Aus Indien stammen die meisten Nicht-EU-Bürger/innen. Sie schwärmen von Luxemburg als Tech-Hub. Und vermissen Cricket-Felder

„This is now my country“

Eine indische Familie am 15. August in Walferdingen
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 18.08.2023

Sahil Goel steht am Rande des Pierre-Werner- Cricket-Spielfeldes in Walferdingen. Er hat als Mitglied der Indian Association Luxembourg (IAL) an diesem Dienstag, 15. August, ein Cricket-Tournier mitorganisiert. „Ich bin vor sechs Jahren nach Luxemburg gekommen, damals zählte die IAL etwa 2 000 Mitglieder, heute liegt die Mitgliederzahl bei 5 000“, erklärt der in Nordindien Geborene auf Englisch. Etwa 40 Personen sind in Walferdingen eingetroffen. Hauptsächlich Männer um die 30. Die Frauenspiele sollten nachmittags stattfinden – sofern es das Wetter zulässt – graue Wolken hängen gegen Mittag am Himmel. Sahil Goel scrollt auf seinem Smartphone die Geschichte seines Vereins herunter, der 1991 mit 200 Personen in Holzem gegründet wurde. Er hat in Luxemburg seinen Master in IT-Management absolviert und einen Job in der Informatik-Abteilung der Post gefunden. „Es bereitet Freude, dort zu arbeiten, es gibt keine sprachlichen Barrieren und die Menschen sind unkompliziert.“ Er trägt das blau-rote Shirt seines Circket-Teams. Cricket-Vereine sind für Inder eine Anlaufstelle, um Freunde außerhalb des Berufsumfeldes zu finden. Letztes Jahr hat er die doppelte Nationalität angenommen und geht wie etwa 400 weitere Inder der IAL im Oktober wählen.

Das Cricket-Turnier fand am Dienstag am indischen Nationalfeiertag statt. Seit 1947 wird am 15. August Indiens Unabhängigkeitst gefeiert. An jenem Tag soll an das Ende der britischen Kolonialherrschaft erinnert werden. Die Hauptfeierlichkeiten finden in Neu-Delhi statt, wo Premierminister Narendra Modi die Flagge auf dem Roten Fort hisst und eine Fernsehansprache hält. Dieses Jahr betont er in seiner Rede, Indien sei nun mit 1,4 Milliarden Einwohnern, das bevölkerungsreichste Land der Welt und etabliere sich als Stimme des globalen Südens. In der Pandemie habe das Land der Welt gezeigt, dass es ein vishwa mitra sei, ein Freund der Welt, und somit auf dem besten Weg vishwa mangal zu gewährleisten, also globalen Reichtum. Mit der Trinität, bestehend aus Demokratie, Demographie und Diversität besitze Indien die nötigen Zutaten, um seine Träume zu erfüllen. Er lobt zudem die Wissenschaftlerinnen, die im Bereich der indischen Raumfahrt aktiv sind.

In Walferdingen sind Flaggen abwesend. Die Cricket-Spieler erklären, man wolle das Spielfeld nicht politisieren, denn in manchen Teams spielen Pakistanis, Afghanen und Briten. Insbesondere zwischen Indien und dem Nachbarland Pakistan flammen seit der Teilung 1947 immer wieder militärische Konflikte wegen der Besitzansprüche über den Kaschmir auf. Die Teilung führte zu einer Fluchtbewegungen, bei der fast zehn Millionen Hindus und Sikhs aus Pakistan vertrieben wurden und etwa sieben Millionen Muslime aus Indien. Viele Menschen starben bei dieser Vertreibungswelle, schätzungsweise fast eine Million. Zwar wollte man im Verlauf des Nachmittags vor dem Frauenspiel in Walferdingen gemeinsam die indische und luxemburgische Flagge schwingen und beide Nationalhymen singen, doch der Regen cancelte vorerst die Zeremonie. Um den Unabhängigkeitstag dennoch zu unterstreichen, teilte die IAL über ihre Facebook-Seite ein Video von drei Kindern, die auf Hindi singen: „Wir werden Erfolg haben. Wir werden eines Tages erfolgreich sein.“ Sie stehen unter einer Kuckucksuhr – ein schwarzwäldischer Exportschlager, der in Fernost beliebt ist.

Auf dem Spielfeld ist am Dienstag ebenfalls Vijaykumar Varma anwesend. Er hat zehn Jahre in Singapur gelebt und an der dortigen technologischen Universität gearbeitet. Aufgewachsen ist er in Mumbai. Dann bekam er ein Jobangebot vom List (Luxembourg Insititue for Science and Technology), „das man nicht ablehnen konnte, so gut waren die Bedingungen“, umschreibt er die Anheuerung. Der promovierte Physiker meint, der Forschungsstandort Luxemburg sei ausgezeichnet. „Darüber hinaus sind die Leute hier freundlicher und weniger gestresst als in Singapur. Man legt in Luxemburg Wert auf eine ausgewogene Work-Life-Balance.“ Sein Sohn könne in Esch-Alzette in einem wohlwollenden Umfeld aufwachsen. Ins Schwimmbad-Café gehen sie, um Einheimische kennenzulernen. Seine Partnerin hat einen Doktortitel in Neurowissenschaften und in den USA ein Post-doc absolviert. Bald suche sie einen Job im Start-up Umfeld. Zurzeit ist sie mit dem Sohn in Indien, um ihre Familie zu besuchen. „An dieser Schnittstelle zwischen Forschung und Unternehmertum tut sich gerade viel.“ Das Paar hat entschieden zu bleiben und Luxemburgisch zu lernen. Eine Sprache, die ihr Sohn bereits beherrscht – er geht in Esch in die öffentliche Schule. Vermisst er manchmal seinen Geburtsort? „Ja, wie die meisten vermisse ich meine Eltern, aber wenn man als Forscher im Leben vorankommen will, muss man seiner Leidenschaft folgen“. Politisch engagieren wolle er sich nicht. „I try to stay away from politics“, sagt der sich als Atheist und Freidenker Bezeichnende.

Ein Mann mit orangenen Cricket-Shirt spricht fließend Luxemburgisch. „Ich bin 1983 im Kindergartenalter von Delhi nach Mamer gekommen und habe dort die staatliche Schule besucht. Mein Vater war als Unternehmer in Europa tätig und hat sich schließlich hier niedergelassen“, erzählt Jay Gianchandani. Er ist Mitglied des Stars Cricket Vereins, einem der größten und - mit seinem 30-jährigen Bestehen – zweitältesten Club. Wie reagierten die Einwohner Luxemburgs auf eine indische Familie in den 1980-er-Jahren? „Damals lebten bereits Portugiesen und Italien in Mamer. Vor allem in meiner Kindheit waren die Menschen offen. Erst mit dem Jugoslawien-Krieg änderte sich die Stimmung; plötzlich wurde ich gefragt, wo ich herkomme“, erinnert sich der Daten-Analyst der Spuerkeess. Anstrengend sei in seiner Jugend überdies gewesen, kaum auf vegetarische und vegane Gerichte zu stoßen. „Fleischabstinenz übt meine Familie während dem Lichterfest Diwali, einem fünftägigem Hindufest im Herbst. Früher war das eine komplizierte Phase, heute ist das anders.“

Von den Nicht-EU-Bürgern machen Inder seit einigen Jahren die Hautgruppe der Zugezogenen aus. 2022 meldeten sich Eurostat zufolge 1 304 Inder hier an, insgesamt sind es 4 657 Personen, die die indische als Erstnationalität angeben. Weit vor Syrern (497) und Brasilianern (487) die auf Platz zwei und drei folgen. Inder sind mit ihren durchschnittlich 29 Jahren besonders jung. Oder anders ausgedrückt: Ihr Alter weist sie als Berufseinsteiger aus. Vergleicht man die Volkszählung von 2011 und 2021, stellt man einen Anstieg der ausländischen Bevölkerung um fast 38 Prozent fest. 2021 besitzen 304 051 Einwohner/innen nicht die luxemburgische Nationalität, das entspricht 47,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Walferdingen zählt verhältnismäßig viele Inder – 104 insgesamt. Weitere Speckgürtel-Gemeinden in denen Inder wohnen, sind Strassen (248), Hesperingen (184) und Bartringen (102). In Luxemburg-Stadt sind vor allem im Bahnhofsviertel (251) viele Inder ansässig, wie auch auf dem Cents (195) und in Gasperich (196), gefolgt von Hollerich, Kirchberg, Merl und Limpertsberg. Nahezu abwesend sind sie im Viertel Pfaffental und der Pulvermühle. Im Süden stechen Esch und Differdingen mit jeweils um die 300 hervor.

Im Januar meldete die Agentur Asian News International: „Luxembourg PM told me he is Modi bhakt [Anhänger].“ Ein BJP-Politiker erzählte in dem Beitrag, Xavier Bettel habe ihm, nachdem die beiden ein Selfie geschossen hatten, offenbart: „I am bhakt [follower] of Modi... show it to him.“ Der BJP-Politiker sei froh, dass das Charisma von Modi nicht nur in Indien ausstrahle, sondern seinen Weg nach Europa gefunden habe. Auf Nachfrage des Land dementierte das Staatsministerium die Nachricht nicht und unterstrich die ausgezeichnete Beziehung zwischen Xavier Bettel und Narendra Modi, die während des India-Luxembourg Virtual Summit im Jahr 2020 gefestigt worden sei. Der Rechtsnationalist Narendra Modi lenkt die Geschicke Indiens seit 2014. Seit 1947 beruht die indische Demokratie auf dem allgemeinen Wahlrecht, säkularen Prinzipien und Religionsfreiheit. Allerdings rüttelt die hindunationalistische Politik des Premiers immer wieder an diesen Prinzipien. Im Oktober 2020 lies er beispielsweise die Büros der unabhängigen The Kashmir Times schließen. Daneben fördert die BJP einen gesellschaftlich-kulturellen Wandel, in dem eine anti-pluralistische Rhetorik in Bezug auf religiöse Zugehörigkeit ein Klima der Angst schafft. Es ermutigt radikale Hindus dazu, teils gewaltsam gegen Minderheiten und kritische Stimmen aus der Zivilgesellschaft aufzutreten. Im öffentlichen Raum deutet die hindunationalistische Führung die Epochen, in der die vedisch-brahmanischen Traditionen vorherrschten, als das wahre Indien. Aber nicht nur ethnische Minderheiten, auch viele Hindus teilen die hindunationalistischen Ideale des BJP nicht und wollen den demokratischen Charakter ihres Landes nicht gefährdet sehen, was Beobachter optimitsch stimmt.

Neben den geopolitischen Schwerpunktsetzungen der EU pflegt Luxemburg keine spezifischen bilateralen Beziehungen. Eher sind es einzelne Unternehmen, die auf reibungslose Verfahren setzen. In Indien tätig sind die Hauptplayer Paul Wurth, Ceratizit, Cargolux, SES, Arcelor Mittal und Amer-Sil (Hersteller von industriellen Batterien). Die EU kommt ihrerseits zusehends nicht mehr an Modi vorbei, da er die indo-pazifische Strategie initiierte, die eine Allianz demokratischer Staaten in Asien gegen China bildet. Seit langem fährt Indien einen chinaskeptischen Kurs aufgrund von territorialen Ansprüchen an der Grenze von Sikkim. Der Subkontinent bleibt ein wichtiger Verbündeter, zumal die EU vor einem Monat ihre Derisking-Strategie gegenüber China präzisierte, um ihre Abhängigkeit von der Volksrepublik zu schwächen.

„Gespräche über Religionen und Politik vermeiden wir in den Cricket Clubs größtenteils“, sagt Shameek Vats, einer der besten Cricketspieler Luxemburgs, der am Dienstag ein Auswärtsspiel in Belgien bestritt. An der Universität in Belval hat er seinen Doktortitel in Physik abgeschlossen und forscht derzeit am LIST an Nanofasern. Seit zehn Jahren lebt er nicht mehr in Indien. Um Weihnachten besucht er einmal jährlich die Familie und beobachtet zugleich die Veränderungen in seinem Geburtsland: „Die Menschen werden engstirniger, sie setzen sich weniger für Menschenrechte ein als zuvor. Parallel dazu gibt es enorme technologische Fortschritte und die Digitalisierung schreitet voran: Jeder besitzt heute ein Smartphone. Diese ganze Entwicklung ist allerdings an einen massiven Ressourcenverbrauch und Umweltverschmutzung gekoppelt, deshalb bin ich nicht immer zuversichtlich, was die Zukunft von indischen Städten angeht.“ Luxemburg seinerseits sollte vermeiden, umweltschädliche Produktionen in Länder wie Indien auszulagern. Einiges hat ihn in Europa überrascht: „Die meisten europäischen Länder sind monolingual, wie Finnland, wo ich meinen Masterabschluss gemacht habe. In Indien sind hingegen 23 Amtssprachen eingetragen, wenngleich die meisten davon nur regionale Amtssprachen sind“. Außerdem würde in Europa ein anderes Verständnis von Privatsphäre herrschen. „Es ist undenkbar für europäische Studierende, ein Zimmer mit einer weiteren Person zu teilen“, wunderte er sich damals bei seiner Ankunft. „Und es fehlt an Cricket-Feldern“, lacht er. Mittlerweile dürfte Luxemburg 300 Spieler/innen zählen.

Aseem Kshirsagar ist nicht der größte Cricket-Enthusiast. Er verfolgt derzeit eher poltische Debatten und stellte sich bei den Kommunalwahlen am 11. Juni auf der Liste von Déi Lénk zur Wahl. „Ich war schon immer politisch interessiert und verfolge in Luxemburg die Nachrichten über RTL Today, Delano und Übersetzungsprogramme. Vor allem die Situation auf dem Immobilienmarkt hat mich beschäftigt. Ich habe selber ewig gebraucht, um eine Wohnung zu finden.“ Bei einer Veranstaltung über zivilgesellschaftliches Engagement in dem Verein Action Solidarité Tiers Monde lernte er Mitglieder von Déi Lénk kennen. Er wolle darauf hinweisen, wo es an englischen Übersetzungen mangelt und die Perspektive von Nicht-EU-Bürgern in die politische Debatte einbringen. Tagsüber arbeitet er in Belval an der Universität Luxemburg, wo er als Post-Doc in Physik angestellt ist.

„Heute hole ich meinen luxemburgischen Pass ab“, sagt Sriram Rangarajan, ein Kandidat, der in Strassen bei Déi Gréng auf der Liste stand. „This is now my country“, lächelt der in Tamil Nadu Geborene zwei Tage nach dem Unabhängigkeitsfest in Walferdingen. Nach seinem Master-Abschluss wurde er von einer amerikanischen Firma, die in Luxemburg-Stadt ansässig ist, abgeworben. Luxemburg ähnele der Bay Area während der Jahrtausenswende, es tue sich einiges im Bereich der Digitalisierung. Seine neue Heimat sei innovativ und mache es Ausländern leicht, sich zivilgesellschaftlich zu beteiligen, schwärmt der Business-Manager, der zuvor mehr als zehn Jahre in Singapur lebte. Zugleich vermisse er Indien und seine Familie „terribly“. Um seinem Kummer Luft zu machen, singe er klassische indische Songs, gesteht der frisch Naturalisierte. Warum nahm er an den Kommunalwahlen teil? „Da mein Herzensthema der Umweltschutz als integraler Teil aller Prozesse ist, und Déi Gréng dieses Anliegen in ihrer DNA tragen, wollte ich mich politisch beteiligen“. Die Partei kennt er durch seine Nachbarin, die ebenfalls bei Déi Gréng aktiv ist.

Auch Ankush Nanda will sich bald naturalisieren lassen, wie auch viele seiner Arbeitskolleg/innen. Er arbeitet bei Amazon im Finanzbereich. „I really like Luxembourg. Hier herrscht Meinungsfreiheit und der Lebensstandard ist sehr hoch, vor allem was die medizinische Versorgung und das Schulwesen betrifft“, erläutert der Finanzexperte. Amazon ist der Hauptarbeitgeber von Inder/innen. „Es müssten um die 800 sein – Süd- und Nordinder gemischt“, schätzt Anush Nanda. Sie arbeiten im IT- und Finanz-Bereich oder als Projekt-Manager. Deshalb verfolge man was im Großherzogtum gerade debattiert wird und disktuiere am Arbeitsplatz darüber. Als erste Presse-Anlaufstelle wird RTL erwähnt. Zugleich verfolge man die Debatten in Frankreich, da die bei Amazon angestellten Inder überwiegend dort studiert haben.

In Walferdingen tropft der Regen auf die Getränkeliste, auf der in Großbuchstaben „Crémant“ notiert steht. Sahil Goel zeigt soltz auf ein paar Flaschen Sekt – die bewahre man auf, um sie am Abend an die freiwilligen Helfer/innen zu verschenken. Das luxemburgische Symbolgetränk hat seinen festen Platz in der indischen Gemeinschaft.

Stéphanie Majerus
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