Paternalistische Autorität

Vertrauensverlust

d'Lëtzebuerger Land du 18.10.2013

Entsprechend der Verfassung und dem Wahlgesetz hat Großherzog Henri für nächsten Sonntag die Wahlkollegien sämtlicher Wahlkreise, wie die Wähler offiziell heißen, zusammengerufen, um 60 neue Mitglieder der Abgeordnetenkammer zu wählen. Durch die Einführung des Arbeiter- und Frauenwahlrechts 1919 und die spätere Senkung des Wahlalters sind die Wahlkollegien inzwischen recht groß und volkstümlich, auch wenn sie durch den Ausschluss der Staatsbürger unter 18 Jahren, der Ausländer, verschiedenen Straftäter und Geisteskranken nicht einmal die Hälfte der Einwohner darstellen. Umso mehr werden sich wachsende Sorgen um die Gemütsverfassung dieser doch für etwas unreif gehaltenen Wahlkollegien gemacht, seit die Regierung im Sommer über ihren hysterisch gewordenen Geheimdienst stürzte.

Aus diesem Grund vergeht kaum ein Interview in Presse, Funk und Fernsehen, ohne dass der diensthabende Journalist sich seiner vaterländischer Verantwortung um die Volkserziehung bewusst würde und den Politiker gegenüber vorwurfsvoll fragt, ob das Volk durch all diese Affären nicht sein Vertrauen in die Politik verliere. Der solchermaßen angesprochene Politiker gibt ihm dann meist kleinlaut recht, klagt, dass dies vielleicht der größte aller Schäden sei, den diese bedauernswerten Affären angerichtet hätten, und gelobt, sein Möglichstes zu tun, um das Vertrauen der Bürger in die Politik und Seinesgleichen wiederherzustellen. RTL und Luxemburger Wort kaufen Meinungsumfragen über das „Vertrauen an d’Politiker an an d’Politik“, und die LSAP verspricht auf den Einladungen zu ihren Wahlversammlungen: „Mir ginn Iech d’Vertrauen an d’Politik zeréck.“

Aber vielleicht sind diese Sorgen um das Vertrauen in die Politik und die Politiker unbegründet, ist das, was unzureichend in Kenntnis Gesetzte für einen Schaden halten, in Wirklichkeit ein wahrer Segen für die Demokratie. Immerhin taucht das Wort „Vertrauen“ kein einziges Mal in der Verfassung auf, gibt es kein einziges Gesetz, das Vertrauen als noch so kleinen Baustein in dem großen Gebäude der repräsentativen Demokratie vorschreibt. Dem im Zeitalter der Aufklärung entwickelten Kontrollsystem der Gewaltenteilung mit ihren checks and balances liegt vielmehr ein dem Krämergeist nicht ganz fremdes gegenseitiges Misstrauen zugrunde. Deshalb sind nicht Vertrauen, sondern Skepsis und Kritik die großen Errungenschaften der Aufklärung. An der Wiege der modernen Philosophie steht nicht das Vertrauen in die Spekulation, sondern die Critik der reinen Vernunft. Sich seines eigenen Verstandes ohne Vertrauen in eine politische, kirchliche oder andere Autorität zu bedienen, hielt ihr Autor schon vor zwei Jahrhunderten für einen Schritt ins Erwachsenenalter der Menschheit. Die ungezählten Karteikarten des Geheimdienstes an der Escher Straße, in Senningen und im Staatsarchiv geben ihm noch heute Recht. Denn sie zeigen, wie die Regierenden zwar eindringlich Vertrauen von den Regierten einfordern, aber ihnen nicht einmal im Traum einfiele, ihrerseits den Regierten Vertrauen zu schenken.

Wenn sie also gewollt oder ungewollt halfen, das Vertrauen der Wähler in eine paternalistische Umgangsweise der politischen Autorität zu erschüttern; wenn sie dazu beitrugen, die ganz und gar legitime Interessenüberantwortung in der repräsentativen Demokratie im Bewusstsein der Wähler auf eine rationale, von aller idealistischen Mystifizierung freie Grundlage zu stellen; wenn sie die Wähler bei der Stimmabgabe am kommenden Sonntag nur einen Augenblick zögern lassen angesichts eines Fernsehzauberers, der seine Wahlprognose in einen Eisblock einzufrieren vorgibt, und politischer Zauberer, welche die Rückkehr in angeblich stabile Verhältnisse der Vergangenheit zu gewähren vorgeben, dann haben die Herren Juncker und Schneider, ja, selbst die Herren Mille und Heck sich um die Demokratie verdient gemacht.

Romain Hilgert
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