Graas, Marc: Das Theaterstück von Norvik

Walverwandtschaften

d'Lëtzebuerger Land du 12.08.2010

Wenn „realistisch“ bedeutet: den Dingen der sogenannten „wirklichen Welt“ entsprechend, dann muss in einem Roman nicht alles realistisch sein. Man braucht zum Beispiel die Orte, an denen sich die Handlung abspielt, nicht wiedererkennen und auf einer Landkarte abstecken zu können. Der Autor kann den Ort einfach erfinden. Er muss dabei nicht einmal an einen „real“ existierenden Ort denken. Marc Graas zum Beispiel schreibt im Vorwort zu seinem zweiten Roman, Das Theaterstück von Norvik, er wisse nicht genau, wo sich Norvik befinde; „vielleicht irgendwo in Island“, vermutet er. Das ist völlig legitim, meint doch literarische Wahrheit eigentlich nichts anderes als Wahrscheinlichkeit. Der Leser muss glauben können, dass sich eine Handlung innerhalb des vom Roman beschriebenen zeitlichen und räumlichen Kontextes genau so zutragen könnte, wie sie der Autor beschreibt.

Schwierig wird diese Kommunikationsstruktur zwischen Autor und Leser, wenn sich die im Roman behauptete Welt mit dem Weltwissen des Lesers nicht vereinbaren lässt. Man liest da von einer Hauptfigur, dem etwas lethargischen Akademiker Torre, von dem es heißt: „Seine Kollegen waren inzwischen schon habilitiert oder hatten gut bezahlte Jobs als Theaterdirektoren oder Kulturkritiker angenommen.“ Da ist also nicht nur der Ort erfunden, sondern auch das kulturelle und universitäre Milieu. Diese Vermutung bewahrheitet sich, als es sich Torre wochenlang leisten kann, sich in Norvik mit ein paar Einwohnern über ein Theaterstück zu unterhalten, das seit über dreißig Jahren aufgeführt wird („Das war Weltrekord, wie sein Professor meinte.“ – Den Jedermann gibt es in dieser Welt zum Beispiel also auch nicht.) und regelmäßig Schlägereien und sogar Morde zu provozieren scheint.

Das Stück ist ein schmierenhaftes Bauerndrama, das ohne Textvorlage und von stümperhaften Schauspielern aufgeführt wird, heißt es weiter. Das Weltwissen sagt: Mit einer provinziellen Theateraufführung können Mord und Totschlag nur bedingt zu tun haben. Wenigstens in diesem Punkt bleibt der Roman „realistisch“. Was nämlich ans Licht kommt, ist eine Jahrzehnte alte Sippenfehde zwischen den Walfängern und den Schiffsbauern in Norvik, die irgendwie (man erfährt nicht, wie) von der gesamten Stadtbevölkerung Besitz ergriffen hat.

Das Weltwissen wird weiter strapaziert, wenn es in Das Theaterstück von Norvik dann bald drunter und drüber geht. Der Leser erfährt in Rückblenden die Vorgeschichte der besagten Sippenfehde: Ein begabter Walfänger namens Sven fängt sich im Etablissement einer Madame Pompadour („aus Paris, wie sie sagte“) Syphilis ein –; was sonst, es ist schließlich die Paradekrankheit der Seefahrer. Er heiratet die Tochter des Schiffsbauers, wird nach und nach verrückt, es kommt zum Ehedrama, es kommt zu zertrümmertem Mobiliar, es kommt zu einem unehelichen Kind mit einer Dienstmagd und zu jeder Menge Zeter und Mordio. Einige Figuren sterben, andere werden in eine psychiatrische Anstalt verfrachtet. Torre kommt dieser Geschichte im Laufe des Romans auf die Spur und begibt sich dadurch (man erfährt nicht so genau, warum) in Todesgefahr. Am Ende wird er sogar fast von einem unheimlichen Norviker ermordet (von dem man leider auch nicht so genau weiß, in welcher Weise er an der ganzen Sache beteiligt ist).

Die Glaubwürdigkeit von Das Theaterstück von Norvik lässt sich vermutlich ein Stück weit dadurch retten, dass man das Buch in die Sparte „Unterhaltungsliteratur“ einordnet. Vielleicht fällt es da nicht so sehr ins Gewicht, dass die Handlung rettungslos überfrachtet ist und einzelne Passagen (das Walfangkapitel zum Beispiel) keinerlei dramatische Funktion haben, und dass zwar ganz viele große Gesten, aber nur wenige psychologische Entwicklungen beschrieben werden. Woran die Glaubwürdigkeit des Romans aber auf jeden Fall scheitern muss, ist, wenn der Autor den Duden für ein Kompendium von bloßen Empfehlungen hält und sich in irritierender bis völlig unverständlicher Bildlichkeit ergeht.

Da steht jemand da „wie ein zusammengewringtes (sic), nasses Badetuch“, ein Zwist „war unerwartet wieder aufgelebt, wie ein altes, überflüssiges Gespenst, das von seinem Dachboden heruntergestiegen war um Unruhe zu stiften“ und eine Figur erschrickt, als sie „ihr Haar ungebändigt wie eine Krone um ihr verweintes, geschwollenes Gesicht“ sieht. Da sagt das Weltwissen: Als nasses Badetuch steht es sich in der Tat schlecht, Überflüssigkeit ist ein absurdes Merkmal für Wesen, die es nicht gibt, und Kronen setzt man auf den Kopf und nicht darum herum.

Dass jemand so schreibt, ist eine Sache. Dass jemand anderes es genau so abdruckt, ist eine andere. Sämtliche Lektoren dieses Buches gehören gekniffen und an den Ohren gezogen.

Marc Graas: Das Theaterstück von Norvik; Roman; Éditions Saint-Paul, Luxembourg 2010.
Elise Schmit
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