Lehrer sortieren Kinder nach ihrer sozialen Herkunft. Eltern aber noch viel stärker

Misstrauenserklärung

d'Lëtzebuerger Land du 31.08.2012

Als im Februar die sozialistische Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres die überarbeitete Orientierungsprozedur von der Grundschule auf die weiterführende Sekundarstufe vorstellte, nahm das die Presse achselzuckend hin. So lange hatte man auf die Reform gewartet, dass nun, als sie endlich vorlag, keine großen Gefühle aufkamen.

Außer beim Dachverband der Elternvereine Fapel.„Wir waren wie versteinert. Es konnte doch nicht sein, dass die alte Prozedur, die für so viel Probleme gesorgt hat, auch noch festgeschrieben werden soll“, sagt deren Präsidentin Michèle Retter.

Geht es nach dem Ministerium, ändert sich am alten Orientierungsverfahren nicht viel. Weiterhin ist es der Conseil d’orientation, also die Schule, die entscheidet – ab nächstem Schuljahr statt auf Grundlage des 60-Punktesystems dann eben anhand von Portfolio, kompetenzorientiertem Bilan, Leistungstest – und, so steht es ausdrücklich im Text, entlang der Interessen und Wünsche des Kindes. Im Conseil sind die Eltern aber nicht mit am Tisch, ihre Meinung wird schriftlich eingeholt.Immerhin besitzt das Ministerium den Anstand, das Verfahren das zu nennen, was es ist: eine Entscheidung über die Schullaufbahn eines Schülers und eben keine Empfehlung.

„Wir werden das nicht so hinnehmen“, entrüstet sich Retter, das Ministerium habe eine „Gelegenheit verpasst“. Die Präsidentin der Elterndachorganisation, selbst Mutter, erinnert sich noch genau, wie die Stimmung bei den Eltern war, als die neue Prozedur vorgestellt wurde: Die meisten seien „frustriert gewesen“.

Kampflos aufgeben wollten die Mütter und Väter nicht, sondern lieber selbst einen Vorschlag ausarbeiten. Einige Monate Kopfzerbrechen später präsentiert die Fapel nun ihr eigenes Modell. Kernidee: nicht die Schule, sondern die Eltern entscheiden über den Werdegang ihre Töchter und Söhne. „Wir wollen, dass unsere Kinder ganz in den Blick genommen werden, mit allen ihren Fähigkeiten und nicht nur den Kompetenzen in den Hauptfächern“, sagt Retter. Um die richtige Entscheidung treffen zu können, soll Eltern ein unabhängiger regionaler Beratungsdienst zu Seite stehen – spezialisierte Profis mit nachgewiesenen Kenntnissen in Lerndiagnostik, einer eigenen Berufsethik und Leitsätzen. „Die Berater sollen den Eltern alle nötigen Informationen über Schule, Berufswege, über nötige Fördermaßnahmen und Erziehungshilfen geben“, erklärt Retter. Und zwar nicht erst in der sechsten Klasse, sondern immer dann, wenn es Fragen zu Übergängen, Versetzungen, Berufsbilder und anderes gibt.

Unabhängig müsse der Dienst deshalb sein, so Retter, denn die „Luxemburger Schule hat das Vertrauen der Eltern verspielt“. Sie betont, dass manche Lehrer eine exzellente Arbeit machen. Ihr geht es jedoch um den allgemeinen Trend – und der sei negativ und selektiv: „Sämtliche Studien beweisen, dass unser Schulsystem sozial ungerecht ist“, so Retter.

Doch kann der Elternentscheid dieses Defizit beheben? Die Fapel untermauert ihre Aufwertung der Elternrolle bei der Schulwahl mit erziehungswissenschaftlichen Studien aus dem Ausland, die den großen Einfluss des Elternhauses auf die schulische Entwicklung eines Kindes und den späteren Berufsweg belegen. In Deutschland haben Untersuchungen nachgewiesen, dass am Ende der Grundschulzeit, wenn die Kinder auf die verschiedenen Schulzweige empfohlen werden, rund ein Drittel an einer für sie nicht geeigneten Schule landet: Sie werden vom Gymnasium ferngehalten, obwohl sie dafür geeignet sind, oder zum Gymnasium geschickt, obwohl das nicht ihrer Neigung und ihrem Können entspricht. Manche Bildungsexperten, wie der Erziehungswissenschaftler Joachim Tiedemann der Uni Hannover, finden deshalb, am besten man sortiere die Kinder gar nicht.

Empirisch belegt ist auch, dass Empfehlungen eher nachteilig ausfallen, wenn in einer Klasse viele gute Schüler sind. Dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu bekommen, fand Bildungsforscher Ulrich Trautheim von der Uni Tübingen heraus. Darum aber auf die Eltern zu vertrauen, sei nicht der richtige Weg. Jedenfalls nicht, wenn es um das Ziel mehr Bildungsgerechtigkeit geht. „Wenn Eltern die freie Wahl haben, findet man besonders große Effekte der sozialen Herkunft: Akademikereltern schicken ihre Kinder eher aufs Gymnasium, Arbeiter die ihren eher auf die Haupt- oder Realschule. Und das bei gleicher Leistung“, sagte Trautwein in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit.

Um die Versetzungsprozedur sozial und individuell fairer zu gestalten, hatte das Luxemburger Unterrichtsministerium 2004 den Conseil d’orientation eingeführt. Das aus einem Schulpsychologen, Inspektor, Klassenlehrer und Sekundarschullehrer zusammengesetzte Gremium sollte entlang von mehreren Faktoren – Noten, Leistungstests und Beobachtungen zum Lernverhalten und zur persönlichen Entwicklungen – eine differenzierte, gut begründete Entscheidung über die weitere Schullaufbahn fällen. Doch Jahre später ist die Bilanz ernüchternd: „..nous devons malheureusement constater que nous sommes toujours très loin de ce type d’orientation“.

Dann also jetzt die Eltern? „Ich weiß, dass wir den sozialen Faktor nicht ausschalten. Aber das kann auch die Schule nicht. Das kann keiner“, ist Michèle Retter überzeugt. Sie pocht darauf, den Eltern die Entscheidung zu überlassen. „Die meisten Eltern sind sich ihrer Verantwortung bewusst. Sie machen sich die Entscheidung nicht leicht“. Ganz scheint sie ihrem Urteil aber nicht zu trauen: Die Fapel will eine verpflichtende Orientierungsberatung, um auch jene zu erreichen, „die sich sonst vielleicht wenig für die schulische Entwicklung ihrer Kinder interessieren“, so Retter. Merkwürdig ist allerdings, dass bei aller – berechtigter – jahrelanger Kritik, die die Elternorganisation am selektierenden Charakter der Luxemburger Schule hat, dieses Argument ausgerechnet bei den Eltern nicht greifen soll.

An dem Beharren auf einen Elternentscheid ist die Politik nicht unschuldig. Jahrelang haben Eltern mehr Mitspracherecht in der Schule gefordert. Aber noch immer gibt es Lehrer, die sich schwer damit tun, mit den Eltern das Gespräch zu suchen. Ratlosigkeit, zum Teil sogar offene Arroganz herrscht, wenn es darum geht, die Eltern bei der weitere Schulwahl einzubinden. „Je mehr Akteure, wir in die Schule hineinbringen, umso mehr muss sie sich öffnen“, hofft Retter – und das spricht Bände. Obwohl mit der Grundschulreform Eltern mehr Mitspracherecht bei der Gestaltung ihrer Schule bekommen, geht der Wandel langsam – und vielen nicht weit genug. In einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit auch in Luxemburg steigt, und einen sicheren gut bezahlten Job zu finden schwieriger wird, vor allem aber in einem Land, in dem, die Magrip-Studie hat das bewiesen, wie in keinem anderen die spätere Karriere an der schulischen Erstausbildung hängt, überrascht es nicht, dass Eltern darauf pochen, bei einem der Schlüsselmomente in der Bildungslaufbahn ihres Kindes mitzureden.

Retter weiß die Basis hinter sich, sie ist optimistisch, auch andere Schulakteure für ihren Vorschlag begeistern zu können. Bei einer ersten Vorstellung im Juni hätten Beamte des Unterrichtsministe-riums Interesse signalisiert. Im September will die Elternorganisation ihren Vorschlag mit der Ministerin diskutieren.

Dass diese die Verordnung zurückziehen wird, ist dennoch unwahrscheinlich. Der Zeitplan ist eng, im nächsten Jahr sollen die ersten Grundschuljahrgänge nach dem neuen Verfahren orientiert werden. Der Regierungsrat hat der Reform schon im Februar grünes Licht gegeben. Ein neues Orientierungsverfahren dürfte zudem erheblichen Widerspruch provozieren. Vielleicht weniger von Seiten der Grundschulelehrer, die noch dabei sind, sich mit den Bewertungsmethoden vertraut zu machen. Aber weil die Orientierung über die (soziale) Zusammensetzung der Sekundarschulen entscheidet, wachen Schulleitungen und Lehrer argwöhnisch darüber.

Dabei wäre noch ein anderer Weg denkbar, sozusagen als vertrauensbildende Maßnahme in Richtung Eltern: Wenn die Politk nicht auf den Weg gehen will, Schüler im tronc commun länger zusammen zu unterrichten, warum nicht einen Orientierungsrat schaffen, in dem Lehrer, Eltern und Schüler gemeinsam über die weitere Schulwahl diskutieren, statt Eltern nur indirekt schriftlich zu beteiligen? Nicht im Sinne von Konfrontation, sondern von Verständigung. Wo Lehrer zwar entscheiden, ihre Wahl aber diagnostisch begründen müssen. Das stärkt die demokratische Kultur, die auch beinhaltet, mit Meinungsdivergenzen professionell umgehen zu können. Dass würde aber verlangen, dass vor allem die Ministerin diese Kontroverse nicht scheut. Die wird sich, will sie doch ihre Sekundarschulreform noch diese Legislaturperiode durchbringen, neuen Ärger jedoch kaum leisten.

Ines Kurschat
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