Pirat Sven Clement hat nicht nur mehr Informationszugang für die Abgeordneten erstritten. Sondern auch eine Aufwertung der Opposition und vielleicht den Einstieg in „Organklagen“

Rechtsstaat Ahoi!

Sven Clement (rechts) mit Marc Goergen
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 12.02.2021

Sven Clement mag es dieser Tage, wenn man ihn einen Helden nennt. Von sich selber sagt der Abgeordnete der Piratenpartei, „ich bin der Held für Transparenz“. Das ist keine Übertreibung: Vor zwei Wochen annullierte der Verwaltungsgerichtshof nicht nur die Entscheidung von Premier und Medienminister Xavier Bettel (DP), der Clement die Einsichtnahme in den Konzessionsvertrag zwischen dem Staat und der RTL Group verweigert hatte, weil der vertraulich sei. Die Richter gingen noch viel weiter. Sie interpretierten die Verfassung und fanden, dass die Abgeordneten zur Kontrolle der Regierung über Informationen verfügen müssten. Und seien es Passagen in einem vertraulichen Vertrag: Sven Clement hatte wissen wollen, ob nach den vom RTL-Konzern 2017 beschlossenen Verlagerungen von Aktivitäten aus Luxemburg nach Deutschland noch genug „Verankerung“ im Großherzogtum bestehe. Was eine wichtige Bedingung für die Vergabe der Konzession an RTL durch den Staat ist.

„Dieses Urteil ist eines der wichtigsten der letzten zehn Jahre“, findet Luc Heuschling, Professor für Verfassungsrecht an der Universität Luxemburg. Denn das Verwaltungsgericht in erster Instanz hatte sich als nicht zuständig für Clements Klage erklärt: Die Entscheidung des Medienministers sei ein „acte de gouvernement“, nichts Administratives, sondern etwas Politisches. Das gehe Verwaltungsrichter nichts an, andernfalls würden sie sich in die Beziehungen zwischen Exekutive und Legislative einmischen. Außerdem hätte Clement nicht alle Mittel ausgeschöpft, um eine demokratische Debatte über sein Anliegen auszulösen: Er hätte parlamentarische Anfragen stellen, hätte Xavier Bettel im Kammerplenum befragen oder versuchen können, eine Mehrheit für einen Entschließungsantrag des Parlaments an die Adresse der Regierung zu gewinnen. So, wie das im Kammerreglement vorgesehen ist, und wobei der Kammerpräsident darüber wacht, dass Abgeordnete nur Begehren stellen, die „recevabel“ sind. Schlössen Richter das kurz, sei die Demokratie in Gefahr.

Montesquieu Doch dies sei ein Rechtverständnis aus dem 19. Jahrhundert, erklärt Heuschling. „Es geht auf die Französische Revolution zurück. Montesquieu schrieb, die Gerichte hätten die Gesellschaft zu kontrollieren, aber nicht den Staat.“ Der moderne Rechtsstaat sei das Gegenteil davon: „Da ist immer ein Gericht zuständig, und auch die Politik ist Rechtsnormen unterworfen.“ Zwischen dem Urteil der ersten Instanz und dem der zweiten lägen „Welten“.

Was daraus folgen soll, darüber ist die politische Klasse sich noch längst nicht im Klaren. Die Cour administrative hat am 27. Januar jeden einzelnen Abgeordneten zum Staatsorgan erklärt, das unter anderem eine Kontrollmission gegenüber der Regierung habe. Dass das für die Mehrheitsabgeordneten schockierend war, sah man am Tag nach dem Urteil im Kammerplenum: Als der ADR-Abgeordnete Roy Reding einen vier Jahre alten Entschließungsantrag zur Abstimmung stellte, über den er 2017 den RTL-Vertrag hatte sehen wollen, hätte theoretisch die Möglichkeit bestanden, ihn einstimmig anzunehmen – da zuvor alle erklärt hatten, das Urteil der Verwaltungsrichter werte das Parlament auf. Doch zu einem solchen Affront gegenüber der Regierung wollten DP, LSAP und Grüne sich nicht aufraffen; schließlich gibt es ungeschriebene Regeln in einer Koalition.

Kopfzerbrechen Die Aufregung des Kammerabends vom 28. Januar hat sich mittlerweile gelegt. Geblieben ist ein „enormes Kopfzerbrechen“, sagt der LSAP-Abgeordnete Yves Cruchten. Etwa darüber, ob der Richterspruch, abgesehen vom RTL-Vertrag, auch für andere von der Regierung in der Vergangenheit abgeschlossene Dokumente gelten soll, oder nur für künftige. Theoretisch könnten nun viele Anfragen gestellt werden, auch nach Informationen, die nicht unbedingt vertraulich sind, weil sie einen Vertragspartner des Staates aus der Privatwirtschaft betreffen, sondern Interna der Regierung. Die CSV-Fraktion zum Beispiel hat kurz nach dem Richterspruch eine lange Liste aufgestellt, in der sie alles über den Grundstücksverkauf an den Molkereikonzern Fage wissen will. „Da ist noch so manches unklar“, sagt Fraktionspräsidentin Martine Hansen. Die angefragten Dokumente seien „keine Geheimdokumente, die kann man uns nicht verweigern“. Déi Lénk wiederum interessieren sich für Informationen, die als vertraulich gelten dürften: Der Abgeordnete Marc Baum nennt Memoranda of Understanding, die der frühere LSAP-Wirtschaftsminister Etienne Schneider zum Weltraumbergbau abgeschlossen hat.

Auch aus den Mehrheitsfraktionen sagt niemand, dass das Urteil der Verwaltungsrichter nicht zu begrüßen sei. „Es stärkt die Abgeordneten, sie haben nun das Recht, Dokumente einzusehen“, so Yves Cruchten stellvertretend für Fraktionspräsident Georges Engel, der im Verwaltungsrat von CLT-Ufa sitzt und sich lieber nicht in einem Zusammenhang äußern möchte, der das Unternehmen tangiert. „Déi Gréng sind für Transparenz, wir begrüßen dieses Urteil“, sagt die grüne Fraktionspräsidentin Josée Lorsché. Der DP-Abgeordnete Guy Arendt erklärt stellvertretend für Fraktionschef Gilles Baum (ebenfalls Mitglied im CLT-Ufa-Board): „Unsere Fraktion wird sich selbstverständlich an Anfragen nach Dokumenten beteiligen, und der Premier hat gesagt, er stelle sie zur Verfügung.“
Checks and Balances

Doch dass der Richterspruch die Frage nach den Checks and Balances im demokratischen System des Landes aufwerfe – das ist aus den Fraktionen der Regierungsmehrheit nicht zu vernehmen, nur aus der Opposition. Marc Baum beklagt, „zurzeit drückt die Mehrheit durch, was die Regierung ins Parlament einbringt, aber jetzt riskiert sie, in eine ganz neue Rolle zu geraten“. ADR-Gruppenpräsident Fernand Kartheiser erklärt, „die Checks and Balances sind in Luxemburg nicht richtig garantiert“, die Regierung sei generell zu stark gegenüber dem Parlament. Guy Arendt dagegen zählt auf, wie die Abgeordnetenkammer die Regierung kontrolliere. „Wir haben den Haushaltskontrollausschuss, der eine intensive Kontrolle ausübt. Es gibt den Rechnungshof, der dem Parlament untersteht. Hinzu kommt nun die Einsichtnahme in die Dokumente.“ Abgesehen davon, habe es für die DP-Fraktion bisher noch keinen Anlass gegeben, die Regierung kontrollieren zu wollen. Arendt betont, im Urteil der Verwaltungsrichter „geht es um die Übermittlung von Dokumenten“. Was sich anhört wie: nur darum.

Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Gestärkt hat das Urteil sämtliche Abgeordneten, strukturell jedoch vor allem die Opposition. „Hätten die Richter gesagt, die Kammer kontrolliere die Regierung, wäre das an die Mehrheit gefallen“, erläutert Verfassungsrechtler Heuschling. „Aber da sie jeden einzelnen Abgeordneten zum Staatsorgan mit Kontrollauftrag erklärt haben, müsste nun vor allem die Opposition in die Lage versetzt werden, die Regierung kontrollieren zu können, denn die Mehrheit ist Teil des Systems.“

„Ehre, wem Ehre gebührt!“ Was indirekt erklären mag, wieso es interessanterweise nicht die CSV war, die für die Einsichtnahme in den RTL-Vertrag gestritten hatte. Warum nicht, findet Martine Hansen „eine gute Frage“, äußert sich aber nicht weiter dazu, sondern lobt den Kollegen von den Piraten: „Wir sagen auf jeden Fall, dass er für die ganze Abgeordnetenkammer gut gearbeitet hat. Das war ein großer Sieg, Ehre wem Ehre gebührt!“ Zu vermuten steht aber, dass der CSV nicht ganz wohl ist angesichts des Richterspruchs. Einerseits, weil sie im Falle einer erneuten Regierungsbeteiligung mit einer gestärkten Opposition zu rechnen hätte. Zum anderen, weil sie nun als größte Oppositionsfraktion gezwungen ist, die Aufwertung der Abgeordneten besonders zu nutzen, ohne dabei jedoch den Eindruck zu erwecken, nicht mehr so staatstragend zu sein, wie sie seit Jahrzehnten aufgefasst werden möchte.

Noch ist die neue Rolle der Abgeordneten nicht in Regeln gefasst. Das müsste sie aber, denn was Abgeordnete tun dürfen und was nicht, steht im Kammerreglement; dort müsste auch einer strukturellen Stärkung der Opposition Rechnung getragen werden. Das Kammerbüro, das parteienübergreifend das Tagesgeschäft des Parlaments regelt, diskutiert zurzeit, wie die Einsichtnahme in die Dokumente erfolgen soll, nachdem vor einer Woche zunächst der parlamentarische Medienausschuss den RTL-Vertrag im Staatsministerium einsehen durfte und für solche Zwecke nun wahrscheinlich ein spezieller Lesesaal in der Kammer eingerichtet wird. Doch damit nicht genug: Als der CSV-Abgeordnete Laurent Mosar am Mittwoch im Parlament darauf bestand, die Regierung müsse künftig alle Verträge und Konventionen für die Abgeordneten einsehbar machen, erwiderte Premier Xavier Bettel, zunächst müsse die Kammer sich „Regeln geben“. Damit traf er einen wichtigen Punkt: Die Verwaltungsrichter nennen in ihrem Urteil die Abgeordneten als Staatsorgane „confidents nécessaires“ für die Regierung. Garantiert müsse sein, dass vertraulich bleibt, was vertraulich ist.

Immunität Wie dafür gesorgt werden kann, wenngleich Abgeordnete Immunität genießen, ist eine der großen Fragen. Guy Arendt von der DP kann sich „vorstellen, aber das ist meine persönliche Meinung, dass sich dazu in den Prozeduren etwas festlegen lässt“. Josée Lorsché von den Grünen ist sich da weniger sicher, weil im Mai 2019 ein Berufungsgericht die Immunität der Abgeordneten „sehr breit“ ausgelegt hat, als es dem damaligen ADR-Abgeordneten Gast Gybérien bescheinigte, er müsse seine Quellen nicht nennen, die ihm von einer illegalen Abhöraktion des Nachrichtendienstes erzählt hatten. „Dieses Urteil hat die Demokratie belebt“, meint Lorsché. Aber nun werfe es neue Fragen auf.

Vielleicht auch Konflikte zwischen Mehrheit und Opposition. Fernand Kartheiser hält die Immunität der Abgeordneten für „im Augenblick viel zu schwach, ein Abgeordneter muss frei sein in dem, was er sagt“. Die Vertraulichkeit sei dadurch aber nicht gefährdet, meint er. „Wer sie bräche, würde von den anderen Abgeordneten sanktioniert, von der Öffentlichkeit und von der Presse.“ Er könne sich nicht erinnern, dass es solch einen Bruch schon einmal gegeben hätte. Sven Clement wiederum warnt vor „schwierigen Situationen“, die sich ergeben könnten, wenn ein Abgeordneter der Opposition von Kammergremien sanktioniert würde, in denen die Mehrheit das Sagen hätte. „Dann wäre dieser Abgeordnete der Mehrheit ausgeliefert.“

Organklagen Vielleicht sind das Vorboten dafür, dass Abgeordnete in Zukunft öfter Klage vor Gericht erheben. Oder dass Streits zwischen Staatsorganen dort entschieden werden müssten. Vor Sven Clement hat in Luxemburg noch niemand von Richtern über Rechtsnormen für die Politik befinden lassen. Alex Bodry, Staatsrat und ehemaliger LSAP-Abgeordneter, der zuletzt Präsident des parlamentarischen Institutionenausschusses war, kann sich vorstellen, dass die Verwaltungsrichter vor zwei Wochen eine Tür zur „Judikarisierung der Politik“ geöffnet haben. Das sei bislang nicht gewollt gewesen. „Als in den Neunzigerjahren das Verfassungsgericht geschaffen wurde, war die politische Klasse sich einig, keine Organklage einzuführen wie in Deutschland.“ Dort kann ein Staatsorgan mit einem anderen vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe streiten.

Gegenüber dem Land erklärt nur Fernand Kartheiser, dass auch Luxemburg dies brauche. „Wir wollen ein aufgewertetes Verfassungsgericht und Organklagen.“ Das heiße aber nicht, „Richterregierung“. Es dürfe nur juristisch entschieden werden, nie politisch. „Da wäre eine Feinjustierung zwischen den Institutionen nötig.“

Aber wenn im Ausland die Judikarisierung der Politik längst begonnen hat, mit dem EU-Gerichtshof eine Instanz dafür auch in Luxemburg sitzt, würden die nationale Politik und die Institutionen nur etwas nachholen, was absehbar war und früher oder später geschehen müsste. „In Luxemburg sind die Politiker nur so überrascht, weil sie von Politik eine Auffassung haben, die nicht dem modernen Rechtsstaat entspricht“, sagt Professor Heuschling. Dass am 27. Januar der Verwaltungsgerichtshof die Verfassung interpretiert hat, sei unter anderem die Folge davon, dass das Luxemburger Verfassungsgericht lediglich die Mission habe, Gesetze zu kontrollieren. In anderen Ländern hätten Verfassungsgerichte bis zu 40 Missionen. „Luxemburg hat damals das Minimum gemacht.“

Für Heuschling ist die wichtigste Diskussion, die geführt werden müsste, die über die Reform des Kammerreglements. Anschließend werde man sehen, ob noch mehr Volksvertreter/innen meinen, für ihre Rechte vor Gericht ziehen zu müssen. Im Grunde könne es sogar sein, dass der vor zwei Wochen eingeleitete Trend umgekehrt wird, weil Richter/innen ein anderes Urteil fällen: Am 27. Januar sei über ein Prinzip entschieden worden, aber aus einem Prinzip könne man immer neue Prinzipien ableiten. „Ich sage nicht, dass das ein Zug ist, der nun in eine Richtung rollt. Das Urteil hat eine Perspektive eröffnet.“

Peter Feist
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