Hass, Gewalt und gezielt gestreute Falschnachrichten im Netz einzudämmen, sind eine Herausforderung für Demokratien heute. In Luxemburg bilden Justiz und Medien die Speerspitze gegen Trolle

Flaschengeister

d'Lëtzebuerger Land du 05.01.2018

Das neue Jahr war kaum angebrochen, da hatte der Nachbar schon seinen ersten Medienskandal: Eine deutsche Abgeordnete der rechtsextremen AfD hatte einen islam- und ausländerfeindlichen Tweet zu Silvester abgesetzt und wurde prompt von der Polizei wegen Volksverhetzung angezeigt. Außerdem sperrte Twitter kurzzeitig ihr Konto, wenig später zog Facebook, wo sich die Abgeordnete über „Zensur“ empört hatte, nach und bescherte somit dem Netzdurchsetzungsgesetz (NetzDG) ungewollt Aufmerksamkeit.

Mit Jahresbeginn war der Startschuss für die Regelung gefallen, die helfen soll, Hasskommentare im Netz zu unterbinden. Eigentlich ist das nichts anderes, als der Versuch, bestehendes Recht umzusetzen. Nach dem deutschen Telemediengesetz waren Onlineanbieter bereits vorher verpflichtet, strafbare Inhalte, von denen sie Kenntnis hatten, zu löschen. Das klappte allerdings kaum, die Netzwerke löschten trotz Beschwerden spät, zu wenig oder gar nicht, und als nach Beratungen auf höchster Ebene das Problem nicht besser wurde, holte die CDU-SPD-Koalition die Peitsche raus und regelte per Gesetz, dass soziale Netzwerke ein wirksames Beschwerdemanagement für den Umgang mit strafbaren Inhalten einrichten müssen. Bereits vorm Inkrafttreten mahnten Kritiker, der Gesetzgeber sei übers Ziel hinausgeschossen. Chaos Computer Club, Bitkom-IT-Branchenverband, Deutscher Journalistenverband sehen die Meinungsfreiheit in Gefahr, weil soziale Netzwerke, die selbst vorentscheiden, was ein strafbarer Inhalt ist, aus Sorge, sie könnten andernfalls ein millionenschweres Bußgeld riskieren, zu viel löschen, quasi eine Art Präventivzensur ausüben. Dass die Sorge vor Overblocking nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigte sich einen Tag später, als das Satire-Magazin Titanic mit einem Tweet, in dem es den rassistischen Post der AfD-Abgeordneten ironisch brach, ebenfalls gesperrt wurde.

Luxemburg ist vom Gesetz indirekt betroffen: Wer von Deutschland aus in einem Luxemburger Facebook-Chat Hasskommentare entdeckt, kann auch sie melden. Im schlimmsten Fall wären sie für Deutschland zu sperren, Luxemburger Bürger können selbst keine volksverhetzende Inhalte nach dem NetzDG melden: Während in Deutschland Twitter unter dem Stichwort „Fällt unter das Netzdurchsetzungsgesetz“ akribisch Tatbestände des Strafgesetzbuchs listet, gibt es die Funktion für Luxemburg nicht; hier gilt der Code pénal. Ein spezielles Gesetz, das soziale Netzwerke dazu verpflichtet, strafbare Inhalte binnen einer 24-Stunden-Frist zu löschen, gibt es in Luxemburg nicht. Allerdings ist der Aufruf zu Hass und Gewalt, ob im Netz oder auf der Straße, auch hierzulande strafbar – und ein ernstes Problem.

„80 bis 85 Prozent der Kommentare, die wir in unserem Foren bekommen, sind okay. Die übrigen 15 Prozent sind mindestens fragwürdig“, sagt Luc Marteling, Online-Chef von RTL Lëtzebuerg. Seine Redakteure lesen jeden Kommentar, bevor er freigeschaltet wird. Auch wenn für den Inhalt seines Beitrags der Autor selbst hafte: „Wir haben als Verleger eine Verantwortung.“ Wer bei RTL kommentieren will, muss sich einloggen und sein Profil per SMS und Email bestätigen. Auf Klarnamen beim Einloggen verzichtet das Medienunternehmen. „Es ist ein Irrglaube, zu meinen, das würde notorische Wutschreiber abhalten. Auf Facebook gilt das Klarnamenprinzip, aber da bekommen wir oft die schlimmeren Beiträge“, so Marteling.

Im September einigten sich Journalisten und Verleger im Presserat erstmals auf eine Netiquette. Sie gilt nicht nur für die Online-Foren der Medienhäuser, sondern sei auch auf Facebook und Twitter anzuwenden. Obwohl der Handlungsspielraum der Medien dort insofern beschränkt ist, als sie Nutzer nur warnen und rechtswidrige Beiträge löschen können. Die Netiquette, die mit IT-Spezialisten von Bee-Secure entwickelt wurde, empfiehlt, nicht mit Wut im Bauch zu schreiben. Das Internet sei kein rechtsfreier Raum, deshalb sind „illegale Inhalte, wie rassistisch, diskriminierende, sexistische, pornografische oder gewaltverherrlichende Beiträge, wie z.B. der Aufruf zu Hass oder zu Gewalt und Beleidigungen nicht akzeptabel“, können gelöscht, ihr Verfasser verwarnt oder angezeigt werden. Auch „unangebrachte Inhalte“, wie anzügliche oder persönliche Angriffe, sind untersagt: Was angebracht ist oder nicht, hängt aber oft vom Standpunkt des Betrachters ab. In Redaktionen diskutieren erfahrene Journalisten Grenzfälle, wenn sie die Zeit dazu haben: „Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Wenn aber an einem Tag auf einen Artikel 250 Kommentare oder mehr kommen, kann uns ein illegaler Beitrag durchgehen“, räumt Marteling ein.

Zudem dürfte nicht jedem Nutzer der Verhaltenskodex bekannt sein. RTL hat neben der Netiquette eigene Nutzungsbedingungen definiert. Sie legen auch die Höchststrafe fest: Wer wiederholt gegen Regeln verstößt, wer etwa mit Hassbeiträgen auffällt und andere beleidigt, wird gesperrt oder fliegt raus. Beim Luxemburger Wort, das keine Kommentarfunktion auf der eigenen Homepage hat, aber deren Journalisten Vize-Chefredakteur Claude Feyereisen zufolge ebenfalls „jeden einzelnen Kommentar lesen“, findet sie auf Facebook, wer gezielt danach sucht. Andere Medien haben sie erst gar nicht auf ihrer Homepage stehen. Interessierte können sie unter netiquette.lu nachlesen.

Das heißt aber nicht, dass Hobby-Kommentatorinnen und Kommentatoren deswegen nicht für illegale Inhalte belangt werden können. Luxemburger Gerichte haben etliche mehr und weniger spektakuläre Urteile gegen Hate Postings aller Art gesprochen. Allein im vergangenen zwei Jahren (vom 1.1.2016 bis Ende August 2017) landeten 49 Klagen vor Gericht, weil Zeugen Anzeige wegen Aufrufs zum Hass erstatteten. Große Aufmerksamkeit wurde Pierre Peters zuteil, der 2016 zu acht Monaten Gefängnisstrafe wegen Aufrufs zum Hass verurteilt wurde. Peters, ein rechtsradikaler Wiederholungstäter, wurde in erster Instanz wegen ausländerfeindlicher Wurfsendungen, die er in Mamer und Luxemburg verteilt hatte, ohne Bewährung verurteilt. Auch weniger notorische Wutbürger wurden belangt: Im November wurden vier Personen wegen Hass im Netz verurteilt. Eine hatte unter einer Meldung von Radio Latina zur Flüchtlingspolitik geschrieben: „Eines Tages wird ihre Tochter vergewaltigt oder gesteinigt durch einen...“. Die Strafen wurden ausgesetzt. Sollten die Verurteilten erneut mit Hasskommentaren auffallen, dürften die Richter keine Milde mehr walten lassen. Dass zwei der Autoren in Frankreich wohnten, half ihnen übrigens nicht: Weil in Frankreich der Aufruf zum Hass ebenfalls strafbar ist und das Territorialprinzip gilt; die Kommentare befanden sich im Facebook-Auftritt eines Luxemburger Unternehmens.

„Die Justiz hat schnell und vergleichsweise streng reagiert“, meint Luc Marteling. Dass die Richter so konsequent durchgegriffen habe, habe auf die Luxemburger Nutzer von den sozialen Netzwerken eine abschreckende Wirkung, vermutet der Online-Redakteur, der bei RTL keine Zunahme an Hasskommentaren festgestellt haben will. Eine Statistik, wie oft etwa Kommentare gelöscht werden, erheben RTL und Wort nicht. Allerdings führt RTL eine Schwarze Liste mit gesperrten Wiederholungstätern sowie eine graue mit „auffälligen Profilen“. Mehr Kopfzerbrechen als der Hass bereitet Marteling „die Polarisierung für oder gegen Gambia“. Ihm ist zudem aufgefallen, dass Nutzer zuweilen „wie verabredet“ einen Beitrag kommentieren, um eine gewisse Meinung vorzugeben. Mitunter versuchen die RTL-Redakteure dann gegenzuwirken.

Wer sich auf Plattformen rechter Gruppen hierzulande umschaut, stellt fest: Die meisten haben Benimmregeln. Die Facebook-Administratoren von Neiwahlen elo ermahnen Diskutierende regelmäßig, diese Regeln auch einzuhalten. Beim Facebook-Auftritt der Splitterpartei déi konservativ kommen als Reaktion auf Anfeindungen von außen allenfalls vereinzelt Unmutsbekundungen. Auf eigenen Facebook-Seiten werden Sympathisanten deutlicher, loben Aussagen der AfD oder der Freiheitlichen Partei Österreichs, die mit den Konservativen in Wien die Regierung stellt. Verglichen mit dem Auftritt des Front national in Frankreich, wo Nutzer gegen „Abschaum“ wettern und auch mal die Todesstrafe fordern, erscheinen Online-Debatten im überschaubaren Luxemburg vergleichsweise gemäßigt.

Schwieriger hat es die Justiz, geht es um die Verfolgung oder Eindämmung absichtlicher Falschnachrichten. Auslöser für den gesperrten Tweet der AfD-Abgeordneten waren vermeintliche „Schutzzonen für Frauen“ in der Silvesternacht. Die Meldung, die vom CSV-Abgeordneten Laurent Mosar auf Twitter geteilt wurde, stellte sich als grob verzerrt heraus: Das Konzept einer Anlaufstelle für Opfer von sexuellen Übergriffen, dieses Jahr um einen Schonraum erweitert, gibt es auch beim Oktoberfest und ist zudem auch für Männer zugänglich. Von polizeilich gesicherten deutschlandweiten Schutzzonen für Frauen konnte keine Rede sein. Eigentlich fallen auch Falschinformationen unter das Netzdurchsetzungsgesetz. Im deutschen Twitter-Feed (Funktion wird per Geo-Lokalisation aktiviert) können Fälschungen nach Artikel 269 StGB gemeldet werden. Eine richtige Zuordnung verlangt mindestens juristische Grundkenntnisse. Facebook Deutschland hat, um die Auflagen umzusetzen, ein zweites Löschzentrum in Essen eingerichtet, wo 500 Online-Mitarbeiter sich den ganzen Tag durch Wut- und Hassreden klicken. Das Hauptproblem bleibt, dass Facebook selbst vorauswählt, welcher Inhalt illegal sein soll oder nicht.

Hier rächt sich ein frühes Versäumnis. Von Anfang an hatte es der Gesetzgeber in den USA, und zunächst auch in Europa, Facebook, You-Tube, Twitter und Co. überlassen, Inhalte selbst zu regeln. Facebook und Twitter hatten mit Verweis darauf, selbst keine Nachrichten zu produzieren, Haftung und Verantwortung für Inhalte stets abgelehnt. Inzwischen, angesichts der Flut von Fake News und Hassbotschaften, ist die Position nicht länger haltbar. Brüssel schaut genau auf die Erfahrungen, die in Deutschland und künftig wohl auch in Frankreich diesbezüglich gemacht werden: Frankreichs Staatspräsident kündigte beim Neujahresempfang vor Journalisten ein Gesetz gegen Falschmeldungen zu Wahlkampfzeiten an, ein Vorstoß, den Staatsminister Xavier Bettel ausdrücklich begrüßte. Er störte sich nur an der Frist „zu Wahlkampfzeiten“. Ende September veröffentlichte die EU-Kommission eine Mitteilung über den Umgang mit illegalen Online-Inhalten, die eine Orientierungshilfe für Netzanbieter sein soll. Noch hält Brüssel an deren Selbstregulierung fest, aber Vera Jorouvá, Kommissarin für Justiz und Verbraucherschutz, warnte im September: „Sollten die Tech-Unternehmen die Erwartungen nicht erfüllen, dann werden wir das tun.“

Eine Studie über Information Disorder für den Europarat in Straßburg vom September 2017 zeigt die komplexen Herausforderungen im Umgang mit Falschinformationen akribisch auf: Längst geht es nicht mehr um einzelne Pöbler, die mal Dampf ablassen: Politische Parteien, Gruppierungen, Staaten haben das Netz zur politischen Beeinflussung und Meinungsmache entdeckt. Falschmeldungen werden produziert, ins Netz gespeist und von Social Bots verteilt. Das sind Software-
roboter, die automatisiert Beiträge posten und deren Premium-Versionen selbst für geübte Nutzer kaum mehr zu erkennen sind. Menschliche Trolle sorgen parallel dafür, dass potenzielle Kritiker mit Shitstorms und persönlichen Attacken in Schach gehalten werden. Die wahre Geschichte der Troll-Fabrik im russischen Sankt Petersburg, die gezielt Falschmeldungen über die US-Demokraten verschickten, ging um die Welt. Auch Gamergate, als 2014 Videospieler gezielt Frauen mit Mord und Vergewaltigung bedrohten, die Sexismus in der Branche kritisiert hatten, zeigt, welche Wirkungsmacht selbst lose koordinierte Attacken entfalten.

Datenfirmen wie Cambridge Analytica, die Wahlkampfhilfe für Trump geleistet hat, versuchen mittels statistischer Modelle und maßgeschschneiderten Kampagnen Wähler zu gewinnen. In Kenia, wo die Firma von der Opposition angeheuert wurde, wurde die Wahl wegen Verdachts auf Einflussnahme annulliert. In den USA beschäftigen Facebook und Twitter inzwischen den Senat. Sie mussten erklären, inwiefern ihre Plattformen durch falsche Identitäten, auf bestimmte Profile zugeschnittene politische Werbeanzeigen, Falschinformationen und Algorithmen, die auf möglichst große Wirkung abzielen, Russland halfen, die Wahlen 2016 zu beeinflussen. Das ist nicht mehr witzig: Medienexperten, wie der Münchner Politologe Simon Hegelich, sehen durch automatisierte Kampagnen und Trolle, die gezielt Gefühle wie Hass und Vorurteile ausnutzen, die Demokratie in Gefahr. Auch beim Brexit gehen Datenforensiker Spuren im Netz nach, ob es im Vorfeld eine Beeinflussung durch Fake News gab. Forscher enttarnten kürzlich 45 Twitter-Konten, von denen aus vernetzte Bots gezielt Falschmeldungen zu Trump, dem Brexit und zur deutschen Kanzlerin und die Flüchtlingskrise verbreiteten, die wiederum von Tausenden Nutzern geteilt wurden. Ein Grund, warum Berlin auf die rasche Umsetzung des NetzDG drängt und eine rasche Abänderung trotz der deutlichen Schwächen unwahrscheinlich ist. Zumal den Kritikern der Regulierung bisher keine bessere Lösung zur wirksamen Bekämpfung des Phänomens eingefallen ist. Der Geist ist aus der Flasche.

Ines Kurschat
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