. Es wird rasch zu viel. So analog. Es sind rasch zu viele. Wozu braucht man das eigentlich? Die? Die unhygienischen Begrüßungen.

Wir haben es verlernt. Wie es geht. Mit den Menschen. Mit den andern, das ganze Komplizierte. Aber auch das Luftige, Lustige. Das dahin Gesagte, schon ist es dahin. Warum also noch den Mund öffnen? Für eine Luftblase, ephemer wie ein Facebook-Posting? Das dahin plätschernde Geplauder hat niemand existenziell gefehlt. Er ist einfach versiegt, so ein Redefluss.

Bloß nicht zu weit gehen, sonst tritt man zu nah. Keine unpassenden Bemerkungen, eine könnte sich unwohl fühlen, schon ist ein Trauma getriggert. All unsere Traumata ticken vor sich hin wie Zeitbomben. Am besten man bleibt unter sich. Also mit sich. Sicher ist sicher.

My home is my office. Mein Safe, mein Safe Space. In der Einzelbox hat man alles, was man verbraucht. Kleider, Essen, Sex, man kann alles bestellen. Der Psy machts telefonisch. Andere stressen doch nur. Nerven. Alle sind so komisch geworden. Narzistisch. Toxisch. Beides, noch viel mehr. Die Psycho-Regale der Buchhandlungen, die Ratgeberspalten in bunten Zeitschriften sind voll von Warnungen vor Typen, von denen man sich schleunigst abgrenzen sollte. Besonders wenn man hochsensibel ist. Wir sind jetzt alle hochsensibel..

Michèle Thoma
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