Einen Staatshaushalt aufzustellen, wird eine immer vertracktere Angelegenheit. Sicher ging es auch früher darum, den Verteilungskampf zu verwalten, wer dem Staat am wenigsten Steuern zahlt und wer am meisten an Zuschüssen, Dienstleistungen und öffentlichen Einrichtungen vom Staat bekommt. Aber spätestens seit der Einführung der gemeinsamen Währung gleicht die Haushaltsprozedur immer mehr der Strafprozessordnung: Es genügt längst nicht mehr, dass das Finanzministerium im Einklang mit den anderen Ministerien ein Budget aufstellt. Es gibt immer mehr Kontrollinstanzen, die den Haushaltsentwurf begutachten, kritisieren und verwerfen, nicht nur bei der Europäischen Kommission und dem Europäischen Ministerrat, sondern auch hierzulande: der parlamentarische Berichterstatter, die Berufskammern, der Staatsrat sowieso, der Rechnungshof, die Zentralbank, bei sonnigem Wetter der Wirtschafts- und Sozialrat und nun auch der Conseil national des finances publiques.
Im gestrengen Ton von Untersuchungsrichtern verfassen sie alle Haushaltsgutachten doppelt und dreifach. Zur Demonstration seines Sachverstands und zur Rechtfertigung seiner Existenz gibt sich einer kritischer als der andere. Wenn es um die Haushaltsprozedur geht, ist noch niemand auf die Idee von Entbürokratisierung, schlankem Staat und kurzen Verwaltungswegen gekommen, sondern die Prozedur wird Jahr für Jahr barocker, das Heer der Gutachter größer. Selbstverständlich geht es noch immer um den Verteilungskampf um Steuern und Ausgaben, aber in einer bürokratischen und kasuistischen Abstraktion und Verklärung fabelhaften Ausmaßes.
Das leuchtendste Symbol dieser Entwicklung ist der strukturelle Saldo. Als das Parlament mit einem etwas unguten Gefühl vor einem Jahr das Gesetz über den Stabilitätspakt, das Six-Pack, das Two-Pack und die goldene Defizitbremse verabschiedete, mit dem auch der unabhängige, von einem ehemaligen hohen Beamten des Finanzministeriums geleitete Conseil national des finances publiques geschaffen wurde, wurde auch beschlossen, dass der Staat seine Finanzpolitik künftig am mittelfristigen Ziel eines strukturellen Saldos ausrichten müsse. Doch zu dem Zeitpunkt stand noch nicht einmal fest, wie der strukturelle Saldo berechnet werden sollte. Klar war bloß, dass der Saldo ziemlich willkürlich festgelegte 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen muss, einen der höchsten Sätze in der Euro-Zone, weil das Umlageverfahren der Rentenversicherung als Kapitaldeckungsverfahren angesehen wird. Inzwischen ist klar, dass der Saldo konjunkturell bereinigt berechnet werden soll, indem eine mit einem ziemlich willkürlich festgelegten potenziellen Bruttoinlandsprodukt errechnete Produktionslücke mit einem ziemlich willkürlich von der OECD für Luxemburg festgelegten Satz von 0,44 multipliziert wird.
Weil das Bruttoinlandsprodukt aber in einer Volkswirtschaft, wo fast die Hälfte der Beschäftigten außerhalb des Landes wohnen, wenig aussagekräftig ist, hatte das Finanzministerium vergangenes Jahr ziemlich willkürlich und ohne weitere Erklärungen eine nationale Version des strukturellen Saldos erfunden, ähnlich derjenigen bei der Indexberechnung. Dieses Jahr greift das Finanzministerium ziemlich willkürlich und ohne weitere Erklärungen auf die von der Europäischen Kommission vorgegebene Methode zurück. Vielleicht, um sich keine Abweichung von den Vorgaben der Kommission vorwerfen zu lassen, vielleicht, weil der Haushaltsentwurf dann besser aussieht. Der Conseil national des finances publiques schlägt jedenfalls vor, sich dringend auf eine Methode zu einigen, laut der der Staatshaushalt schon heute riskiert, eine „signifikante Abweichung“ aufzuweisen und ein Sanktionsverfahren auszulösen. Wäre da nicht Finanzminister Pierre Gramegna (DP), der am Dienstag vor dem Parlament abwiegelte, auch unter Statistikern habe niemand die Wahrheit gepachtet.