Ende August dieses Jahres beobachtete ich in Le Grazie an der ligurischen Küste, wie sich ein riesiges Kreuzfahrtschiff im Morgengrauen den Weg durch den schmalen Golfo di Poeti bahnte, vorbei an kleinen Ferienortschaften und großen Marinestützpunkten. Sein Ziel war der Hafen von La Spezia. Die Stadt an der Grenze zur Toskana dient als Drehscheibe der Reiseindustrie in der Großregion: Die malerischen Dörfer im Cinque Terre oder die Kulturstadt Pisa sind nur eine kurze Fahrt entfernt.
La Spezia ist allerdings keine reine Touristenstadt, sie lebt ebenso vom Militär und dem großen Frachthafen. Aber jeder noch so imposante Frachter verblasst neben den Kreuzfahrtschiffen, die wie schwimmende Freizeitparks wirken. Ihre Passagiere verbreiten sich morgens für eine kurze Zeit invasiv in der umliegenden Region, um gleichentags wieder einzuschiffen und die nächste Küstenstadt im Mittelmeerraum anzusteuern.
Diese Darstellung mag zwar auf einem polemischen Pauschalurteil beruhen – allerdings einem, das sich mir aufgrund persönlicher Beobachtungen aufdrängt. Kreuzfahrtpassagiere treten bei ihren Landausflügen als Tagesbesucher in Erscheinung, von denen die vom Tourismus abhängige Hotellerie und Gastronomie in den Hafenstädten nur bedingt profitiert. Nicht ohne Grund gelten Kreuzfahrten heutzutage als Inbegriff einer Tourismusindustrie, die aus dem Ruder gelaufen und auf längere Sicht weder sozial noch ökologisch verträglich ist.
Von der Bildungsreise zum Tourismus
Die Kreuzfahrt ist allerdings nur ein besonders sichtbares Element des Phänomens Tourismus. Ein- bis zweiwöchige Pauschalreisen; Backpackertouren, empfohlen in „alternativen“ Reiseführern und Reiseblogs; der Besuch exklusiver Hotels, Restaurants und Shops, bei Instagram von so genannten influencers angepriesen – diese unterschiedlichen und scheinbar ausdifferenzierten Feriengestaltungen sind Ausprägungen der Tourismusindustrie.
Dazu gehören zudem Reiseformen, die man nicht zwangsläufig mit Tourismus in Verbindung bringt, wie Geschäftsreisen oder die Mobilität der weltweit vernetzten Akademiker. All diese Elemente sind untrennbar miteinander verbunden in einer globalen Industrie, die der italienische Journalist Marco d’Eramo in seinem viel beachteten Buch Die Welt im Selfie als „wichtigste Industrie dieses neuen Jahrhunderts“1 bezeichnet. D’Eramo spricht sogar von einem „Zeitalter des Tourismus“, dessen Ursprünge er in den „Vergnügungs- und Bildungsreisen“2 aristokratischer Sprösslinge im 16. Jahrhundert sieht.
Das Ideal einer Reise, die sowohl der individuellen Entwicklung als auch der Erweiterung des persönlichen Horizonts durch die Beobachtung von und die Teilnahme an fremden Kulturen dient, ist auch in der modernen Tourismusindustrie weitverbreitet. Charakteristiken der von den früheren Aristokraten gepflegten Reiseform sind heute noch zu beobachten, gleichermaßen elitär und auf den Konsum kultureller Angebote ausgerichtet. Auch der im Zuge der kulturellen Transformationen in den westlichen Gesellschaften der 1960er Jahre aufgekommene Rucksacktourismus, der seit seiner Entstehung günstiges Reisen mit der Idee eines direkteren, authentischen Zugangs zu den bereisten Gesellschaften kombiniert, beruht auf dem Wunsch nach einer aufklärenden Erfahrung. Zu den ganz offensichtlichen modernen Ausprägungen der Bildungsreise zählen Sprachaufenthalte oder „Volunturism-Konzepte“, die den Reisenden einen Mittelweg aus Engagement in der Entwicklungshilfe und Tourismus propagieren.
Der Siegeszug des Massentourismus
Diese Reiseformen grenzen sich heute zum Teil bewusst vom so genannten Massentourismus ab, der sich im Zuge der sozialpolitischen Errungenschaften in den westlichen Gesellschaften in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mit zunehmender Geschwindigkeit seit den 1950er Jahren entwickelt hat. Es handelt sich dementsprechend um ein relativ junges Phänomen, dessen soziale und ökologische Implikationen – insbesondere in nördlichen Mittelmeerländern wie Spanien und Italien, die zu den meistbereisten Touristendestinationen weltweit zählen – für öffentliche Debatten und politische Interventionen sorgen. In diesem Zusammenhang wird mittlerweile von durch den Tourismus ausgelösten Erschöpfungserscheinungen gesprochen, die unter dem Begriff overtourism subsumiert werden. In Zahlen bedeutet das laut Angaben der World Tourism Organization: Im Jahr 2015 waren eine Milliarde und 186 Millionen internationale Reisende weltweit unterwegs. Eine Anzahl, die sich seit 1950 verfünzigfacht hat3.
Vor allem so genannte Touristenstädte, deren jährliche Besucherzahlen die der Einwohner deutlich übersteigen, ächzen unter den Massen, die sie tagtäglich überfluten. Venedig und die ehemalige kroatische Festungsstadt Dubrovnik gelten als Extrembeispiele schlechthin, wenn von overtourism die Rede ist. Beide Städte haben sich regelrecht entvölkert, ihre alten Innenstädte sind zu Freilichtmuseen mutiert. Aber auch in Metropolen wie Barcelona, Paris oder Rom zeigen sich Erschöpfungssymptome bei den lokalen Bevölkerungen, die einerseits vom Tourismus profitieren, andererseits aber dessen destruktive Begleiterscheinungen, wie die steigenden Immobilienpreise, nicht mehr bewältigen können. Die Internetplattform Airbnb hat den touristisch bedingten Druck auf den Wohnungsmarkt noch zusätzlich verstärkt. Die Ausbreitung von Gastronomie und Hotellerie in den Zentren dieser Städte drängt die Anwohner an die Peripherie.
Ermöglicht wird der Ansturm der touristischen Masse nicht allein durch die Liberalisierung der westlichen Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert sowie der seit den 1990er Jahren wachsenden Mittelschichten in Asien, sondern auch durch das gesteigerte und stark vergünstigte Angebot der Transportindustrie. Heute kann man unter Umständen günstiger für ein Wochenende mit dem Flugzeug von Basel nach Barcelona reisen, als mit dem Zug nach Genf. So werden insbesondere europäische Großstädte zu beliebten Reisedestinationen junger Partytouristen mit kleinem Budget. Die Städte am Mittelmeer sehen sich zudem einer weiteren Reiseform ausgesetzt, die seit Jahren stetig wächst: der bereits erwähnten Kreuzschifffahrt. Was beide auf den ersten Blick gänzlich unterschiedliche Reiseformen gemeinsam haben, ist ihre katastrophale Ökobilanz, also ihre Auswirkungen auf die Umwelt.
Der touristische Kreislauf
Der Massentourismus wirkt darüber hinaus als Antrieb für die Entwicklung neuer touristischer Angebote. Während an mondänen Urlaubsorten mit ständig wachsenden Besucherzahlen, wie Zermatt beispielsweise, einer anspruchsvollen Kundschaft neue Erlebnisse geboten werden, findet an anderen Feriendestinationen wie den Seychellen eine Auslese der Kundschaft durch die Exklusivität des Zugangs statt. Die Auswahl an günstigen Kreuzfahrten und Billigflügen ist in den letzten Jahrzehnten einerseits zwar kontinuierlich gestiegen, andererseits werden Angebote für Exklusivreisen, mit denen sich wohlhabende Urlauber von den populären Massentouristen abgrenzen können, immer ausgefallener.
Innerhalb des Luxussegments kommt es zu weiteren Differenzierungen. Eine Safari in Namibia ist vom preislichen Niveau und der Exklusivität her längst nicht mit einer Exkursion in die Arktis zu vergleichen – für die breite Masse ist jedoch beides unerschwinglich. So lassen sich innerhalb der Tourismusindustrie komplexe Formen der „distinction“ beobachten, wie sie Pierre Bourdieu in seiner bekannten Analyse der Herstellung und Festigung sozialer Unterschiede beschreibt.
Gleichzeitig werden auch hochpreisige Feriendestinationen vom Massentourismus aufgesucht. Die Schweizer Alpen sind trotz der hohen Kosten für Logis und Verpflegung nach wie vor ein beliebtes Reiseziel, vor allem bei der wachsenden asiatischen Mittelschicht. Die Stadt Luzern verzeichnete im vergangenen Jahr mehr als 1,3 Millionen Übernachtungen, auch das nahe gelegene Bergmassiv Rigi ist mit 850 000 Besuchern jährlich ein regelrechter Touristenmagnet. Zum Unmut vieler Einheimischer wollen die Betreiber der Rigi-Bahnen mit Abenteuerspielplätzen und Shopping-Erlebnissen weitere Besucher anlocken, insbesondere aus Asien, wo die Schweiz aktiv Werbung für ihr touristisches Angebot macht. Mit dieser Strategie sollen die unter anderem aufgrund der Wechselkursstärke des Schweizer Franken rückläufigen Besucherzahlen aus den europäischen Nachbarländern kompensiert werden.
Während asiatische Touristen die Schweiz für sich entdecken, reisen Schweizer seit den 1970er Jahren durch Süd- und Südostasien. Handelte es sich anfangs vor allem um junge Backpacker, kann man mittlerweile auf einem Flug von Zürich nach Bangkok die gesamte Bandbreite der Touristentypen beobachten. Reisen nach Thailand kommen Schweizer oftmals günstiger zu stehen als Ferien im eigenen Land. Auf der Suche nach Reiseerlebnissen fernab der ausgetretenen Touristenpfade, nach Authentizität und einer kostengünstigen Urlaubsmöglichkeit haben die Rucksacktouristen den Boden für den Massentourismus bereitet. Umso mehr seit der Verbreitung der sozialen Medien, durch die ein Geheimtipp seinem Namen nur für kurze Zeit gerecht wird. So sind Luxusferien, Massentourismus und Rucksackreisen, die sich allesamt voneinander abzugrenzen suchen, Teil derselben globalen Industrie. Durch den Prozess der Abgrenzung verstärken sie sich gegenseitig und resultieren in den Erschöpfungserscheinungen, die neuerdings zum Gegenstand öffentlicher Debatten geworden sind.
Overtourism und die offene Gesellschaft
Pünktlich zur Sommerzeit erscheinen in den unterschiedlichsten Medien Beiträge über die destruktiven Auswirkungen des Tourismus, während ihre Kundschaft am Strand liegt, durch eine Berglandschaft wandert oder Museen erforscht. Deshalb kommt auch kaum eine größere Zeitung ganz ohne Reiseberichte, Hotel- und Restaurant-
empfehlungen oder Länderporträts aus. Sogar Fernsehsender mit anspruchsvollem Programm wie Arte oder 3Sat strahlen mehr Reiseberichte als tourismuskritische Beiträge aus.
In einer ähnlichen Situation befinden sich diverse Akteure, die sich einerseits zwar für eine Eindämmung des Massentourismus einsetzen wollen, andererseits jedoch auf die Einnahmen aus der Industrie angewiesen sind. Am Beispiel des Tourismus, der fest in unserer Soziabilität verankert ist, zeigt sich die Problematik, sich kritisch mit einem Phänomen auseinanderzusetzen, zu dessen Fortbestand man beiträgt. Aufgewachsen in Luxemburg und seit Jahren wohnhaft in der Schweiz, stellen für mich Auslandsreisen eine Normalität dar. Dabei muss ich mir ins Bewusstsein rufen, dass ich Teil der globalen Tourismusindustrie bin. Wie kann ich mich über den Anblick riesiger Kreuzfahrtschiffe empören, wenn ich meine Ferien am gleichen Ort wie tausende andere Touristen verbringe?
Das Reisen, die Ferien, der Tourismus – diese unterschiedlichen Begriffe sind Ausdruck des gleichen Phänomens, dessen Entwicklung unweigerlich mit der Entstehung der westlichen Demokratien verbunden ist und das mittlerweile zu den konstitutiven Elementen der globalen Weltordnung zählt. Umso schwieriger gestaltet sich die Herausforderung, die globale Tourismusindustrie umzugestalten. Ein Lösungsansatz wie der slow tourism, also sanfter Tourismus, der auf Entschleunigung und Nachhaltigkeit setzt, bietet interessante Impulse, die Industrie von innen zu reformieren. Allerdings stellt er vor allem eine Erweiterung des touristischen Angebots dar, die andere Reiseformen nicht unbedingt ersetzt, sondern eine zusätzliche Möglichkeit der Abgrenzung von anderen Reisenden bietet. So wird die globale Tourismusindustrie schlussendlich weiter gefestigt.
Restriktive Maßnahmen gegen spezifische, destruktive Auswirkungen des Tourismus, wie Billigflüge und überdimensionale Kreuzfahrtschiffe, haben ein größeres Potenzial, die Industrie nachhaltig zu verändern. Doch würde das Angebot an Passagierflügen verteuert, würden Ausschlussmechanismen eingeführt, die auf finanziellen Kriterien basieren und somit in der Exklusion einkommensschwacher Bevölkerungsschichten resultieren. Und grundsätzlich sollte man bei aller Kritik Acht geben, nicht denjenigen Argumente zu liefern, die das Modell der offenen Gesellschaft frontal angreifen. Die Forderung nach der Eindämmung der touristischen Mobilität ist berechtigt und notwendig. Aber gleichzeitig sollte man die soziale ebenso wie die geografische Mobilität als bedeutende Errungenschaften offener Gesellschaften gegen jene verteidigen, die daraus eine Bedrohung für ebendiese Gesellschaften konstruieren.