Gefährliches Taktieren der Türkei

Nützlicher Nebeneffekt

d'Lëtzebuerger Land du 10.10.2014

Seit Wochen überqueren Menschen aus der Türkei die Grenze zu Syrien, um ihre Solidarität mit Ain-al-Arab zu zeigen. Ain-al-Arab wird seit Wochen von den Mörderbanden der Isis belagert, die im irakischen Mossul schweres amerikanisches Kriegsgerät erbeuteten. Die kleine Stadt ist in der Welt unter ihrer kurdischen Name Kobane bekannt geworden. Denn die Mehrheit der Bevölkerung der Stadt bilden die Kurden.

Deshalb stellen die Kurden aus der Türkei auch die Mehrheit unter den Grenzgängern. Sie wollen den Kämpfern der YPG ihre Solidarität zeigen – eine kurdische Organisation in Syrien, die mit der kurdischen Guerillaorganisation PKK in der Türkei ideologisch, wie organisatorisch verbandelt ist. Aber auch manche Türken wollen die YPG unterstützen. Vor allem Sozialisten, aber auch Menschenrechtler, bilden Gruppen und besuchen die YPG-Kämpfer. Selbst Kriegsdienstverweigerer sagen, man dürfe in dieser Situation den kurdischen YPG-Kämpfern nicht sagen, sie sollen nicht töten.

Die türkische Regierung, dagegen verhält sich nervös, wenn es um Kobane geht. Die Herausforderungen, die vor ihr liegen, sind beträchtlich und vielfältig zugleich. Hätte sie freie Hand, wäre es für sie sehr einfach, eine Politik gegenüber Isis zu finden. Doch diese Freiheit hat sie nicht. Einerseits wird Isis von den westlichen Verbündeten Ankaras zum Feind Nummer eins im Irak und Syrien erklärt. Andererseits will die türkische Regierung nicht den Kurden helfen – vor allem nicht denjenigen Kurden, die mit der, von der türkischen Regierung als terroristische Vereinigung eingestufte PKK in Verbindung stehen. Denn die Existenz der selbstverwalteten kurdischen Zone Rojava in Syrien stärkt wiederum die Position der PKK, mit der die türkische Regierung in so genannten „Friedensverhandlungen“ steht.

Bis vor kurzem hatte Ankara eine Entschuldigung für ihre Passivität: Isis hatte im türkischen Generalkonsulat in Mossul 49 Menschen aus der Türkei Geisel genommen – unter anderem den Generalkonsul selbst. Bis sie befreit wurden, durften die Türken sich in Sachen Isis nicht aggressiv zeigen, um den Gefangenen das Schicksal der geköpften westlichen Journalisten und Entwicklungshelfern zu ersparen.

Nicht, dass Isis der Regierung unter Führung des ehemaligen Außen- und neuen Premierminister Ahmet Davutoglu kein Dorn im Auge wäre. Die Politiker, die in Ankara herrschen, sind selbst Islamisten. Doch sie sind auch Realpolitiker. Sie sind dessen bewusst, dass Isis eine Mörderbande ist und ein ganz anderes Islam-Verständnis vertritt, als sie selber. Gleichzeitig sehen sie, dass eine einfache Niederschlagung der Isis-Söldner Ankaras Nahost-Strategie mit einem Schlag zunichte machen könnte. Aus diesem Grund versuchen islamistische Politiker in Ankara, die volle Hälfte eines nicht existierenden Glases zu sehen.

„Es gibt eine Menge Gründe für die Entstehung von Isis“, sagte der Vizepremier Bülent Arinc vor zwei Wochen und erklärte aus seiner Sicht diese Gründe: „Angefangen mit der US-Besatzung Iraks und den katastrophalen Maßnahmen, die die Schiiten und Sunniten zu Feinden gemacht haben. Dann hat der ehemalige Ministerpräsident Iraks eine falsche Politik betrieben. Die Waffen der US-Armee, die zurückgeblieben waren, sind in die falschen Hände geraten. Irak stand auf einmal vor der Spaltung.“

Hinzu kommen innenpolitische Überlegungen. Die türkischen Islamisten hatten vor kurzem ihren heißgeliebten Führer Recep Tayyip Erdogan zum Staatspräsidenten gemacht. Sie wissen aber, dass ihre Zeit an der Macht allmählich abläuft und brauchen daher einen vorerst letzten Erfolg, um die Verfassung zu ändern und das Präsidialsystem einzuführen. Deshalb kommt die neue Regierung Davutoglu mit einer Isis-Strategie, die, oberflächlich gesehen, im Einklang mit den Wünschen der restlichen Welt zu sein scheint. In Wahrheit verfolgt die Türkei aber ganz andere Ziele.

Das Parlament in Ankara ebnete letzte Woche der Regierung den Weg für militärisches Handeln in den beiden Nachbarländern im Süden. Das bedeutet allerdings nicht, dass nun türkische Soldaten als Bodentruppen des Bündnisses um die USA agieren, die gegen Isis aus der Luft kämpfen. Was die Türkei eigentlich im Sinn hat, wurde deutlich, als der Staatspräsident Erdogan während des UN-Generalversammlung in New York zu türkischen Journalisten sprach: Nachdem er darauf hingewiesen hatte, dass sein Land zehn Mal mehr Flüchtlinge aus der Region aufnimmt als alle EU-Länder zusammen, definierte er zwei konkrete Ziele, die aus Sicht der Türkei wichtig seien: Eine „Sicherheitszone“ mit Flugverbot solle auf syrischem Boden und entlang der türkischen Grenze errichtet und gleichzeitig eine Strategie des „Ausbildens und Ausrüstens“ verfolgt werden.

Welche Überlegungen hinter dieser Strategie stecken, wird klarer, wenn die richtigen Fragen gestellt werden. Das hat der türkisch-kurdische Politiker Selahattin Demirtas getan. Er wollte wissen, warum die Türkei eine Flugverbotszone verlange. Jeder wisse doch, dass Isis keine Flugzeuge besitze. Auch die Frage, wer „ausgebildet und ausgerüstet“ werden soll, ist berechtigt.

Die Antworten liegen auf der Hand: Die Luftwaffe des verhassten syrischen Assad-Regimes soll über den nördlichen Teilen ihres Landes nicht fliegen dürfen. Gleichzeitig sollen Anti-Assad-Gruppen, die Verbündete der Türken sind, wie die Freie Syrische Armee, militärisch ausgebildet und ausgerüstet werden – sie sollen also endlich Waffen bekommen. Obwohl das alles unter dem Vorwand Isis zu bekämpfen geschehen soll, versucht die türkische Regierung damit, ihre alte Nahost-Strategie ihren westlichen Verbündeten aufzuzwingen.

Denn, wenn es nach der Regierung in Ankara ginge, sollten am Ende die sunnitischen Verbündeten der Türkei in der Region gestärkt, womöglich das Assad-Regime gestürzt und durch sie ersetzt werden. Wenn dabei Isis zerstört wird, mit deren Kämpfer Ankara seit längerem Probleme hat, ist das ein nützlicher Nebeneffekt. Wenn dabei auch Kobane fällt und damit die kurdische Selbstverwaltung im Norden Syriens vernichtet werden kann, umso besser.

Cem Sey
© 2024 d’Lëtzebuerger Land