„So ein Ultimatum, wie es Martin Schulz vor einigen Tagen geäußert hat“, sagte János Lázar, Kanzleramtschef des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, „wurde Ungarn das letzte Mal von Adolf Hitler gestellt. So ein Ultimatum hat Ungarn in den letzten70 bis 80 Jahren nicht mehr bekommen.“ Dies war eine Antwort auf die Vision der Vereinigten Staaten von Europa, die der gescheiterte Kanzlerkandidat Schulz vorvergangene Woche auf die politische Agenda gesetzt hatte. Der Vorsitzende der SPD hatte während des jüngsten Parteitags gefordert, die Idee der Vereinigten Staaten von Europa in den nächsten sieben Jahren zu realisieren. Die EU-Mitglieder, die dieser föderalen Verfassung nicht zustimmen, sollten dann die Union verlassen. Schulz verwies dabei ausdrücklich auf Ungarn.
Diese Idee des Staatenbunds nach dem Vorbild der USA ist nicht neu. Schon 1925 hatten sich die deutschen Sozialdemokraten erstmals dafür ausgesprochen, wenn auch unter anderen Vorzeichen und ohne ein konkretes Datum zu nennen. Es gehe ihm nicht darum, führte Martin Schulz seinen Plan weiter aus, die Nationalstaaten abzuschaffen, sondern die Integration in Europa zu vertiefen. „Ich wage von Dingen zu träumen, die es niemals gab, und frage: Warum nicht?“, zitierte Schulz dabei den englischen Dichter Robert Browning. „Lasst uns in diesem Sinne die Vereinigten Staaten von Europa schaffen.“
Im Bundestagswahlkampf im Spätsommer diesen Jahres ließ Merkels Herausforderer allerdings diese Emotionen, diese Vision von und für Europa vermissen. Dabei ist es genau das emotionale Verständnis, die irrationale Wahrnehmung der Europäischen Union, die in Tagen wie diesen – als die EU ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen einleitet – die Wahrnehmung Europas trübt. Es scheint vernünftig und ein Gebot der Globalisierung zu sein, dass die EU als Ganzes weltweit eher ernst genommen wird, wenn zunehmend Entscheidungsprozesse von der nationalen auf die supranationale Ebene verlagert werden. Brüssel statt Berlin, Warschau oder Paris. Doch die Bürger der Union misstrauen ihrer Vernunft. Sie wollen in Europa überschaubare Entscheidungsprozesse, in denen vertraute Gremien wie nationale Parlamente die Richtung der Politik vorgeben. Und mehr noch: in einer verständlichen Sprache sprechen.
Die Vereinigten Staaten von Europa – so edel diese Idee auch sein mag, ist es nicht gerade das Thema, das die Menschen in der EU derzeit beschäftigt oder bewegt, auch wenn das Jahr 2017 nicht unbedingt ein Krisenjahr war. Scheinbar. In Polen schreitet die Demontage des Rechtsstaats weiter voran. In Italien kann es bei den Parlamentswahlen im Frühjahr einen deutlichen Rechtsruck geben. In Deutschland lähmt die umständliche Regierungsbildung die Politik. Der Streit über die Flüchtlingsquoten, den gerade Donald Tusk, Ratschef der EU, befeuert hat, könnte zu einem Offenbarungseid der Union führen: Wenn es tatsächlich Krisen gibt, ist Europa schlichtweg nicht zu einem solidarischen Handeln fähig. Überhaupt wird sich die Zukunft der Europäischen Union in Osteuropa entscheiden. Die Frage, inwieweit Staaten wie Polen, Tschechien oder Ungarn in den kommenden Jahren in zentralen Bereichen der europäischen Politik – der Währungsunion, der Sicherheitspolitik und der Unterstützung gemeinsamer Werte wie der Rechtsstaatlichkeit – mittragen, wird von entscheidender Bedeutung sein. Wenn es den Verantwortlichen in Brüssel wie in Berlin, Paris und Luxemburg gelingt, diese Länder an die Euro-Staaten heranzuführen, dann wäre das ein Erfolg für all diejenigen, die eben jenen neuen Mitglieder der Union nicht aus den Augen verlieren wollen. Gelingt es nicht, dann wird sich die Währungsunion zum harten Kern der Union entwickeln. In etwa so, wie es Emmanuel Macron plant.
Diese Strategie für die Zukunft der EU steht auf der Tagesordnung. Mit hoher Dringlichkeit. Spätestens Mitte des neuen Jahres muss sich Berlin entscheiden, inwieweit Deutschland den Wünschen des französischen Präsidenten für eine finanzielle und institutionelle Stärkung der Euro-Zone entgegenkommt. Dabei kann die Vision der Vereinigten Staaten von Europa durchaus hilfreich sein – allerdings ohne eine Frist von sieben Jahren zu setzen und Länder, die heute noch nicht so weit sind, direkt vom Spielfeld stellen zu wollen.
Für die Anfang Januar beginnenden Sondierungsgespräche zwischen CDU, CSU und SPD soll das Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ eher als „visionäres Bekenntnis denn als praktische Forderung an die Union“ sein, wie SPD-Parteivize Olaf Scholz klarstellte. Dennoch wiesen die Christsozialen den Plan umgehend zurück: Er spalte Europa. „Es gibt keinen Familiennachzug für Subsidiäre, keine Bürgerversicherung und keine Vereinigten Staaten von Europa“, fasste Volker Kauder, Frak-
tionsvorsitzender der CDU im Bundestag, die Position der Christdemokraten zusammen. Angela Merkel äußerte sich nicht zu den Plänen und Visionen von Martin Schulz. Sie möchte den Wunsch-Koalitionspartner nicht verprellen. Oder ihr fiel kein passendes Zitat eines englischen Dichters ein.