Mit dem Gastro-Unternehmer Gabriel Boisante und der Präsidentin der Femmes socialistes, Maxime Miltgen, will die LSAP in der Hauptstadt zurück an die Macht. Ein Porträt

Bobobourg City

d'Lëtzebuerger Land du 07.10.2022

De Gaab „Bürgermeister werden!“, antwortet Gabriel Boisante (45) ohne zu zögern auf die Frage nach seinen politischen Zielen. „Man stellt sich nicht den Wählern, um zu verlieren.“ „De Gaab“, wie ihn alle nennen (vielleicht auch, weil niemand weiß, wie sein Nachname richtig ausgesprochen wird), ist keiner, der um den heißen Brei herum redet. Zusammen mit der Präsidentin der Femmes socialistes, Maxime Miltgen (29), wird er die Stater Sozialisten in den Gemeindewahlkampf führen. Am Dienstag hat die hauptstädtische Sektion die beiden in der Bar-Lounge Wëllem am Knuedler vorgestellt.

Schräg gegenüber vom Wëllem, im Erdgeschoss der bourgeoisen Maison Lassner, liegt das Restaurant Bazaar. Betrieben wird es von der Congo sàrl., die 2002 von den Besitzern der besonders bei Yuppies und „Talenten“ beliebten Urban Bar eröffnet wurde. 2011 hat Boisante sich bei den Brüdern Raymond und Thomas Hickey eingekauft, seitdem haben sie gemeinsam weitere Gesellschaften gegründet und führen mehrere Gaststätten, vornehmlich in der Oberstadt und im Bahnhofsviertel (Mamacita, Paname, Amore). Ihr Markenzeichen ist die hippe Einrichtung, vor seiner Karriere als Gaststättenunternehmer hat Boisante fünf Jahre bei einem Innenarchitekten gearbeitet, mit dessen Tochter er liiert war und zwei gemeinsame Kinder hat.

In den vergangenen Jahren haben die Unternehmer expandiert. Ein neues Lokal pro Jahr hätten sie eröffnet, erzählt Boisante stolz. Erst kürzlich haben sie das Restaurant La Familia mit 150 Plätzen im Einkaufszentrum Copal in Grevenmacher eingeweiht, in Wasserbillig entsteht ein weiteres. Ein Prestigeprojekt ist die Biermarke Twisted Cat, die sie zusammen mit den Mikrobrauern von Bare Brewing auf den Markt gebracht haben. Auf der Industriebrache Nei Schmelz hat die von LSAP-Ko-Präsident Dan Biancalana geführte Gemeinde Düdelingen ihnen die ehemalige Lokomotivwerkstatt zur Verfügung gestellt, wo ihre Gesellschaft Cattitude eine Brauerei samt großem Restaurant eingerichtet hat. Eigentlich sollte sie schon im Frühjahr öffnen, wegen Verzögerungen hat es etwas länger gedauert. Gabriel Boisante ist gestresst, als wir ihn am Montagnachmittag im Bahnhofsbuffet treffen. Für seine vierzigminütige Verspätung entschuldigt er sich.

Auch Maxime Miltgen hat Erfahrung in der Gastronomie. Als Studentin jobbte sie in Kneipen, direkt nach ihrem Abitur war sie ein Jahr lang Geschäftsführerin des Marx in Hollerich. Die frühere Kult-Bar gehörte damals ihrem Vater Daniel Miltgen, der 1992 unter Wohnungsbauminister Jean Spautz (CSV) zum Direktor des Fonds du Logement avancierte und 2015 von Maggy Nagel (DP) abgesetzt wurde. In Hollerich lernte sie vor über zehn Jahren auch „de Gaab“ kennen, der 2011 als Teilhaber in das Restaurant Mama Loves You der Hickey-Brüder eingestiegen war. Maxime Miltgen entschied sich schließlich gegen eine Karriere im Nightlife und zog nach Belval, um Jura zu studieren. Allerdings waren es ihre Erfahrungen in der Marx-Bar, die ausschlaggebend dafür waren, dass der damalige Campaign Coordinator der Sozialisten, Pascal Husting, sie 2018 als Event-Managerin für die Wahlkampagne einstellte. Boisante trat auf diesen Events als Moderator auf.

Während der Wahlkampagne knüpfte Maxime Miltgen Kontakte zu den Minister/innen und Abgeordneten und freundete sich mit aufstrebenden Jungsozialisten wie Max Leners, Ben Streff und Amir Vesali an. „Danach ging alles sehr schnell“, erzählt sie im Gespräch mit dem Land. Sie trat der LSAP bei, Taina Bofferding stellte sie als Kommunikationsbeauftragte im Innenministerium ein, 2019 übernahm sie den Vorsitz der Femmes socialistes (FS) und wurde in die Parteileitung aufgenommen. Sie übte sich im Schreiben von politischen Meinungsbeiträgen, in denen sie sich hauptsächlich mit Frauenrechten und Chancengleichheit beschäftigte. Als FS-Vorsitzende ist sie auch in der Plattform JIF engagiert, die den Fraestreik organisiert.

Kaffee Gabriel Boisante wurde 2017 von Franz Fayot in die LSAP geholt, anderthalb Monate vor den Gemeindewahlen. „Bei einer Tasse Kaffee“, wie er erzählt. Auch Fayot hat bekanntlich Verbindungen zum Gaststättengewerbe, seine Partnerin Kelsey Todter betreibt das Florence Specialty Coffee in der rue Adolphe Fischer. Bei den Kommunalwahlen platzierte sich der Neuling auf der LSAP-Liste als Fünfter direkt hinter Joanne Goebbels. Weil diese 2019 verzichtete, als Marc Angel Nicolas Schmit im Europaparlament ersetzte, rückte Boisante in den Gemeinderat nach. Dort hat er sich bislang vor allem während der Corona-Krise für die Belange der Geschäftsleute eingesetzt. Bei den Kammerwahlen 2018 kam er im Zentrum nur auf Platz zehn, doch in den Wahlbüros der Hauptstadt ließ er erfahrene Politiker wie den langjährigen Gemeinderat Tom Krieps und die Abgeordnete Cécile Hemmen hinter sich.

Das ist auch der Parteiführung nicht entgangen. Erst im Februar hatten die Stater Sozialisten mit Mélanie Troian (44) und Fayots rechter Hand im Wirtschaftsministerium, Luc Decker (45), eine neue Sektionsspitze gewählt. Troian, hohe Beamte im Bildungsministerium, galt seitdem als Anwärterin auf die Spitzenkandidatur. Vor allem die Regierungsmitglieder haben aber darauf gedrängt, dass Boisante und Miltgen die Liste bei den Kommunalwahlen in der Hauptstadt anführen, was sie nicht zuletzt ihrer guten Vernetzung im gesellschaftlichen Leben der Stadt Luxemburg und in der LSAP-Spitze zu verdanken haben. Obwohl Maxime Miltgen in gesellschaftspolitischen Fragen sehr progressive Ansichten vertritt, hat sie sich zu den Herausforderungen in der Hauptstadt bislang kaum öffentlich geäußert.

Am Dienstag formulierten die beiden ein klares Wahlziehl: Die LSAP will wieder in den Schöffenrat. Das Problem dabei ist: Seit Jahrzehnten verlieren die Sozialisten in der Stadt Luxemburg an Zustimmung. Dabei waren sie in den Nachkriegsjahren in der damals noch von der Industrie geprägten Hauptstadt mehrmals stärkste Partei (1951, 1963, 1969), von 1963 bis 1969 stellten sie mit Paul Wilwertz sogar den Bürgermeister. 1975, ein Jahr nachdem Sozialisten und Liberale erstmals eine Regierung ohne die CSV gebildet hatten, stürzte die LSAP in der Hauptstadt von neun auf sechs Mandate ab. 2005, als die Grünen die CSV vorübergehend als Juniorpartner der DP im Rathaus am Knuedler verdrängten, fielen die Sozialisten auf vier Sitze. 2017 verloren sie noch ein weiteres Mandat.

Erklärungen für diesen kontinuierlichen Abstieg gibt es mehrere. Die wichtigste ist wohl struktureller Natur: Durch die Deindustrialisierung der Hauptstadt haben die Sozialisten seit den 1970-er Jahren nach und nach ihre Wählerbasis verloren. Die neuen Einwohner/innen, die sie ersetzten, sind vorwiegend am Bankenplatz und im Dienstleistungssektor tätig. Hinzu kommt, dass 2017 lediglich 30 Prozent der 114 000 Einwohner/innen in den Wählerlisten eingeschrieben waren (in Esch/Alzette waren es 40, in Düdelingen 54 Prozent), 80 Prozent davon hatten die luxemburgische Nationalität. Rund 12 600 Stimmen haben Lydie Polfer vor fünf Jahren gereicht, um die mit Abstand bestgewählte Politikerin zu werden.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs (und auch schon davor) stellen die Liberalen fast ununterbrochen den Bürgermeister. Nachdem Colette Flesch 1969 das Amt von Paul Wilwertz zurückeroberte, gab die DP es nicht mehr her. Auf Flesch folgte 1979 Camille Polfer, der 1981 von seiner Tochter Lydie abgelöst wurde. Als diese 1999 Außenministerin wurde, übernahm Paul Helminger, der sich 2011 Xavier Bettel geschlagen geben musste, bevor Lydie Polfer 2013 zurückkehrte. Diese jahrzehntelange Alleinherrschaft hat dazu geführt, dass viele Schlüsselposten in den kommunalen Verwaltungen mit loyalen Beamten besetzt sind, die keine anderen Vorgesetzten kennen und dulden. Selbst die Schöffen hätten es schwer, manche Beamte würden nur Anweisungen befolgen, die von der Bürgermeisterin höchstpersönlich kommen, heißt es hinter vorgehaltener Hand.

Generatiounswiessel Um den politischen Wechsel zu ermöglichen, will die LSAP die rund 30 000 wahlberechtigten Expats, die sich 2017 nicht in die Wählerlisten eingetragen hatten, nun dazu bewegen, diesen Schritt zu tun. Und sie hofft, dass die meisten von ihnen sie wählen. 2023 brauche es endlich den „Generatiounswiessel, net nëmme beim Alter, mee och bei der Mentalitéit“, sagt Maxime Miltgen. Insgeheim träumen einige Sozialisten von einem Bündnis mit Grünen und Linken, um eine progressive Politik zu betreiben, wie es Anne Hidalgo in Paris tut: mehr Sozialwohnungen, weniger Autos, bessere Rad- und Fußgängerwege, größzügigere Grünflächen. Tatsächlich dürfte es ohne die CSV aber schwierig werden, die DP aus dem Schöffenrat zu verdrängen. Wie LSAP und insbesondere Grüne jedoch mit dem rechtsliberalen CSV-Schöffen und bekennenden Grünen-Hasser Laurent Mosar eine Koalition bilden wollen, steht auf einem anderen Blatt.

Die DP von vornherein als Koalitionspartner ausschließen wollten die Sozialisten am Dienstag deshalb nicht. Schließlich steht bei den Liberalen noch keine Spitzenkandidatin fest. Vielleicht könnte es ja mit Corinne Cahen programmatische Überschneidungen geben. Die Familienministerin hatte in den vergangenen Monaten ihr soziales Engagement in den Vordergrund gestellt, sich als Fahrrad-Fan geoutet und damit politische Signale in Richtung von LSAP und Grünen gesendet.

Vor allem Maxime Miltgen pocht im Gespräch mit dem Land auf ihre „gréng Oder“ und schwärmt von nachhaltigen ökologischen Projekten wie dem Perfumed Jungle in Hong Kong, dem Anti-Smog Tower in Paris und Hochhäusern aus Holz in Norwegen. Sie selbst wohnt in der Oberstadt, in einem Apartment in der Nähe des Theaterplatzes, das sie sich nur leisten könne, weil die Miete günstig sei.

Gabriel Boisante möchte seinerseits beweisen, dass auch Unternehmer „eng sozial Oder“ haben. Sein Aufstieg steht sinnbildlich für die neue Ausrichtung der LSAP, mit der sie nach dem Verschwinden der industriellen Arbeiterschaft neue Wählerschichten erschließen will, in einem Land, in dem nur noch die größtenteils wohlhabende Hälfte der Bevölkerung wahlberechtigt ist. Das A in LSAP stehe heute für Arbeit und nicht mehr für den Arbeiter, weil der seit Einführung des Einheitsstatuts nicht mehr existiere, sagt Boisante. Demzufolge sei jeder ein Arbeitender, egal ob Angestellter oder Freiberufler. Diese Form der „Rationalisierung“ ist in der Partei inzwischen weit verbreitet.

Trotzdem löst Boisantes Kandidatur in der LSAP auch Unbehagen aus. Eine organische Verbindung zur Partei, wie viele sie in der Stater Sektion haben, kann er nicht vorweisen. Seine Mutter ist Anästhesistin, sein Vater Kardiologe, 1981 zogen sie von Paris nach Niederkorn, um dort im Krankenhaus zu arbeiten. Er selbst studierte Immunologie und Unternehmensmanagement in Paris. Danach war er für den Pharmakonzern Aventis und die Versicherungsgesellschaft Axa tätig. Zurück in Luxemburg war er bei Luxcontrol und der WSA beschäftigt. Nebenbei übernahm er kleine Filmrollen, moderierte Society-Events wie den Filmpräis, den Bal Russe und später die Nightlife-Awards. Politisch oder zivilgesellschaftlich engagiert war er vor 2017 nicht.

Payback In der LSAP hofft man, er sei ein „sozialer Unternehmer“, der überdurchschnittlich hohe Löhne zahle. Der Realität entspricht das nicht. Die meisten seiner eigenen Angaben zufolge rund 260 Angestellten verdienen den Mindestlohn. Gleichheit macht Boisante nicht am Einkommen, sondern am Gesetz fest. Wer weniger verdiene, habe vielleicht besseren Zugang zu anderen Dingen, als jemand, der mehr verdiene, erklärt er im Gespräch mit dem Land. „Wann ee wëll méi verdénge wéi e Plongeur, da soll en an d᾽Finanz schaffe goen. Ech kenne kee Plongeur, dee mat enger Ferrari fiert“, sagt Boisante, der während seines Studiums in Pariser Bars jobbte. Das Gaststättengewerbe ist in seinen Augen nur eine Momentaufnahme in der beruflichen Karriere, eine Art Rettungsplattform, eine Zwischenetage im sozialen Lift nach oben. „Viele fangen dort an, ohne Luxemburgisch oder Französisch zu sprechen. Sobald sie die Sprachen beherrschen, bekommen sie einen besseren Job.“ Deshalb müsse das Angebot an kostenloser Weiterbildung verbessert werden. „Wenn die Menschen nicht mehr die Wahl haben, wenn wir ihnen nicht mehr die Freiheit zum sozialen Aufstieg lassen, haben wir als Gesellschaft versagt“, erklärt Boisante. Für Arbeitszeitreduzierung und zusätzliche Urlaubstage sei er durchaus offen, auch die Position seiner Partei zum Indexmechanismus unterstützt er.

Ein weiteres Problem, das wichtiger sei als hohe Löhne, seien die langen Anfahrtswege, die viele Arbeitnehmer/innen in Kauf nehmen müssten. „Statt stundenlang im Stau zu stehen oder im Zug zu sitzen, sollten sie bei ihrer Familie sein“, sagt der dreifache Vater, der mit seiner derzeitigen Lebenspartnerin und ihrem gemeinsamen Sohn in Bonneweg wohnt. Deshalb lautet Boisantes politische Hauptforderung, die Stadt Luxemburg müsse jährlich 100 Millionen Euro in den Bau von erschwinglichem Wohnraum investieren. Einnehmen könne man das Geld durch die Besteuerung von Immobilienspekulation.

Das von DP und CSV hochstilisierte „Kriminalitätsproblem“ im Bahnhofsviertel will er nicht mit privaten Sicherheitsfirmen, sondern mit Gentrifizierung lösen. Die Eröffnung seiner Cocktail Bar Paname habe bereits einen positiven Einfluss auf die Place de Paris gehabt. Attraktivere lokale Geschäfte könnten auch im unteren Teil der Avenue de la Liberté eine neue Kundschaft anziehen.

Vom Paname sind es nur 250 Meter bis zu Corinne Cahens Schuhladen. Auch Cahens und Boisantes politische Vorstellungen liegen nicht so weit auseinander. Wenn die (Noch-)Familienministerin nicht kandidiert, wird es für die LSAP schwierig, ihr Wahlziel zu erreichen. Seit Generationen versuchen ganze sozialistische Dynastien vergeblich in der Hauptstadt wieder an die Macht zu kommen. Boisantes Motivation, in die Politik zu gehen, dürfte sich von der von Cathy und Franz Fayot, Joanne und Gil Goebbels oder eines Marc Angel und Tom Krieps jedoch nicht wesentlich unterscheiden. „Menschen, die Glück im Leben haben oder etwas stärker sind, haben die Verpflichtung, sich gesellschaftlich zu engagieren, damit jeder dieselben Chancen bekommt wie sie“, sagt der neue Anwärter auf das Bürgermeisteramt. „Ich möchte etwas zurückgeben.“

Luc Laboulle
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