Serge Tonnar, Folkmusiker, spricht über seine Rolle bei déi Lénk, nationale Minderwertigkeitskomplexe und kulturellen Snobismus – und darüber, weshalb er sich wiederholt Shitstorms aussetzt

In der Opposition

Serge Tonnar auf einem Trampolin
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 11.08.2023

Als wir um 14 Uhr im Café Atypic am Merscher Bahnhof eintreffen, ist eigentlich Zeit für die Mittagspause. Als wir dem Betreiber sagen, dass wir mit Serge Tonnar verabredet sind, lädt er uns trotzdem in sein Lokal. „Serge“ dürfe auch dort weilen, wenn der Laden geschlossen ist. Ein paar Minuten später trifft der Musiker ein, rot-orangener Schal um den Hals, mit Jackett und schwarzer Outdoor-Hose bekleidet. Er bestellt einen Espresso. Wir setzen uns in den überdachten Innenhof, in dem man sich dank Weinreben und Feigenbaum fast am Mittelmeer wähnen könnte, wenn nicht im Zehn-Minuten-Takt Züge in Richtung südliches Gutland oder Ösling einfahren würden.

d’Land: Wie geht’s?

Serge Tonnar: Gut, danke, Und selbst?

Ganz ok. Glauben Sie immer noch an eine bessere Welt?

Ohje, sofort der Hammer zum Einstieg. Ich glaube nicht an eine bessere Welt oder eine schlechtere. Die Welt ist so, wie sie ist. Man muss selber schauen, was man für das eigene Leben und das seiner Mitmenschen, in der Familie, in der Gesellschaft, verändern kann. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass sie schlechter wird. Doch der Traum einer perfekten Welt wird ein Traum bleiben. Trotzdem könnte ich nicht ohne Ideale leben: Viele Menschen in meinem Alter fangen an, den Idealismus aufzugeben und zynisch zu werden, das würde ich nicht aushalten, dafür bin ich vielleicht zu empfindlich. Ich möchte mich einsetzen, um zumindest den kleinen Teil, in dem ich lebe, ein bisschen schöner zu machen. Hoffentlich. Musik mache ich ja auch in der Hoffnung, den Leuten Freude zu schenken.

Gab es für Ihr politisches Engagement bei déi Lénk einen Auslöser?

Nicht so richtig. Ich habe mich generell ferngehalten von Parteipolitik, auch, um mir eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren. Ein politischer Mensch war ich schon immer. Das spiegelt sich in meinen Texten und Theaterstücken wider. Als vor ein paar Jahren dann Fred Keup in die Abgeordnetenkammer nachrückte, dachte ich, ist die Zeit für ein anderes Engagement vielleicht gekommen. Ich war schon immer Sympathisant von déi Lénk. Das Ungleichgewicht, das zwischen links und rechts überall auf der Welt herrscht, auch in Luxemburg – empfinde ich als nicht normal. Beizutreten war ein impulsiver Moment. Hat man die Entscheidung erstmal getroffen, kommt, was kommt. Klar war, dass ich mich mit meinen Kompetenzen einsetzen wollte. Klar war aber auch, dass ich selbst keine politischen Ambitionen für ein Mandat habe.

Wirklich?

Ich habe ein bisschen hin und her geschwenkt. Wenn ich kandidiere, besteht natürlich die Gefahr, dass ich gewählt werde. Wenn ich die Bewegung unterstütze, ist es das Eine. Aber wenn das Risiko besteht, und das sage ich bewusst ironisch, dass ich meinen Beruf von heute auf morgen aufgeben müsste, da ich ihn nicht mehr in dem Maß ausüben könnte, wenn ich meine Unabhängigkeit als Künstler also aufgeben, Projekte absagen müsste – und wenn ich mir dazu vorstelle, dass ich unter den Menschen in der Abgeordnetenkammer funktionieren müsste, denke ich, dass ich sehr schnell unzufrieden werden würde. Und dadurch auch mein gesamtes Umfeld samt Familie, Partei und andere Abgeordnete.

Ist es ein symbolisches Engagement, wenn kein Mandat beabsichtigt wird?

Man weiß bei déi Lénk, dass man in der Opposition bleibt und eine andere Vision der Gesellschaft hat als jene, in der man lebt. Ich will nicht einfach Mitglied sein, ich bin sofort aktiv geworden. Ich habe dabei geholfen, die Merscher Sektion aufzubauen. Für eine Liste hat es nicht gereicht, dafür ist es dann hier doch zu verstaubt.

Gibt es hier keine linksgesinnten Menschen?

Wenn ja, verstecken sie sich sehr gut. Wobei, die, mit denen ich die Sektion aufgebaut habe, sind wie ich Zugezogene, nicht integriert. Ich wohne seit 25 Jahren hier und bin nicht integriert. Dafür muss man in den Vereinen aktiv sein und auf jedes Dëppefest und zum Fußball gehen. Jedenfalls, um darauf zurückzukommen, ist mein Engagement mehr als symbolisch. Hinter den Kulissen helfe ich tatkräftig mit, auch im Koordinationsbüro. Ich übernehme organisatorische und kreative Aufgaben, schreibe und übersetze Texte, beteilige mich an audiovisuellen Produktionen.

Unserer Zeitung gegenüber haben Sie kürzlich noch nicht ausgeschlossen, dass Sie kandidieren. Sie kokettieren schon damit. Empfinden Sie das als ein Spiel?

Das Spiel kam von Ihrer Zeitung. Das ist fast schon Bild-Niveau, Serge Tonnar hier, Serge Tonnar da. Wen interessiert das? Die Fokussierung auf meine Person geht mir eigentlich auf die Nerven. Aber tatsächlich war die Entscheidung zu diesem Zeitpunkt noch nicht getroffen worden. Vielleicht wäre jemand abgesprungen und ich hätte mich umentschieden.

Über Ihr kürzlich gepostetes Meme wurde viel diskutiert. Darauf war ein nackter Putin auf einem rosa Pferd zu sehen, ein verjüngter Biden als Ken von Barbie, darüber stand make love not war. Können Sie das nochmal erklären? Viele haben es nicht ganz verstanden.

Das ist sehr schlimm, dass viele Menschen mich nicht verstehen (seufzt leicht theatralisch). Für mich war obvious, was damit gemeint ist. Manche wollten es nicht verstehen, andere haben allergisch reagiert, weil es von mir oder déi Lénk kam. Es ist ein Spiel der kulturellen Referenzen, die mir eindeutig erscheinen: Barbie-Ästhetik, die Politiker der zwei größten Atommächte der Welt, der Barbenheimer-Hype. Es stellt eine Botschaft gegen den Krieg dar, eine Warnung vor den Gefahren einer atomaren Militarisierung, vor einer Aufrüstung. Natürlich sind die Bilder provokativ und natürlich steht nicht drauf, was sie bedeuten. Wenn für jede Kommunikation eine Gebrauchsanleitung geliefert werden muss, braucht man keine mehr. Ich habe Putin als ersten genommen, weil es immer noch Menschen gibt, die déi Lénk als Putin-Lovers darstellen. Das ist komplett daneben und reiner Blödsinn. Diesen Post kann man nicht als Pro-Putin interpretieren.

Insgesamt ein ziemlicher Bruch mit der Kommunikation, die déi Lénk vorher auf ihrem Facebook-Account betrieben haben. Die Partei verliert eher an Zuspruch, als dass sie gestärkt wird, zum Beispiel bei den Gemeindewahlen. Ist eine solche Kommunikat-
ion förderlich?

Das weiß man nicht im Voraus. Parteiintern gibt es den Konsens, dass offensiver agiert werden muss. Natürlich gibt es die Angst, weitere Sitze zu verlieren. Dagegen möchte ich eine offensive, positive Energie halten. Aus der Distanz fiel mir schon vorher auf, dass déi Lénk nicht offensiv genug waren. Ich denke schon, dass solche Kommunikation nötig ist und die Wähler sich das auch wünschen. Wer nicht in der Bedeutungslosigkeit untergehen will, muss ein Risiko eingehen. Wenn Spitzenpolitiker auf RTL die ADR und déi Lénk in einem Atemzug nennen als Parteien, mit denen sie nie zusammenarbeiten würden, ist das schlimm. Wenn man fast nichts mehr hat, hat man alles zu gewinnen. Wenn du als Wähler nicht einverstanden bist mit dem System, bringt es nichts, die Parteien zu wählen, die das System aufrecht erhalten. Deswegen sollte die Opposition von links gestärkt werden.

Social Media machen Sie nun nicht mehr für die Partei. Bedauern Sie das?

Nein, ich habe das ja selbst beschlossen. Die kleinen Parteien werden bewusst kleingehalten, indem sie weniger Mittel zur Verfügung haben. Nach dem Gemeindewahlkampf kommt der nationale, in der Partei sind sie wirklich müde, weil sie so viel Arbeit haben. Deswegen ist man an mich herangetreten. Als dieser Post kam, ist das Ganze explodiert. Ich habe dann selbst gesagt, lasst uns damit aufhören. Es geht nicht darum, der Partei zu schaden, das wäre kontraproduktiv. Es wurde eine Gruppe gegründet, in der auch jüngere Mitglieder sind, um die Zukunft der Social-Media-Kommunikation zu diskutieren.

Warum fassen Ihrer Meinung nach linke Bewegungen denn kaum Fuß in Luxemburg?

Hier wollen alle, dass es so weiter geht wie bisher. Die DP legt immer weiter zu. Der Liberalismus ist das, was sich die Minderheit an Menschen, die hier wählen dürfen, wünscht. Vielleicht reagieren die Menschen erst, wenn sie mit dem Kopf gegen die Wand gerannt sind. Es gibt hier den Traum meines Hauses, meines Hundes, meines Kindes. Diesen Traum darf niemand uns wegnehmen. Die einen verteidigen ihn radikaler, bei den Rechten geht es etwa auch um „meine Sprache“. Die liberale Einstellung, das zu beschützen, was man hat, ist aber nicht grundlegend anders. Nicht bereit zu sein, zu teilen, die eigenen Vorteile aufzugeben, damit es allen besser geht. Vielleicht liegt es auch in der Natur des Menschen. Ich weiß es nicht.

Was sind die größten Versäumnisse der Regierung Ihrer Meinung nach?

Ich bin schlecht positioniert, Abschlussnoten auszustellen.

Wie erklären Sie sich den Erfolg der Piratenpartei, der wohl auch déi Lénk schadet?

Sie sind ein Supermarkt, jeder kriegt, was er mag. Das passt zu den warmen Brötchen und den Gromperekichelcher auf den Wahlplakaten der DP. Und der Name, are you kidding? Das sind höchstens Süßwasserpiraten. Ein Pirat ist für mich etwas anderes, ein Rebell, der sich gegen gesellschaftliche Tendenzen wehrt. Ich bin mehr Pirat als die.

Auf Ihrem letzten Album …

Ah, endlich.

… besingen sie eine Gesellschaft, die so polarisiert ist wie noch nie. Woran machen Sie das fest?

Am eigenen Leibe erlebt. Seit der Pandemie hat sich alles radikalisiert. Ich habe diese Zeit als sehr krass empfunden, sie hat mich depressiv und extrem traurig gemacht. Die Gesellschaft war gespalten, Personen wurden stigmatisiert und ausgeschlossen. Das 2G-Regime war eine dieser Maßnahmen. Ich durfte als Künstler nur vor Menschen spielen, die geimpft waren. Getestet zu sein, spielte keine Rolle. Den Ungeimpften hat man den Zugang zu kulturellen Ereignissen verwehrt und wir Künstler sollten das überwachen. Das ist sehr weit entfernt von meiner Vorstellung von Kultur und Gesellschaft. Das Virus war ein Witz im Vergleich zu dem, was noch kommen könnte. Mehr Klimaflüchtlinge, schlimmere Pandemien. Ich fürchte, die Gesellschaft spaltet sich dann noch mehr. Eine Menge Menschen hatten keine radikale Position, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Bekanntest du dich jedoch nicht zu einer der beiden, wurdest du angegriffen. Ich wurde von Impfgegnern beschimpft, wieso ich nicht mit ihnen marschiert bin, ebenso wie von sogenannten Pro-Vaxxern. Ähnlich ist es nun mit dem Ukraine-Krieg. Nuancierte Positionen, oder Meinungen, die sich ändern, zum Beispiel, weil der Krieg schon lange tobt, oder sich beispielsweise Konsequenzen verändern, werden nicht akzeptiert.

Schwappt die Art und Weise, wie auf Social Media kommuniziert wird, zu sehr ins reale Leben?

Politische Maßnahmen führen zu diesem Diskurs. Die Medien spielen ebenfalls eine Rolle, vielleicht führen sie sich das mal zu Gemüte. Das Tageblatt in Covid-Zeiten war so reißerisch und einseitig. Im Rückblick gibt man das jetzt vermehrt zu.

Ich lese Ihnen einen Auszug aus einem von Ihren Blogposts von 2018 vor: Verzicht och op räisseresch Iwwerschrëften, déi bewosst formuléiert gi fir Polemiken auszeléisen, fir esou sou vill wéi méiglech Verkéier op den eegenen digitale Plattformen ze kréien. Gleichzeitig machen Sie selber doch genau das, sie beherrschen die Shitstorm-Mechanismen und nutzen sie. Kommen Ihre Fans nicht mehr auf Ihre Konzerte, wenn Sie damit aufhören?

Das weiß ich nicht, aber meine gesamte Karriere ist auf Social Media aufgebaut. Die klassischen Medien haben mich ignoriert oder boykottiert. Als 2003 mein erstes Album herauskam, lief es nicht im Radio. Gefällt man den Verantwortlichen nicht, hat man halt Pech. Die geschriebene Presse hat es auch nicht interessiert. 2008 war es genauso. Irgendwann sagten meine Kinder, als sie Teenager waren, du musst auf Facebook, Youtube und Itunes, sonst weiß niemand, was du machst. Durch das Lied Crémant an der Chamber kam der Durchbruch auf Social Media. Seitdem erreiche ich mein Publikum nicht über die Medien, sondern über meine eigenen Medien. Ich habe mich gezwungenermaßen darin spezialisiert und mache das auch gerne. Wann war im Land die letzte Albumrezension von mir? Jetzt kommt Interesse auf wegen dieses Facebook-Posts, nicht wegen meiner Arbeit.

Im letzten Jahr hatten Sie mehrere Medienslots, etwa im Radio 100,7 und in einem RTL-Podcast. Da ging es sehr wohl um Ihre Musik.

Das war eine Ausnahme. Ich beklage mich nicht, aber das ist die Realität.

Das klingt alles wie eine pauschale Medienschelte.

Klar! Wer macht denn hier in Luxemburg Medienkritik? Niemand. Medien müssen auch Kritik vertragen.

Genau wie Künstler.

Natürlich, sonst hätte ich schon lange aufgehört, soviel Wind, wie mir entgegenbläst. Medienkritik von mir kommt meistens sehr schlecht an. Kritiker vertragen keine Kritik. Kulturkritik wird wenig betrieben, das stimmt. Die Journalisten sagen selbst, sie seien unterbesetzt. Das ist aber nicht meine Schuld. Ich kann sehr gut mit Kritik umgehen, ich mache das seit 25 Jahren. Ich bin so durch den Dreck gezogen worden, manchmal zurecht, oft nur auf meine Person bezogen. Eigentlich wünsche ich mir mehr Kritik, mehr Kulturjournalismus, mehr wahrhaftige Auseinandersetzung mit der hiesigen Kunst.

Sie monieren immer wieder, dass Kulturvermarktung sich zu stark ins Ausland richtet. Begrüßen Sie grundsätzlich die kulturpolitische Richtung, die die Regierung seit fünf Jahren eingeschlagen hat?

Es ist viel passiert. Wir haben eine Kulturministerin, die engagiert ist und Kunst und Kultur versteht. Das ist positiv. Die wesentliche Konzentrierung auf das Ausland; wie wenig sich darum gekümmert wird, ob und wie Künstler hier wirklich leben können und wie wenig Autonomie gefördert wird als Künstler, all das sind Dinge, die ich bemängele. Es gibt immer mehr Berufe um die Künstler/innen, die Szene ist explodiert: Kulturmanager, Kulturpädagogen und –vermittler, überall werden feste Strukturen geschaffen, nur nicht für die Künstler. Es gibt kaum langwierige Engagements, etwa zwei Jahre mit einer Gemeinde zusammenzuarbeiten. Wenige machen sich Gedanken darüber, wie Künstler innerhalb der Gesellschaft existieren können. Es gibt keine Theaterensembles, was der Solidarität nicht förderlich ist, immerhin muss so jeder für sich schauen, über die Runden zu kommen. Von den Direktoren, die lebenslänglich auf ihren Posten sitzen, ist man zu abhängig. Richtig freie Künstler, die frei sind und machen, was sie wollen, kann man an einer Hand abzählen. Wenn man sich außerdem dazu entschließt, Theaterstücke nach Avignon zu schicken, die ohne Unterstützung vom Staat dort nie aufgeführt würden, aber man unterstützt keine Projekte hier im Land, die viel nachhaltiger sind, Projekte, die vom bottom up kommen, finde ich das krank. Ich will aber nicht dauernd als Nörgler rüberkommen, ich sage all das mit einem leichten Lächeln im Gesicht.

Mit Maskénada wollten Sie Kultur zu den Leuten bringen, nicht umgedreht. Insgesamt zeigen Umfragen immer noch, dass es der sozioökonomische Hintergrund ist, der definiert, ob jemand etwa ins Museum geht oder nicht.

Absolut. Zu Konzerten von mir oder populären Events von Maskénada kommen aber andere Menschen. Events im Wald oder in den Dörfern ziehen halt ein anderes Publikum an. Ich gehe auch nicht ins Museum, ich finde das langweilig, das hat nichts mit sozioökonomischen Faktoren zu tun. Ich könnte niemanden begeistern, ins Museum zu gehen.

Eine starke Aussage von jemandem, der sich kulturell engagiert nennt.

Ich schaue mir wenig an, ich bin ein bisschen ein Kulturmuffel. Wer den ganzen Tag Musik macht, geht abends nicht unbedingt noch zu einem Konzert. Irgendwann ist man froh, wenn einen Abend nichts ansteht. Die meisten Sachen finde ich nicht interessant. Warum sollte ich mir zum hundertsten Mal etwas von einem Komponisten anhören, der vor mehreren Jahrhunderten gelebt hat, in einer wunderbaren Philharmonie? Das finde ich nicht lebendig, was sagt mir das über meine Gegenwart? Ich gehe auch nicht ins Kino.

Film verhandelt doch immer auch den Zeitgeist.

Aber davon spielen ganz wenige in Luxemburg.

Muss man sie daran messen? Ein Film, der nicht in Mersch oder Schlindermanderscheid spielt und universelle Themen behandelt, ist genauso wertvoll.

Ich finde, es muss viel mehr Mersch und Schlindermanderscheid in die Kultur kommen. Das ist totaler Snobismus, wenn jemand nicht nach Schlindermanderscheid ins Dorftheater gehen will. Ich begegne dieser Einstellung dauernd, sie bedingt, dass wir Künstler mehr ins Ausland schicken, als sie hierzulande zu unterstützen. Ich stelle einen Minderwertigkeitskomplex fest, der gelegentlich in Größenwahn umschlägt. Man könnte Autoren unterstützen, zum Beispiel Stadtschreiber von Schlindermanderscheid zu werden, dort ein Theaterstück oder eine Oper zu schreiben. Solche Ansätze gibt es hier nicht, es wird elitär gedacht. In Deutschland oder Frankreich existiert ein Stolz, was nationale Künstler angeht, den es hier nicht gibt.

Sie sind seit 25 Jahren Musiker und haben die Rolle des Kritikers in der Öffentlichkeit eingenommen. Welchen Unterschied gibt es zwischen dem privaten Serge Tonnar und dem auf Social Media oder auf der Bühne?

Die Grenzen verschwimmen. In Luxemburg braucht eine Person lediglich eine eigene Meinung zu haben, schon ist sie ein Rebell. Die Latte liegt dafür niedrig. Ich versuche immer, konstruktiv zu sein, habe aber auch die Erfahrung gemacht, dass, dadurch dass ich mich jahrelang gegen das Establishment gewehrt habe, ich auch irgendwie in eine Rolle gedrückt wurde. Zwischen dem privaten Serge und dem, der auf der Bühne steht, gibt es quasi keinen Unterschied. Ich fühle mich nirgends so wohl wie vor dem Publikum, wahrscheinlich noch mehr als in meinem Privatleben. Social Media benutze ich, ja, aber ich mache das mit Humor und versuche mich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Ich verurteile auch nicht pauschal. Auf meinen Konzerten sind vielleicht auch Leute, die ADR wählen. Das sind auch Menschen. Mittlerweile weiß ich aber, dass die Person, die von anderen beschimpft wird, nicht ich ist. Diese Leute greifen ein Bild an, was sie von mir haben. Viele Politiker vertragen keinen Shitstorm, dann ist es der falsche Beruf. Man muss sich von dem Bild, was außerhalb von einem existiert, trennen können.

Sind Sie bereits säkulärer Zeremonienmeister?

Noch nicht. Ich habe einen Intensivkurs in Deutschland belegt, habe das Label quasi schon, hatte aber noch keine Zeit, es umzusetzen. Man lernt, mit Menschen zu sprechen, die gerade jemanden verloren haben, und wie man die schönstmögliche Abschiedszeremonie gestalten kann. Wie es unemotional und doch persönlich werden kann. Das Interesse daran habe ich schon sehr lange, denn offizielle Zeremonien in Kirchen und Gemeinden sind oft unmenschlich. Das finde ich insbesondere bei Beerdigungen sehr schade. Da ich mich während der Pandemie auch gefragt habe, ob ich meinen Beruf überhaupt weiter ausüben will, haben solche neuen Horizonte mich inspiriert. Auch das politische Engagement ist Teil davon.

Robbie Williams ist drei Jahre jünger als Sie. Beim Konzert überkam einen das Gefühl, dass er gegen einen Relevanzverlust ansingt. Geht es Ihnen auch so?

Momentweise schon. Es gibt eine Zeile in Jo an Amen: Ass mäi protestsong just gutt fir z’ënnerhalen, hätt ech vläicht besser och de bak ze halen. Als während der Pandemie CD-Regale und Bücher zugeklebt wurden, habe ich mir viele Fragen gestellt. Ich denke, der Kampf um die eigene Relevanz begleitet einen fortwährend.

Serge Tonnar,

Jahrgang 1970, ist der vielleicht bekannteste luxemburgische Musiker. Nach einem abgebrochenen Journalismusstudium in Brüssel arbeitete er in den Gründungsjahren für das öffentlich-rechtliche Radio 100,7 und begann fortan seine Künstlerkarriere. Er ist Gründungsmitglied des Künstlerkollektivs Maskénada und steht als Schauspieler auf der Bühne und vor der Kamera, zuletzt in Frank Hoffmanns Café Terminus und Andy Bauschs Little Duke. 2022 erschien sein letztes Album Jo an Amen. Seit letztem Jahr ist er Mitglied bei déi Lénk.

Sarah Pepin
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