Ein Besuch im Roundhouse in London, ein Vorbild für die zukünftige Ausrichtung des Rotondes-Programms in Luxemburg

Camdens kulturelles Herz

d'Lëtzebuerger Land du 02.09.2011

Exotische Blumen wiegen über den Köpfe der Zuschauer im Wind hin und her. Von Idylle kann aber keine Rede sein, denn die verformten, giftig scheinenden Pflanzen sind von Mückenschwärmen befallen. Schließlich ziehen dunkle Wolken auf, und die Farben der Blumen sind fast nicht mehr zu erkennen. Das bedrohliche Summen der Insekten wird schlagartig von einem ohrenbetäubendem Donnern unterbrochen, und einige Zuschauer zucken zusammen. Der Blitzeffekt stammt aus einem Stroboskop. Auch der Regen und der Urwald sind nicht echt, sondern Teil des 360-Grad-Kurzfilms Sordid Earth des Briten Mat Collishaw.

Der Film untersucht „unseren neurotischen Appetit für Darstellungen einer von Katastrophen verwüsteten Erde“, und die Gesichtsausdrücke mancher Zuschauer machen den Standpunkt des Künstlers jedenfalls deutlich: Sie beobachten das animierte Geschehen mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken. Einige haben es sich auf dem Boden gemütlich gemacht und betrachten liegend das Spektakel, fast so, als würden sie den Sternenhimmel beobachten. Wer Ron Arads Curtain Call im Roundhouse im Londoner Camden erlebt hat, weiß, wie mitreißend die Installation ist.

Von dem Eingang des Roundhouses, wo sonst die Sicht auf die Bühne fällt, umrahmte noch bis letzten Montag ein riesiger Vorhang aus 5 600 Silikonstäben die Pfähle der ehemaligen Dampfmaschinenwerkstatt. Der kreisförmige Saal wird so zum kuriosen Erlebnis, von dem viele Besucher erstmal nicht genau wissen, wie sie es angehen sollen. Einige Besucher gehen am Umhang entlang, bevor sie endlich die flimmernde Stäbe beiseite schieben und sich in das abgeschirmte Innere trauen. Was draußen anhand der Lichtreflexionen in den Silikonkabeln zu erahnen ist, entpuppt sich erst im Inneren als atemberaubende Rundum-Kulisse, auf der die projizierten Filme den Besucher augenblicklich in den Bann ziehen und nicht mehr loslassen.

Mit einem lauten Grunzen startet der nächste Film. Ori Gershts Offering bietet dem Zuschauer einen Einblick hinter die Kulissen eines Stierkampfes. Auf einer Seite des Umhangs sieht man, wie ein Helfer dem konzentrierten Matador vor dem Kampf Schritt für Schritt die tradi-tionelle Kleidung anlegt. Gleichzeit wedeln sich in der Arena ungeduldige Zuschauer Luft ins Gesicht, schauen auf Armbanduhren oder bereiten ihre Kameras für das Spektakel vor. Der Film erzeugt so auch ohne Stier und blutigem Kampf eine packende Atmosphäre.

Die Künstler des Curtain Call, die der Industriedesigner und Architekt Ron Arad auswählte, sind in ihren Werken und Visionen sehr verschieden. Nach der Vorbereitung zum Stierkampf erscheint auf den Silikonstäben eine überdimensionale Klaviertastatur. Als plötzlich Hände über die Tasten gleiten, um nach der Melodie sofort wieder zu verschwinden, beginnt ein Spiel zwischen Künstler und Besuchern: Die Köpfe drehen sich sobald ein Ton ertönt, um die riesige Pianistenhand erblicken, bevor sie wieder von der unendlichen Tastatur verschwindet. Diese verspielte Art und Weise, Musik visuell darzustellen, scheint auch die Kinder im Saal zu begeistern.

Die Verlockung, das Programm liegend im Innern des Umhangs über sich ergehen zu lassen, ist anfangs zwar groß, doch die Natur der Filme machen es dem Zuschauer unmöglich, alles zu erfassen. So kann man sehen, wie Köpfe den übergroßen Animationen folgen, und wie Besucher aufstehen, um andere Blickwinkel auszuprobieren. Einige scheinen sich zu fragen, wie diese Projektion wohl von draußen aussieht und strecken, von der Neugierde getrieben den Kopf zwischen die flirrenden Stäben hindurch. Beim Anblick dieses Schauspiels wird klar, dass sich das historische Gebäude mit seinen 25 Säulen des dorischen Ordens perfekt für dieses interaktive Werk eignet.

Der psychedelische Aspekt der insgesamt 50 Kilometer langen und sieben Tonnen schweren Stäben soll an die Anfänge des Roundhouse als Kulturzentrum erinnern. Das 1846 erbaute Werkstatt, damals Lokschuppen der London and North Western Railway und später Ginbrennerei, wurde 1964 durch die Initiative des Bühnendichters Arnold Wesker zur kulturellen Einrichtung mit dem Namen Centre 42. In den Sechzigern wurde das Roundhouse schließlich zum Herzen der Kunstszene in Camden, nachdem der Greater London Council das Grundstück kaufte. Doch vor allem fanden in dem damals herunter gekommenen Gebäude legendäre Konzerte statt: Zur Eröffnung im Jahre 1966 spielten Pink Floyd angeblich auf einem Heuwagen mit Soft Machine dort ihr erstes Konzert. In den darauf folgenden Jahren gaben sich Legenden wie David Bowie, The Rolling Stones und Led Zeppelin hier die Türklinke in die Hand. Der Regisseur Michelangelo Antonioni und auch die Theaterwelt (mit der ältesten experimentellen Theatergruppe The Living Theatre aus New York) entdeckten das Roundhouse für sich.

Trotz seiner Rolle als Londoner Herzstück des psychedelischen Rocks und der experimentierfreudigen Künste fehlte in den Achtzigern plötzlich das Geld. Genau wie auch für die Bonneweger Rotondes (siehe d’Land vom 19. August 2011) scheiterten damals etliche Vorschläge zur Wiederbelebung des Zentrums, und das Roundhouse lag ganze 13 Jahre lang still. Doch das Gebäude sollte wieder in altem Glanz erscheinen. Torquil Norman, ein Geschäftsmann und Philanthrop, kaufte es 1996 für sechs Millionen Pfund und leitete die Regenera-tion zwei Jahre später unter der neuen Roundhouse-Stiftung. Mit Berühmtheiten wie Monty Python-Autor Terry Gilliam und Bob Geldof im Kuratorium sollte die Öffentlichkeit auf das Roundhouse aufmerksam gemacht werden, so dass die nötigen Gelder für eine Renovierung aufgebracht werden könnten.

2004 war es dann endlich soweit: Torquil Norman brachte 27 Millionen an Spendengeldern auf. Unter den Gebern war das National Heritage, der Arts Council England und der Heritage Lottery Fund, die auch heute noch das Roundhouse unterstützen. Das Budget, das sich am Ende auf 30 Millionen belief, machte laut John McAslan + Partners enurt einen Bruchteil des Budgets aus, das für ein neues, ähnlich innovatives Kulturzentrum nötig gewesen wäre. Den Architekten standen vor einer Riesenherausforderung. Neben der Wiederherstellung der originalen architektonischen Eigenschaften installierten sie eine moderne Beschallungs- und Lichtanlage und integrierten im Dach sieben zusätzliche schalldichte Schichten.

Im unterirdischen Gewölbe wurden zudem die hochmodernen Roundhouse Studios gebaut, in denen sich heute Proberäume, Aufnahme- und Produktionsstudios befinden. Diese Einrichtungen dienen hauptsächlich dem jüngeren Publikum des Kulturzentrums. „Ich wollte immer, dass wir das Roundhouse renovieren, aber nicht nur, um dem Publikum einen wundervollen Ort zu geben, an dem es Musik, Theater und Kunst erleben kann, sondern auch einen Ort, an dem tausende junge Leute auf ausgezeichnete Einrichtungen und Unterstützung zurückgreifen können und so Erfahrungen für das tägliche Leben machen“, sagte der Vorsitzende und Gründer Torquil Norman. „Das haben wir jetzt gebaut, und alle werden willkommen sein“.

Norman hielt sein Wort, denn das Roundhouse ist eines der innovativsten und anpassungsfähigsten Kulturzentren Londons. Das Hauptgebäude eignet sich mit einem Durchmesser von 48 Metern und einer Kapazität von 3 300 Steh- und 1 700 Sitzplätzen perfekt für größere Konzerte. Doch es ist vor allem die Jugendarbeit, durch die sich das Roundhouse von anderen Konzertsälen unterscheidet. Seit der Neueröffnung im Jahre 2006 hat die Roundhouse-Stiftung rund 10 000 13- bis 25-Jährigen Kurse in den Bereichen Live-Musik, Neue Medien, Theater und Zirkus angeboten. Seit 2010 ist das Gebäude ein National Heritage Site und wurde auf die Liste der Grade II*- Bauwerke gesetzt, die das Roundhouse nun offiziell als „besonders wichtiges Gebäude“ führt. So wird Camden erstmal frei von Zukunftsangst den fünften Geburtstag jener Renovierung feiern, die das geliebte Roundhouse wiederbelebte.

Claire Barthelemy
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