Anne Frank: Das Tagebuch

Liebe Anne Frank,

d'Lëtzebuerger Land du 01.11.2007

Du erlaubst, liebe Namensvetterin, dass ich mich in Form eines Briefes an Dich wende. Briefe, liebe Anne, sind heutzutage bei jungen Mädchen Deines Alters ebenso aus der Mode ge­kommen wie Deine Kommunikations­form, das Tagebuch. Und beide sind wohl in erster Linie weniger der Veröffentlichung angedacht. Ob es in diesen Zeiten des globalisierten Mausklicks, in Zeiten wo erste Liebesbeziehungen mit SMS-Kürzeln beendet werden, ob es wohl noch Tee­na­ger gibt, die wie Du damals zu Tinte und Papier greifen, um einer erfunde­nen Tagebuch-Freundin namens Kitty, Cindy oder Mandy ihre geheimsten Gedanken anzuvertrauen ? Der Anlass meines Schreibens ist an sich nichtig. Ich sah die Rekonstruktion einer mittlerweile in der ganzen Welt bekannten Fotografie von Dir auf einem Plakat, das eine Theatervorführung ankündigte: Anne Frank: Das Tagebuch. Eine szenische Lesung. Zu Werbezwecken hatte man die 26-jährige Schauspielerin Asli Bayram zum Anne-Frank-Backfisch umgestylt, mit gestärkter weißer Bluse und akkurat gescheitelter Jungmädchenfrisur. Main selling points nennt man das heute: Dein Name, Dein Bildnis, Dein Werk. So war ich neugierig geworden auf eine Inszenierung eines Textes, der für die Auf­führung auf einer Theaterbühne – einer relativ großen obendrein – wohl kaum ungeeigneter sein könnte: die intimen schriftlichen Ergüsse eines dreizehn- bis sechszehnjährigen pubertierenden Mädels. Als ich in dem Alter war, in dem Du die Hefte in den Jahren 1942 bis 1944 verfasstest, hab ich das Buch so gelesen, wie es mir für ein Tagebuch passend scheint: im Bett, mit dem Gefühl des Heimlichen, dem Gefühl, etwas mit Dir zu teilen, das geheim bleiben sollte. Damals waren es Deine Darstellungen des Gefühlslebens eines jungen Mädchens, die mich interessierten. Die Rebellion gegen die Erwachsenen, gegen Deine Eltern im besonderen, das Erwachen der Sexualität, Liebesbekenntnisse an Peter, Wuttiraden gegen Mitbewohner. Es war die schriftstellerische Inszenierung eines an sich ganz und gar langweiligen Alltags in den engen traurigen Lebensbedingungen des Verstecks, das mich damals faszinierte. Deine mitunter langatmigen Ausführungen zur politischen Lage, Deine bisweilen altklugen gekünstelten Analysen fand ich damals für einen Teenager ziemlich prätentiös und etwas albern. Es war damals eine ganz unmittelbare Lektüre, von Anne zu Anne, von Mädchen zu Mädchen. Dass die Umstände Deines so kurzen Lebens, aber auch die besondere innere Kraft Deiner Aufzeichnungen Dein Tagebuch zu einem „ungewöhnlichen Werk der Weltliteratur“ (laut Wikipedia), sogar zu einem Symbol für die Judenverfolgung  insgesamt machten, war für mich als Leserin damals zweitrangig. Nichtsdestotrotz war die Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank meine persönliche Passage von den Kinderbüchern zur Erwachsenenliteratur. Nach der Lektüre Deiner Texte, liebe Anne, war die Wahl jedes Buches eine bewusste Wahl, eine engagierte Wahl. Es folgten dann ziemlich schnell Bücher über Sophie Scholl und die Weiße Rose und mein damaliges Lieblingsbuch mit dem vielsagenden Titel Nicht nur dem Manne untertan, ein Buch über so starke Frauenfiguren wie Florence Nightingale, Rosa Luxemburg oder Bertha von Suttner. Du warst also, liebe Anne, mein persönlicher Einstieg zur Literatur insgesamt und zur Frauenliteratur insbesondere, und somit hattest Du immer einen besonderen Platz in meinem Herzen. Ich verfolgte Deine Spuren, ich sah mir Ausstellungen an und besuchte das Hinterhaus in Amsterdam. Ich entdeckte mit einiger Verwirrung, dass Du durch Deine privaten Aufzeichnungen zu einer der öffentlichsten Symbolfiguren für Verfolgung, Holocaust und Völkermord geworden warst. Dass Dein Konterfei eine Werbefläche geworden war und dass sich Dein Tagebuch zum Angriffsobjekt für Geschichtsrevisionisten und Holocaustleugner mit abenteuerlichen Fälschungstheorien entwickelte. Es schien so, als seien die Aufzeichnungen einer Sechszehnjährigen endgültig in die Hände älterer Männer geraten. Ältere Männer von der bösen Sorte und ältere Männer von „der guten Seite“. Mit der Frage im Kopf, ob ich im Escher Stadttheater wohl eher der Vision der älteren Männer oder dem jungen Mädchen Anne Frank begegnen würde, besuchte ich die „szenische Lesung“. Sehr gespannt darauf wie, und auch warum, mann ein Tagebuch eines „richtigen Backfischs“ (Du über Dich selbst) inszeniert. Die federführenden Männer waren: Theaterdirektor Charles Muller für die Textgestaltung, Dramaturg Olivier Ortolani für die Textauswahl, Tone Fink für die Gestaltung der Raumobjekte und Guy Wagner für die musikalische Beratung. Verkörpert wurdest Du von der türkischstämmigen Deutschen Asli Bayram, die Kostümbildnerin Dagmar Weitze in Jungmädchenkleidung gesteckt hatte. Asli war beeindruckend als Anne. Allein die Vorführung dieses langen Monologs verlangt Respekt ab. Nur von Musikeinlagen von Erich Wolfgang Korngold unterbrochen, trug Asli Auszüge aus Deinem Tagebuch mit Kraft und Intensität vor. Das Bühnenbild war so schlicht, wie man es sich denken konnte: ein Stuhl, ein Schrank, ein Raum, das Tagebuch. Über das Warum dieser Inszenierung dachte ich noch länger nach. Die Darbietung der Tagebuchtexte durch eine Schauspielerin bringt dem Text nichts Neues, kein Mehr an Intensität als die Lektüre der Originaltexte. Im Gegenteil. Da man auf der Bühne nur Auszüge darbringen kann, ist die Inszenierung zwangsläufig eine Aneinanderreihung an mehr oder minder guten Kompromissen. Es bleibt der Anspruch, dass man Dich, liebe Anne Frank, bei dem unbelesenen Publikum oder bei der lesefaulen Jugend bekannt machen oder bekannt lassen möchte. Dass Dein Leben und Dein Tagebuch nach wie vor ein gutes Mittel für engagierte Lehrer und Kulturmenschen ist, um das schwierige Thema des Holocausts anzugehen. Und so waren denn auch beim Publikum, liebe Anne, viele, viele Backfische Deines Alters und, wer weiß, vielleicht liest die eine oder andere jetzt den ganzen Text unter der Bettdecke oder fühlt sich zur eigenen (niemals veröffentlichen) Intimliteratur beflügelt? Letztendlich habe ich in Esch natürlich etwas gesucht, das es seit März 1945 nirgendwo mehr geben kann: das wahre Wesen der Anne Frank.Liebe GrüßeDeine Anne Schroeder

 

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