Um einen Ehekleinkrieg im Wohnzimmer zu inszenieren, braucht es nicht viel Requisiten. Im kleinen Saal im Grand Théâtre füllt ein überdimensionales Sofa auf einem roten Teppich die Bühne. Dahinter kündet eine Reihe Alkoholflaschen vom Gelage. Ein Klavier ist getrennt durch einen Vorhang, hinter dem man schemenhaft die Figuren erkennen kann.
Edward Albee zählt neben Tennessee Williams und Arthur Miller zu den wichtigsten US-amerikanischen Dramatikern der Nachkriegszeit. Mit seinem 1962 uraufgeführten Ehedrama Wer hat Angst vor Virginia Woolf, das schonungslos die Probleme zweier Paare in Szene setzt, gelangte er zu Ruhm. Richtig bekannt werden sollte das Stück, das seitdem als Mutter aller ehelichen (Schlamm-)Schlachten gilt, aber erst durch Mike Nichols‘ Verfilmung mit Elizabeth Taylor und Richard Burton (1966).
Das meistgespielte Stück von Albee (Who’s Afraid of Virginia Woolf) beginnt mit einem Witz, von dem das Publikum nur die Pointe erfährt. Gefallen ist dieses Wortspiel (eine Abwandlung von „Wer hat Angst vorm bösen Wolf?“) auf einer Akademiker-Party, von der Martha und ihr Ehemann George in aufgeheizter Stimmung zurückkehren.
In den schwelenden Ehekrieg platzen spät nachts noch Universitätskollege Nick, ein karrieregeiler Biologieprofessor, und dessen Ehefrau Honey, die Martha zuvor zu einem späten Drink zu sich nach Hause eingeladen hat. Die anfangs beschwingte Stimmung schaukelt sich schnell hoch. In dem wüsten Schlagabtausch peppen Wünsche, Hoffnungen und verlorene Lebensträume auf — Martha und George breiten die Probleme ihrer 20-jährigen Partnerschaft vor den Gästen aus und diese, zunächst nur Zaungäste, werden flugs in den Streit hineingezogen.
Mittlerweile wurde der Bühnen-Klassiker von Alissa und Martin Walser neu übersetzt. Ausgehend von dieser Textgrundlage inszeniert der gebürtige Hildener K.D. Schmidt, Leitender Regisseur am Staatstheater Mainz, das Stück als Koproduktion zwischen dem Staatstheater Mainz und den Théatres de la Ville de Luxembourg. Als Luxemburger Part gibt Luc Feit den Geschichtsprofessor George, Jil Devresse spielt die junge Honey.
Martha nutzt die Gelegenheit, um ihren Mann vor den Gästen nach Strich und Faden zu demütigen – so war es nicht nur in den 60ern, so erlebt man es ja noch heute. Sie wirft George vor, er sei als Mensch, Mann und Historiker ein totaler Versager. „Ich find dich zum kotz-en!“, wirft Martha (Anna Steffens) George so anfangs genüsslich an den Kopf. Ein Satz, der die Arena eröffnet und in dem Kampflust liegt, aber eben auch die tragische Angewiesenheit aufeinander.
George (Luc Feit) wirkt in seinen zu großen Hosen wie ein Clown. Doch er hat in der zu Beginn schleppenden Inszenierung die Hosen an; nicht nur in rhetorischer Hinsicht, auch schauspielerisch spielt Feit die drei anderen mit seiner Bühnenpräsenz so an die Wand, dass sie recht blass wirken.
Der junge Professor Nick (Benjamin Kaygun) im schlechtsitzenden karierten Anzug steht irgendwie neben sich. Seine junge Frau Honey (Devresse) stürzt sich (auch optisch im Samtkleid und mit Schleife im Haar das Häschen gebend) nichts ahnend in den Abend und hüpft anfangs noch vergnügt auf dem Sofa herum. Jil Devresse erweist sich zwischen kindhafter Naivität und Überdrehung als perfekte Besetzung für die Rolle der Honey.
Das Stück vereint Versatzstücke einer turbulenten Salonkomödie mit Elementen eines exemplarischen Psychodramas, der Ehetragödie und des absurden Theaters ... Mag die Handlung auch simpel wirken, so ist es doch ein Kunststück, einen plausiblen Spagat zwischen diesen Elementen hinzukriegen und Interesse an den Personen zu wecken. Fairerweise muss man sagen: Es hilft den Schauspieler/innen nicht gerade, wenn in den Zuschauerrängen noch laut Handys klingeln. So verliert Anna Steffens (Martha) kurz die Fassung und brüllt ins Publikum; Leute, macht doch Eure Mobilspielzeuge aus! Ein kurzer Störeffekt mit pädagogischer Wirkung, macht er einem nur klar, dass das Durchbrechen der Vierten Wand bei Albee dazugehört wie der V-Effekt zu Brecht.
Freimütig wirft natürlich auch George Martha Gehässigkeiten an den Kopf und setzt über die Frau im mittleren Alter in die Welt, sie sei 65. „Wenn Marta sich umzieht, werden wir noch ein paar Tage hier sitzen“, verkündet er hämisch und nutzt die Zeit, um Honey anzubaggern. Wenn Martha von ihrem Sohn schwärmt, wird eine nicht kitschfreie Videoeinlage mit kleinem Jungen am Meer eingeblendet. George versucht das verschreckte junge Paar zu beruhigen, indem er relativiert: „Martha und ich haben gar nichts, wir üben bloß.“
Der giftige Schlagabtausch erinnert an die Zimmerschlachten Yasmina Rezas (etwa Le Dieu du carnage, 2007), zumal die beiden Männer sich nichts geben. Sobald Honey zum Kotzen aufs Klo verschwindet, spart auch Nick nicht an Gehässigkeiten über seine Frau und ihre Scheinschwangerschaft: „Zuerst war sie aufgeblasen, dann fiel sie in sich zusammen ...“.
Die zersetzende Eheschlacht zwischen George und Martha entlarvt die Fadenscheinigkeit des American Dream. Ursprünglich sollte das Stück denn auch „Austreibung“ („Exorcism“, so wie der dritte Akt) heißen. Doch anfangs plätschert die Inszenierung recht zäh vor sich hin. Die vulgären Spielchen laufen ins Leere. Irgendwann bestellen sie einen „Wixxie“ und George fingiert einen Tobsuchtsanfall. Wenn es in Parolen mündet wie „Wir ficken die Hausfrau, gib’s dem Gast!“, sehnt man sich nach der Pause.
Danach wird’s tatsächlich besser. Die Front verschiebt sich. Martha und George gehen nun gegen die Gäste, und trotzdem erscheint Albees Plot übersetzt wie in Leichte Sprache.
Wenn Martha über ihren vermeintlichen Sohn halluziniert, wird jedem klar, dass sich Wunsch-
traum und Hirngespinst längst zu einer ausgewachsenen Paranoia verdichtet haben. Und während Nick unbeholfen versucht Martha zu besteigen, ist George nur müde amüsiert: „Halt’s Maul, Hengst!“
Im dritten Akt wird Martha jäh aus ihrer Fantasiewelt gerissen. Am nächsten Tag wäre der erfundene Sohn 21 Jahre alt geworden ... Doch durch seine eigenmächtige Fortführung „ihrer Geschichte“ lässt George den Sohn sterben. Als Martha erkennt, dass sie keinen Sohn hat, zu dem sie sich flüchten kann, sieht sie ein, dass sie auf George angewiesen ist wie er auf sie.
Honey kommt zu sich, blickt ehrfürchtig und fasziniert zu ihr auf und kräht bestimmt: „Ich will ein Kiind!“ Und selbst Nick dämmert es irgendwann: „Ihr habt gar keine Kinder bekommen können.“
Das Ende wird auch im Grand Théâtre konventionell und pädagogisch interpretiert und ist doch auch tröstlich: Wenn Martha gebrochen vor dem Scherbenhaufen der geplatzten Illusionen sitzt, ist ein Neuanfang möglich. Im Gegensatz zu Strindberg, auf den Albee Bezug nimmt, lässt er seinen Figuren nach schmerzvoller Desillusionierung die Chance auf neue Lebensperspektiven. Dennoch lässt diese Inszenierung die Zuschauer/innen recht unbeteiligt und ist schnell wieder vergessen.
Wer hat Angst vor Virginia Woolf?