Ruling-Austausch, Beps, neue Mutter-Tochterrichtlinie – wie sich das alles auf die heimische Wirtschaft auswirkt, weiß niemand und es will auch keiner wissen

Richtungswechsel. Nur wohin?

d'Lëtzebuerger Land du 06.11.2015

Können sie nicht oder wollen sie nicht? „Die schlimmste Attacke in der Geschichte unseres Landes“ jährt sich dieser Tage zum ersten Mal. Anfang November 2014 hatte das internationale Journalistenkonsortium ICIJ die Luxleaks-Akten veröffentlicht. Seither gab es mehrere „Revolutionen“. Einmal Ende September, als Finanzminister Pierre Gramegna (DP) den automatischen Austausch von Steuerrulings in der Europäischen Union verhandelte, und Anfang Oktober, als Gramegna beim G-20-Gipfel in Lima die EU vertrat, wo die Abschlussberichte der Beps-Arbeitsgruppen über die Besteuerung multinationaler Konzerne angenommen wurden.

Wie sich diese Katastrophen und Umwälzungen in der Luxemburger Wirtschaft im Allgemeinen und bei den Staatseinnahmen im Besonderen bemerkbar machen werden, bleibt aber auch ein Jahr nach der Veröffentlichung hunderter bei PWC entwendeter Rulings völlig unklar. Keine offizielle Äußerung des Statec, das versucht hatte zu quantifizieren, wie sich die Abschaffung des Bankgeheimnisses auswirken würde, was nicht überall gut angekommen war. Für die Konjunkturvorhersagen und die über die Entwicklung der Staatsfinanzen, gilt eine Art allgemeiner disclaimer, ein Hinweis, dass mögliche Folgen nicht berücksichtigt sind.

Glaubt man Pierre Gramegna, gibt es keine Folgenabschätzung im Finanzministerium, das wegen des Bankgeheimnisses ein externes Beratungsunternehmen engagiert hatte. Das sieht zunehmend nach nachlässiger Führung der Regierungsgeschäfte aus – auf welcher Grundlage kann es etwaige Reaktionen auf die Geschehnisse geben, wenn nicht bekannt ist, wohin der Richtungswechsel führt? Gut möglich aber, dass man das bewusst in Kauf nimmt, solange keine Informationen produziert werden, die in der ausländischen Presse, von der EU-Kommission oder Nicht-Regierungsorganisationen „gegen“ Luxemburg eingesetzt werden können. Außerdem ist die Entscheidung darüber, wie reagiert werden sollte, trotz dünner Datenlage ohnehin schon gefallen: Der nominale Körperschaftssteuersatz werde gesenkt, kündigte der Finanzminister bei der Haushaltsvorstellung an.

So wiederholt Pierre Gramegna gebetsmühlenartig, es sei ein Fehler, von einem Steuerausfall auszugehen, wenn er nach den Folgen gefragt wird. Völlig Unrecht hat er damit nicht. Es ist unmöglich, das Ergebnis der vielfältigen Maßnahmen im Kampf gegen die Steueroptimierung genau zu beziffern. Das liegt aber auch daran, dass wenig darüber gewusst ist, was die vielen Beteiligungsgesellschaften, im Volksmund Briefkastenfirmen genannt, machen, und die wahrscheinlich am anfälligsten für Veränderungen in der internationalen Steuerlandschaft sind.

Population à risque Letztere, die Soparfi (Sociéte de participations financières), wurde als Nachfolgerin der auf Druck der EU-Kommission abgeschafften, von der Steuer befreiten, Holding 1929 eingeführt. 2013 zählte die Handelskammer, die ihnen Millionen an Mitgliedsbeiträgen abknöpft, 38 415 von ihnen, 2014 waren es 42 793. Einen genaueren Zähler als die Mitgliedsstatistiken der Handelskammer gibt es nicht, aber sollten sich die Soparfis im gleichen Rhythmus vermehren wie in den vergangenen Jahren, dürfte es mittlerweile mindestens 45 000 von ihnen geben.

Sie sind nicht nur ein Geldsegen für die Handelskammer, die in den vergangenen Jahren Reserven von 50 Millionen Euro anlegen konnte, sondern seit 2011 die Mindeststeuer von zuerst 1 500 Euro eingeführt und 2013 auf 3 210 Euro angehoben wurde, auch für den Luxemburger Staat. Im Compendium sur les données statsitiques des impôts luxembourgeois kann man nachlesen, wie die Soparfis dadurch in der Zwischenzeit zum Goldesel für Luxemburg geworden sind. Seit 2014 zahlen die Beteiligungsgesellschaften mehr Körperschaftssteuer als die Banken. Der Beitrag der Soparfis am Körperschaftssteueraufkommen stieg von 288 Millionen Euro 2012, über 360 Millionen 2013 auf 446 Millionen Euro 2014. Die Banken zahlten 2012 noch 561 Millionen Euro, 2013 470 Millionen und schließlich 354 Millionen vergangenes Jahr. Noch zahlen innerhalb der Finanzbranche die Banken mehr kommunale Gewerbesteuer als die Soparfis (39 gegen 30 Prozent), aber die Beteiligungsgesellschaften trugen mit 155 Millionen am meisten zum Vermögenssteueraufkommen von insgesamt 273 Millionen bei und auf den Gehältern ihrer Angestellten werden 81,6 Millionen Euro Einkommensteuer abgeführt. Insgesamt zahlen die Beteiligungsgesellschaften und ihre Mitarbeiter demnach fast 800 Millionen Euro Steuern, mehr als Luxemburg durch den Wegfall der Mehrwertsteuer aus dem elektronischen Handel verliert.

Die Soparfis sind laut Statec in der Zwischenzeit zum „Motor der Beschäftigung“ in der Finanzbranche geworden. Während die Beschäftigung in den Banken seit 2008 um 0,3 Prozent beziehungsweise 90 Stellen jährlich zurückgeht, stellten die Soparfis jährlich 315 neue Mitarbeiter ein. Die Entwicklung sei nicht neu, schreibt das Statec in der Note de conjoncture 1-15, aber stark konjunkturabhängig. 2007, als der Konjunkturzyklus seinen Höhepunkt vor dem Einbruch 2008 erreichte, hat es laut Statec auch den höchsten Stellenzuwachs gegeben. Während die Zahl der Soparfis im Schnitt um zehn Prozent jährlich wächst, steigt auch die Zahl der Mitarbeiter pro Firma: von 1,5 auf 1,7 Mitarbeiter. Das könnte man so interpretieren, dass mehr Beteiligungsgesellschaften bemüht sind, die Substanzkriterien zu erfüllen und deshalb Personal in Luxemburg einstellen. Zumal auch die von den Soparfis bezahlten Gehälter sich denen im Rest der Branche anpassen und man daraus schließen könnte, dass die Mitarbeiter nicht nur Briefkästen leeren sollen. Aber: Von den knapp 43 000 Soparfis beschäftigten überhaupt nur 2 500 wenigstens eine Vollzeitkraft. Die anderen teilen sich Mitarbeiter mit anderen Gesellschaften oder brauchen keine. Obwohl die Mitarbeiterzahlen und die Gehälter steigen, tragen dieSoparfis verschwindend wenig zur Mehrwertschöpfung innerhalb der Branche bei.

Man könnte, um es bildlich darzustellen, die Soparfis als wenig erforschtes unterirdisches Rohrsystem bezeichnen, durch das enorme Kapitalmengen strömen, ohne dass wirklich viel davon in Luxemburg versickert. Laut Weltbank beträgt das Verhältnis zwischen Direktinvestitionen, die von Luxemburg aus im Ausland getätigt werden (Foreign direct investment outflows), und Bruttoinlandsprodukt bei 748 Prozent. Das liegt natürlich auch an der Investmentfondsbranche, die Geld aus dem Ausland in Luxemburg sammelt und wieder im Ausland investiert – aber nicht nur. Manchmal gibt es einen Rohrbruch in dem wenig regulierten System. Wie 2014, als die Beteiligungsgesellschaft der Espirito Santo Gruppe, von der Europäischen Bankenaufsicht EBA als „systemisch“ eingestuft, aufgrund von Bilanzfälschungen in Luxemburg insolvent wurde. Die Bilanz der Holding war nicht detaillierter als die eines Gemischtwarenladens, weil die Beteiligungsgesellschaften, anders als Banken und Fonds, keinen besonderen Aufsichtsauflagen unterliegen. Als die portugiesische Regierung entschied,  die Rettung der Schalterbank selbst zu übernehmen, ohne über die Verantwortung zu diskutieren, gab es in Luxemburg ein laut vernehmliches  Aufatmen, weil man nichts beisteuern musste.

Keine Industrie Wie die Firmen auf die Umwälzungen in der Steuerlandschaft reagieren werden, lässt sich auch deshalb so schwer vorhersagen, weil die Beteiligungsgesellschaften trotz der Ruling-Produktion im industriellen Maßstab keine homogene Masse wie beispielsweise die Privatbanken oder die Investmentfonds sind. Der Blick auf das Steueraufkommen zeigt deutlich, dass es Soparfis gibt, die wesentlich mehr als die Mindeststeuer zahlen, also versteuerbare Gewinne erwirtschaften. Dass es Abertausende davon gibt, die das nicht tun, liegt unter anderem auch daran, dass bei der Strukturierung internationaler Investitionen – wenn sich mehrere Investoren zusammentun, um gemeinsam ein Projekt zu finanzieren – oft eine Vielzahl von Firmen gegründet wird, damit „Ordnung“ herrscht und alle den Überblick und die Handhabe über ihr Engagement behalten. Immobilienfonds, von denen sich eine Reihe großer internationaler Player in Luxemburg niedergelassen haben, machen es nicht anders als Luxemburger Immobilien-Promotoren, die jedes Projekt sauber abgetrennt in eine neue Firma packen. Da kommen für einen Immobilienfonds schnell ein paar hundert Firmen zusammen, die einzeln betrachtet wenig Aktivität haben. „Es gibt viele Gründe, viele Briefkästen zu haben“, meint ein Steuerberater.

Ein weiter Kreis Doch auch die Beteiligungsgesellschaften, die keine wirkliche Geschäftsaktivität haben, müssen von Anwälten und Notaren gegründet werden, brauchen jemanden, der einen Jahresabschluss vorbereitet, und Verwaltungsratsmitglieder, um die wenigen Entscheidungen, die anstehen, formal zu treffen. Wenn eine Firma „Substanz“ aufweisen will, muss sie belegen, dass die Entscheidungen in Luxemburg getroffen werden. Das setzt voraus, dass sich die Verwaltungsratsmitglieder innerhalb der Staatsgrenzen treffen. Je nachdem sind sie Mitarbeiter der auf die Verwaltung von Firmensitzen spezialisierten Unternehmen oder aber Repräsentanten der Aktionäre aus dem Ausland. Letztere reisen an, fahren Taxi, übernachten in Hotels, wenn sich die in Serie geplanten Sitzungen von Firmen und Unterfirmen einer Gruppe über mehrere Tage erstrecken. Sie essen in Restaurants und belegen Sitzungsräume in Bürogebäuden. „Wir sind ein kleines Land, wir haben keinen Platz für Häuser, nur für Briefkästen“, hatte Außenminister Jean Asselborn kurz nach der Luxleaks-Veröffentlichung in der Talk-Sendung Anne Will gesagt. Sollte sich der Trend zu mehr Substanz fortsetzen, dürfte das auch die Immobilienagenturen interessieren.

2013 zählte das Statec 21 000 Juristen, Buchhalter, Firmenberater und Firmensitzverwalter. Die machen auch andere Dinge als Beteiligungsgesellschaften gründen, verwalten und abwickeln. Aber, so die Schätzung innerhalb der Branche, immerhin würden die Soparfis zwischen 5 000 und 10 000 Beschäftigte in Lohn und Brot halten. Das wären ungefähr so viele wie in der Logistik-Branche arbeiten. So gesehen, ist das Gewicht der Beteiligungsgesellschaften in der Luxemburger Wirtschaft wohl wesentlich höher als die 0,2 BIP-Prozente, die laut Statec direkt zu verbuchen sind (d’Land, 5.6.2015). Nimmt man die Ergebnisse der Big-Four-Beraterunternehmen als Gradmesser dafür, wie die Geschäfte laufen, scheint es nach Luxleaks und in Ankündigung der neuen Regeln durch Beps oder die reformierte Mutter-Tochter-Richtlinie keinen Einbruch zu geben. EY und PWC meldeten zum 30. Juni steigende Umsätze. Die Steuerabteilung von PWC, wo die Luxleaks-Daten herstammen, konnte ihren Umsatz, dank Compliance-Aktivitäten, garum 15 Prozent steigern.

Gehen oder bleiben Auch ohne Ruling werden die Beps-Regeln eine Wirkung auf die Besteuerung aller international tätigen Unternehmen haben (siehe untenstehenden Artikel). „Die Regeln werden sich für alle ändern“, sagt Pierre Gramegna gerne, „nicht nur für Luxemburg“, deshalb werde es zum berühmt-berüchtigten level playing field kommen. Je nachdem, wie es mit der Umsetzung weitergeht, ist aber erstens nicht ganz sicher, ob das Spielfeld nachher tatsächlich eben ist. Und sogar dann, könnte auch es negative Folgen für den Standort Luxemburg geben, wenn man davon ausgeht, dass Firmen in der Vergangenheit die Unebenheiten im Terrain ausgenutzt haben.

Schon allein durch die Reform der EU-Mutter-Tochter-Richtlinie, die am 1. Januar 2016 in Kraft tritt, dürfte es für manche Soparfis nicht mehr so interessant sein, in Luxemburg eine Adresse zu unterhalten. Durch die Reform soll unterbunden werden, dass Gewinn- oder Zinszahlungen von Filialen an ihren Mutterkonzern ungewollt zweimal von der Steuer ausgenommen werden, sondern wie beabsichtigt entweder bei der Filiale oder beim Mutterhaus. In ihrem Gutachten zur Umsetzung der Reform in Luxemburg warnt die Handelskammer, der Entwurf der Regierung sei einerseits nicht deutlich genug formuliert, andererseits würden die davon vorgesehenen Anti-Missbrauchsklauseln über die Richtlinie hinausgehen. Deshalb müsse dringend nachgebessert werden, dann aber könnten sich die neuen Dispositionen positiv auf die Staatseinnahmen auswirken, so die Handelskammer, in einer Fußnote.

Ob sie weiter Substanz aufbauen, Mitarbeiter einstellen, Steuern zahlen oder im Gegenteil, ihre Präsenz in Luxemburg aufgeben, wenn die Steuerregeln verschärft werden, hänge unter anderem davon ab, ob die Steuerverwaltung noch in der Lage sei, schnell nachvollziehbare Rulings auszustellen, warnen manche Steuerberater (d’Land, 9.10.2015). Und daran hapere es seit die Ruling-Kommission Anfang des Jahres über die Steuervorbescheide entscheide. Wie viele Rulings sie ausgestellt hat, dazu macht das Ministerium keine Angaben. Wie viele es davor waren, dokumentierte die Steuerverwaltung in der Vergangenheit auch nicht. Doch den Statistiken des europäischen Verrechnungspreisforums zufolge wurden 2013 in Luxemburg 204 Apas (Advance Price agreement) beantragt und 117 ausgestellt. Mehr waren es nur in den Niederlanden. Ob dies relevant ist, bezweifeln andere Steuerexperten. Ihrer Meinung nach wäre in der großen Mehrzahl der durch Luxleaks offengelegten Fälle überhaupt kein Ruling notwendig gewesen, weil die Gesetzeslage eindeutig sei. Das würde erstens heißen, dass die großen Ruling-Produzenten der Big Four für ihre Kunden unnötige Rulings angefordert hätten, und zweitens bedeuten, dass die Kunden in Zukunft auch ohne diese Art Rulings von der gleichen steuerlichen Behandlung profitieren könnten. Da fortan alle Rulings als suspekt gelten würden, berichten Steuerberater, würden Firmen wenn möglich lieber darauf verzichten. Je weniger Rulings es aber gibt, umso weniger werden nach den neuen EU-Vorschriften ausgetauscht werden, viele Informationen werden ausländische Steuerbehörden auf diesem Weg also nicht zu erwarten haben.

Windfall profits So stellen die Kämpfer für größere Steuergerechtigkeit dieser Tage fest, dass sich seit Luxleaks nicht besonders viel getan hat. Im Gegenteil ist es zu ihrer Frustration so, dass die einzigen Firmen, deren Ruling bislang (unter Staatsbeihilfe-Aspekten) von der EU-Kommission untersucht wurde, Fiat und Starbucks, ausgerechnet in Luxemburg und den Niederlanden Steuern nachzahlen sollen, dazu noch eher bescheidene Beträge, was nicht ihrer Vorstellung von Steuergerechtigkeit entspricht. Während sich aktualitätsbedingt in Deutschland die Berichte darüber mehren, dass die Steuerbehörden durch den Kauf von Daten-CDs Milliarden bei privaten Steuerhinterziehern eingetrieben haben, gab es bisher keine Meldung über Firmen, die wegen der Veröffentlichung ihres Luxemburger Rulings etwa in ihrem Heimatland Steuern nachzahlen mussten. Das mag daran liegen, dass die Steuerbehörden noch dabei sind, den Inhalt der Rulings zu analysieren und die korrigierten Steuerbescheide noch folgen werden. Es kann aber auch sein, dass sie bei der Analyse nichts gefunden haben, was ihnen erlauben würde, korrigierte Steuerbescheide auszustellen. In einer ersten Phase bringt das Vorgehen der EU-Kommission gegen Luxemburg also erst einmal Geld in die Luxemburger Kasse, ungefähr 25 Millionen Euro. Die Regierung überlegt derzeit noch, ob sie gegen die Entscheidung der EU-Wettbewerbsbehörden in der Fiat-Sache in Berufung gehen soll.

Sollte Luxemburg einen solchen Prozess gewinnen, gingen Pierre Gramegna zwar die 25 Millionen durch die Lappen. Dennoch gibt es anscheinend geldwerte Argumente für ein Berufungsverfahren. Bliebe der Präzedenzfall, den die EU-Kommission mit Fiat geschaffen hat, unangefochten, so die Befürchtung, könnten sich betroffene Firmen und ihre Steuerberater gegen den Luxemburger Staat wenden, weil der Gesetzesrahmen, in dem sie sich wähnten, nicht stabil genug war. Ob das mehr kosten könnte, als Fiat und möglicherweise andere an Staatsbeihilfen an Luxemburg zurückzahlen müssen?

Michèle Sinner
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