Die großherzogliche Armee im Umbruch

Sein und Sollen

Entrainement Armée Hosingen, Luxembourg
d'Lëtzebuerger Land du 17.02.2017

Die sicherheits- und militärpolitischen Eckdaten haben sich verschoben: Einerseits lässt Russlands neosowjetisches Streben nach weltpolitischer Geltung und der damit verbundene Wunsch nach einem militärpolitischen Puffergebilde aus Satellitenstaaten, Gefühle potenzieller Bedrohung bei den Nachbarn im Süden und Westen wieder aufflackern. Hinzu kommt der Versuch, wachsende Bewegungen und Strömungen im rechten politischen Spektrum durch mediale, ideologische und finanzielle Unterstützung für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Auch hier fällt die Analogie zur Sowjetzeit auf, die sich damals freilich auf das linke Spektrum stützte. Syrien und die Ukraine weisen Merkmale eines Stellvertreterkrieges aus der Zeit des Kalten Krieges auf.

Andererseits hat die Interventionspolitik des Westens, unter Führung der USA, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs, den Sturz zahlreicher autoritärer Staaten ausgelöst, was jedoch nicht, wie erhofft, zu Demokratie, Partizipation und Emanzipation geführt hat. Vielmehr wurden eher weltliche Diktaturen durch ethno-religiöse Kräfte destabilisiert, welche soziale und ökonomische Probleme quasi als Teil eines göttlichen Masterplans instrumentalisieren, ohne jedoch einer Lösung näher zu kommen. Instabilität, Terrorismus, Kriminalität und Flüchtlingsströme bestimmen die öffentliche Diskussion. Alle Nachbarländer Luxemburgs haben mittlerweile verlustreiche Terroranschläge durch beziehungsweise im Namen von islamistischen Bewegungen zu verzeichnen.

Diese Einflussfaktoren sind äußerer Natur und wären an sich schon Grund zur Besorgnis. Druck auf die westlichen Allianzen entsteht jedoch auch aus deren Innerem. Die EU-Südflanke kämpft mit einer wirtschaftlichen Dauerkrise und das Nato-Land Türkei hat sich nach einem obskuren Putschversuch zu einem unsicheren Kantonisten unter autoritärer Führung eines Islamisten gewandelt, der mit ottomanischen Wunschträumen Populismus von oben betreibt und dabei im postsowjetischen Putin einen Seelenverwandten erkennt. Donald Trump hat sich im Wahlkampf widersprüchlich zur Nato und lobend zu Putin geäußert. Vorwürfe stehen im Raum, der E-Mail-Hack bei den US-Demokraten habe ihn zum US-Präsident von Putins Gnaden gemacht. In Europa haben zentrifugale Kräfte zum Brexit-Votum geführt, was die EU ihre potentesten Streitkräfte kosten könnte. Rechtspopulistische Politiker, ob in Opposition oder Regierung, bekunden Sympathie für Putin als neuer Lichtgestalt des antimodernistischen, antiaufklärerischen, antipluralistischen Kampfes gegen westliche Dekadenz, Multikulturalismus und für deterministische ethnische, kulturelle und religiöse Identität.

Die Rolle der Luxemburger Armee

Auf internationaler Ebene besteht sie (siehe www.armee.lu) darin:

– Contribuer à la défense collective ou commune dans le cadre des organisations internationales dont le Grand-Duché est membre,
– Participer dans le même cadre à des missions de maintien de la paix, de la gestion des crises, y compris des opérations de rétablissement de la paix,
– Participer à la vérification et au contrôle de l’exécution des traités internationaux dont le Luxembourg fait partie.

Die beschriebene Veränderung der sicherheitspolitischen Eckdaten betrifft Luxemburg aufgrund seiner Mitgliedschaft in Nato und EU, wie aus der Presseerklärung des Generalstabs vom 22.12.2016 hervorgeht: „Nach 25 Jahren mit dem Schwerpunkt der Krisenbewältigung, rückt nunmehr eine erneute Ausrichtung auf die Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung im Rahmen des Bündnisses in den Mittelpunkt.“

Die großherzogliche Armee beteiligt sich im Rotationsverfahren an der Präsenz von Nato-Truppen an der Grenze zu Russland in Litauen. In den vergangenen 25 Jahren, das heißt nach der Auflösung des Warschauer Paktes beziehungsweise der Sowjetunion, wandelte sich das Bild des Soldaten vom Kämpfer für eine nationale beziehungsweise Bündnissache hin zu dem eines Fachmanns für weltweite Konfliktverhinderung und Konfliktnachsorge. Schwerpunkte der Ausrüstung und Ausbildung waren somit vorgegeben, das heißt Überwachungsmissionen und Patrouillen. Gefechte hoher Intensität gegen reguläre Truppen verschwanden während einer ganzen Generation aus dem Fokus der Aufmerksamkeit in den Bereich des zwar Möglichen, aber Unwahrscheinlichen. Mittlerweile ist außer den USA kein Nato-Land mehr in der Lage, umfangreiche militärische Operationen selbstständig durchzuführen. Luxemburg war hierzu aufgrund seiner geringen Größe noch nie im Stande und stets nur im Rahmen von Allianzen militärisch aktiv.

Auf nationaler Ebene besteht die Rolle der Armee darin:

– Participer, en cas de conflit armé, à la défense du territoire du Grand-Duché,
– Assurer la protection des points et espaces vitaux du territoire national,
– Fournir assistance aux autres administrations publiques et à la population en cas d’intérêt public majeur et de catastrophes naturelles,
– Offrir aux volontaires une préparation à des emplois dans le secteur public ou privé.

Was Luxemburg von anderen Staaten hinsichtlich des Militärs unterscheidet, ist nicht der Umfang oder die Qualität der Streitkräfte, sondern der Umstand, dass das Militär zu keinem Moment für die Konstituierung beziehungsweise den Erhalt des Staates das bestimmende Element war. Das moderne Luxemburg hat keinen Gründungsmythos, der auf kriegerischen Helden oder militärischen Ruhmestaten beruht. Das Militär ist, in der Logik der Staatswerdung im 19. Jahrhundert, Symbol und Garant staatlicher Souveränität. Heute hat die Armee als gleichberechtigter Teil eines Bündnisses eine Daseinsberechtigung; anders als zu der Zeit, in der sie das Staatsgebiet verteidigen sollte, wozu sie aus praktischen Gründen selbstständig nie imstande war.

Die Territorialverteidigung („Participer, en cas de conflit armé, à la défense du territoire du Grand-Duché“) ist heute nicht mehr als Verteidigung gegen anrückende fremde Heere zu verstehen, sondern muss im Rahmen der so genannten globalen asymmetrischen Kriegführung als Sicherung des Staatsgebietes („Assurer la protection des points et espaces vitaux du territoire national“), seiner Institutionen, Infrastrukturen und nicht zuletzt seiner Einwohner betrachtet werden. Terrorismus zielt wohl nicht auf die Besetzung nationalen Territoriums ab, sondern darauf, durch Druck auf die Bevölkerung politische Ziele zu erreichen, das heißt die nationale Entscheidungshoheit und Unabhängigkeit, sprich Souveränität, einzuschränken. Dies ist im Sinne Clausewitz’ ein Krieg: „Der Krieg ist also ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen.“

Luxemburg als Einzelakteur ist aus der Sicht von Terroristen wenig interessant. Aber Luxemburg als Heimstatt und Bühne vieler EU-Institutionen und als Zentrum der internationalen Hochfinanz ist durchaus ein potenzielles Anschlagsziel. Seit einiger Zeit ist auch die so genannte Cyber-Defence in den Fokus der Sicherheitsbehörden gerückt. Die Störung der Computernetzwerke führt über den Umweg der Energie-, Telekommunikations-, Wasser- und Abwasserversorgung binnen kurzer Zeit zu enormen Problemen in quasi allen Bereichen zivilisatorischer Errungenschaften. Hintergrund können militärische, kriminelle oder terroristische Einflussnahmen auf die Souveränität des Landes sein.

Man kann nun argumentieren, dass die innere Sicherheit Sache der Polizei und nicht des Militärs sei. Es ist jedoch ausdrücklich in der Rollenbeschreibung der Armee vorgesehen, im Bedarfsfall anderen Behörden Hilfe zu leisten. („Fournir assistance aux autres administrations publiques et à la population en cas d‘intérêt public majeur et de catastrophes naturelles“) Auch hat Luxemburg, anders als die deutschen Nachbarn, das Trennungsgebot von Polizei und Militär nicht verabsolutiert. Vielmehr ist eine Idee der Französischen Revolution bestimmend, nämlich die der „Force publique“. Tenor ist, dass jeder der sich gegen die Gesetze der Republik stellt, ob gegnerischer Soldat, irregulärer Kämpfer, Aufständischer oder Krimineller, von allen bewaffneten Kräften, das heißt der „Öffentlichen Macht“ der Republik, zu bekämpfen ist. Diese „Öffentliche Macht“ ist lediglich aus technisch-organisatorischen Gründen in eine Armee und eine Polizei untergliedert. Bis vor einigen Jahren gab es auch noch die Großherzogliche Gendarmerie, die eine Hybridstellung einnahm und die insofern in der aktuellen Lage gespannter Unsicherheit und verschwimmender Grenzen zwischen Polizei und Militär überraschend adäquat scheint. Man stellt also fest, dass die drei ersten Punkte der nationalen Armee-Aufgaben – Territorialverteidigung, Schutz und Sicherung des Staatgebiets sowie die Unterstützung anderer staatlicher Institutionen, wie etwa Polizei und Rettungsdienste – eine realitätsbezogene Aktua-
lität gewonnen haben.

So viel zur Rollenbeschreibung der großherzoglichen Truppe. Ein Blick in Presse, parlamentarische Anfragen und Reden von Gewerkschaftlern und ministerielle Verlautbarungen wirft Fragen auf, inwiefern die gestellten Aufgaben organisatorisch, personell und materiell darstellbar sind.

Mängel laut Presse, Gewerkschaft und parlamentarischen Anfragen

Material und Organisation Die 48 beschafften Fahrzeuge vom Typ Dingo – mit sehr ausgefeilter Aufklärungstechnik und, in dieser Gewichtsklasse, bestmöglichem Schutz vor Minen und versteckten Sprengladungen – wurden als Patrouillenfahrzeuge konzipiert. Geländegängigkeit, Panzerschutz gegen Beschuss und Fahrleistungen waren aus der Sicht der damaligen Beschaffer zweitrangig für die vorgesehene Nutzung, das heißt die Konfliktnachsorge.

Die Truppenpraxis offenbarte indessen inakzeptabel niedrige Einsatzbereitschaft aufgrund von Ausfällen und Ersatzteilmangel bei elektronischen Bauteilen der Waffenstation und der Aufklärungstechnik. Einerseits ist das Fahrzeug für die geänderten Einsatzszenarien, das heißt die Bündnisverteidigung gegen einen regulären, modern bewaffneten Gegner, wenig geeignet. Andererseits ist die Einsatzbereitschaft auch bei bestimmungsgemäßem Gebrauch technikbedingt unbefriedigend. Auffällig ist die hohe Zahl beschaffter Fahrzeuge. Unterversorgung beziehungsweise Überalterung bei Panzerwesten, Nachtsichtgeräten und Sturmgewehren scheint laut Gewerkschaftskreisen zu herrschen. Nicht jeder Soldat könne vollständig ausgerüstet werden. Anekdoten über improvisierte Schlafplätze für Unteroffiziere machen klar, dass die Grundüberholung der Kasernenanlagen für 100 Millionen Euro notwendig ist und von einer ganzen Reihe von Regierungen schon hätte erledigt werden müssen. Die mittelfristige Erhöhung der Miltärausgaben von 0,4 auf 0,6 Prozent des BIP zielt mit Masse auf Großprojekte, wie militärische Krankenhausstrukturen, Transportflugzeug, Satelliten, IT, Drohnen, Erneuerung des Flughafens und so weiter. Dass diese Ausgaben wichtig und notwendig sind, steht außer Zweifel. Der zuständige Minister Etienne Schneider erklärte am 12.01.2017 in einer RTL-Sendung, nicht das Geld an sich sei das Problem, sondern es müssten sinnvolle Ausgabemöglichkeiten gefunden werden. Es böte sich somit an, beim Griff nach den Sternen die Lösung einiger eher irdischer Probleme des Bodenpersonals hinsichtlich der Dringlichkeit neu zu positionieren.

Hauptproblem Personal Das größte Problem der Armee ist der akute Personalmangel auf allen Ebenen, der allseits seit Jahren beklagt wird. Weder gibt es genügend Freiwillige noch genügend Berufssoldaten quer durch alle Dienstgradgruppen. Die Auslandseinsätze umfassen Einsätze zur Friedenssicherung, Friedenserzwingung und Krisenbewältigung, sowie der Verifikation von Rüstungsvereinbarungen. Diese Einsätze sind außen- und bündnispolitisch konsequent und notwendig. Aber die derzeitige Personaldecke führt dazu, dass „auf Anschlag“ gefahren werden muss. Auch ist eine Verzettelung der Kräfte bei der Vielzahl an Einsätzen zwangsläufig. Nachdem der Afghanistan-Einsatz beendet wurde, bleiben aktuell noch Kosovo, Libanon, Mali und Kongo als Auslandsmissionen. Auch wenn die Rotations-Entsendungen nach Litauen nicht als Auslandsmissionen im klassischen Sinn der vergangenen 25 Jahre zählen, so binden sie doch bedeutende Kräfte und dies, wie alle Missionen, schon in der Ausbildungs- und Vorbereitungsphase. Dies bedeutet einen möglichen Konflikt mit anderen der Armee vorgegebenen Aufträgen, die sich auf das Inland beziehen. Die Argumentation, wonach die gesetzlich vorgesehene Personalstärke lediglich ein mögliches Maximum darstelle und keineswegs zwangsläufig erreicht werden müsse, ist unter den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht zielführend. Offensichtlich ist die Sicherstellung der territorialen Aufgaben bei gleichzeitiger Beibehaltung der Auslandsverpflichtungen im bisherigen Umfang mit der aktuellen Personalstärke nicht darstellbar.

Die terroristischen Ereignisse in Frankreich und Belgien haben dort eine längerfristige verstärkte Präsenz und erhöhte Bereitschaft sämtlicher Sicherheitsorgane notwendig gemacht. In beiden Ländern wurden hierzu von Beginn an auch Militärs herangezogen. Trotz der Mobilisierung von Reservisten waren die Personalressourcen schnell erschöpft. Eine dauerhafte Aufrechterhaltung der erhöhten Bereitschaft und Präsenz erreicht relativ schnell ihre natürlichen Grenzen: Die Sicherheitsorgane sind auf den Normalfall, das heißt die Bekämpfung klassischer Kriminalität ausgelegt und operieren auch in diesem Bereich an der untersten Grenze der Personalstärke. Reserven für längere Phasen erhöhten Personalbedarfs sind nicht vorhanden. In vergangenen Zeiten galt die Armee als personelle Rückfallebene der Polizei. Während der Hochphase der Sprengstoffanschläge durch die „Bommeleeërten“ wurden Soldaten unter Führung von Polizisten oder Gendarmen zu Patrouillen oder Wachdiensten herangezogen. Heute ist die Mannschaftsstärke der Armee nicht mehr vorhanden, um diese Redundanz im erforderlichen Umfang zu bilden. Im Klartext bedeutet dies, dass Luxemburg unter den derzeitigen Rahmenbedingungen bei einer länger dauernden Bedrohungslage die notwendige zeitliche Durchhaltefähigkeit nicht erbringen kann. Die normale Polizeiarbeit und die normalen Missionen der Armee müssten ja parallel weiter gewährleistet werden.

Auch auf dem Gebiet der Katastrophenhilfe hat die Armee einen Auftrag, der durch den allgegenwärtigen Personalmangel nur eingeschränkt erfüllbar ist. Bei der Überschwemmungskatastrophe im Raum Larochette-Ermsdorf im vergangenen Jahr half die Armee zeitnah und wirksam mit Soldaten und Fahrzeugen. Im Anschluss aber kam keine der dreifach vorhandenen Trinkwasseraufbereitungsanlagen zum Einsatz. Es wurden bei Abfüllern und Großhändlern große Bestände an Mineralwasser in Flaschen aufgekauft. Kapazitäten der Armee sind Bestandteil der Reaktionspläne im Falle eines nuklearen Notfalls im AKW Cattenom. Hier soll die Armee bei Evakuierung, Strahlungsmessung und Dekontamination helfen. Luxemburg steht vor der absurden Situation, dass für Katastrophenfälle auf der anderen Seite des Globus zwar Hightech-Satellitenkommunikation durch ein Luxemburger schnelles Einsatzteam vor Ort sichergestellt werden kann, aber eine dreifach vorhandene Trinkwasseraufbereitungsanlage kann in Sichtweite des Herrenbergs nicht in Betrieb genommen werden.

Die Rolle der Armee als wesentlicher Akteur bei der Bereitstellung und Ausbildung von Personal für eine Reihe staatlicher, beziehungsweise parastaatlicher Anschlussverwendungen ist in der Vergangenheit eingeschränkt worden: Teils wegen geänderter Anforderungsprofile der Bedarfsträger, teils wegen der Eigeninteressen vor allem kommunaler Körperschaften, die sich in ihrer Einstellungspolitik nicht bevormunden lassen wollen. Die so genannte Priorität der Armeefreiwilligen stößt in der Praxis häufig auf Hindernisse und Verzögerungen. Selbstverständlich wirkt sich das negativ auf das Rekrutierungspotenzial aus. Ohne jeden Zweifel war und ist die Aussicht auf eine Stelle im öffentlichen Dienst das wesentliche Motivationselement für die meisten Armee-Freiwilligen. Die Zahl der Stellen, die noch exklusiv den abgehenden Freiwilligen vorbehalten sind, ist aber relativ klein und darüber hinaus konjunkturabhängig. So wurde zum Beispiel kürzlich wieder nach längerer Zeit, unter dem Druck der Entwicklung, eine Zahl Brigadiers aus der Armee für den unteren Polizeidienst eingestellt.

Der Personalmangel bringt derzeit schon den Truppenbetrieb an und über seine Grenzen. So scheint, wie aus einer parlamentarischen Anfrage hervorgeht, die sanitätsdienstliche Eigenversorgung durch vorzeitige Abgänge von paramedizinischem Fachpersonal im Unteroffiziersrang stark gefährdet. Hintergrund ist eine Änderung in der Besoldungsstruktur, welche die Lebensplanung der Betroffenen über den Haufen warf und angesichts einer Vielzahl attraktiverer Alternativen im Zivilbereich den militärischen Sanitätsbereich verwaisen ließ. Dies kontrastiert mit den Überlegungen, im Rahmen von Krankenhausstrukturen eine militärische Komponente zu schaffen, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden kann.

Die Armee operiert also hinsichtlich des Personalbestands im roten Bereich. Dieser Betriebszustand ist keine neue, plötzlich aufgetretene Erscheinung, sondern hat sich seit langen Jahren aufgebaut. Hintergrund waren und sind falsche, beziehungsweise fehlende Anreize bei der Rekrutierung (Engpässe bei Anschlussverwendungen), falsche Weichenstellung bei der inneren Organisation (Udo-Verwendungen und die so genannte Super-Priorität) sowie verspätetes Gegensteuern durch geeignete Öffentlichkeitsarbeit.

Politische Defizite

Aktuell wurde durch den Rechnungshof eine klare Langfristperspektive in Form eines Weißbuches angemahnt. Ein Weißbuch war zwar in Ausarbeitung, wurde jedoch durch den damaligen Directeur de la Défense noch vor der Präsentation zurückgezogen, weil es obsolet, beziehungsweise „zu akademisch“ gewesen sei. Unter den veränderten Rahmenbedingungen ist ein parteiübergreifender Konsens über Zweck und Ausrichtung der Armee unbedingt notwendig.

Die politische Aufgabe besteht in einer Neudefinition des Rollenbildes der großherzoglichen Armee unter Zielsetzung eines nachhaltigen und verschleißarmen Betriebes sowie der Anpassung an geänderte Bedarfsszenarien im Inneren und Äußeren. Die zentralen Fragen lauten:

– Was soll die Armee unter den derzeitigen Bedingungen leisten?
– Was braucht sie, um dies kurzfristig leisten zu können?
– Was soll die Armee künftig leisten?
– Was braucht die Armee für die künftigen Aufgaben?

So ist insbesondere die Frage zu beantworten, wie „Territorialverteidigung“ im Zeitalter asymmetrischer Konflikte zu definieren ist. Wie ist ein „internationaler Konflikt“ zu definieren in Zeiten, in denen nichtstaatliche Akteure auf allen Ebenen das Gewaltgeschehen bestimmen und Krieg als ein Exklusivrecht der Staaten obsolet machen? Wann ist Krieg und wann Frieden, wenn es keine Kriegserklärung und keinen Friedensvertrag mehr gibt? Wird die Dualität von Krieg und Frieden aufgelöst, so ergibt sich eine Welt ohne Krieg und gleichzeitig eine Welt ohne Frieden. Ist dies nun innere oder äußere Sicherheit, ist die Polizei oder das Militär gefordert?

Es gilt somit, sich der veränderten sicherheits- und militärpolitischen Realität mit Augenmaß und unter Berücksichtigung unserer nationalen Rahmenbedingungen zu stellen. Die markanteste Rahmenbedingung ist unsere demografische Realität. Polizei, Armee und Rettungsdienste rekrutieren ganz überwiegend aus dem Pool der rund 280 000 autochthonen Luxemburger. Dies bei einer Wohnbevölkerung von 540 000. Tagsüber halten sich jedoch durch Pendler, Touristen, Durchgangsverkehr und so weiter circa 900 000 Personen im Lande auf. Deren Sicherheit wird jedoch nur aus dem Rekrutierungspool von 280 000 bereitgestellt. Das Missverhältnis ist augenscheinlich.

Außerdem sind die Sicherheitsorgane dann nicht mehr ein Spiegel der Gesellschaft, was einer Identifikation mit und der Integration in Staat und Gesellschaft abträglich ist. Die Zahl der Soldaten muss zur Erfüllung der politisch beziehungsweise gesetzlich vorgegebenen Aufgaben zunehmen. Die ergriffenen Maßnahmen, wie das Rekrutierungsbüro und insbesondere die Vorbereitungsklassen (Copral), sind ein Schritt in die richtige Richtung. Der Erfolg scheint durch die Tatsache untermauert, dass Wartelisten aufgestellt werden mussten und laut Verteidigungsminister die Erfolge der Kandidaten bei der Musterung deutlich über dem Durchschnitt liegen.

Die mittelfristige Wirkung könnte durch die Einführung eines regelrechten „Lycée militaire“ mit formalem Abschluss noch deutlich erhöht werden. Man muss die jungen Menschen dort abholen, wo sie stehen: in der Schule beziehungsweise der Ausbildung. Die Armee darf nicht als letzter Ausweg für drop-outs verstanden werden, sondern als eine klare, langfristig geplante Perspektive nicht nur in der Armee, sondern in allen Behörden. Die künftig fürs Militär vermehrt zur Verfügung stehenden Gelder sollen ja möglichst einen Mehrwert für Luxemburg darstellen. Eine Investition in ein vollwertiges „Lycée militaire“ wäre zweifellos ein solcher Mehrwert.

Eine weitere Maßnahme zur Schaffung von Redun-danz besteht in der Schaffung einer Armee-Reserve. Die in den öffentlichen oder gleichgestellten Dienst abgehenden Freiwilligen blieben dann bis zu einem gesetzlich festgelegten Alter Reservisten und würden jährlich zu Reserveübungen herangezogen. Alle westlichen Armeen verfügen über Reservekomponenten. Hierzu gibt es eine Vielzahl von Modellen. Luxemburg kann es sich nicht leisten, die einmal ausgebildeten Soldaten nur kurzfristig, quasi als Einmal-Geschirr, zu nutzen. Eine Reserve war zuletzt in den Achtzigerjahren in der Diskus-sion, wurde aber nie realisiert. Ihre Schaffung wäre einerseits eine sehr wirkungsvolle Maßnahme, stellt jedoch auch eine politische, organisatorische und militärkulturelle Herausforderung dar. An Kosten dürfte sie nicht scheitern, werden doch die allermeisten Freiwilligen nach ihrer aktiven Dienstzeit in ihren Arbeitsstellen sowieso weiter von öffentlichen Geldern bezahlt und die angestrebte Erhöhung der Ausgaben von 0,4 über 0,6 BIP-Prozent auf die vorgegebenen Werte der Allianz, verschafft ausreichend Spielraum. Nicht anwendbar sind betriebswirtschaftliche Prinzipien. Sicherheitsrelevante Instrumente sind nicht auf die Deckung eines Durchschnittbedarfs auszulegen, sondern es sind Redundanzen für Ausnahmefälle vorzusehen.

Die genannten Veränderungen eines Politikfeldes müssen breite Akzeptanz erfahren und dürfen nicht in ihren langfristigen Prinzipien und Perspektiven durch Regierungswechsel über den Haufen geworfen werden Die Politikwissenschaft kennt den Begriff der „Securitization“. Das Politikfeld Sicherheit wird dabei aus dem normalen politischen Betrieb herausgelöst und Lösungen werden prioritär und parteiübergreifend erarbeitet. Dies könnte, idealerweise, durch das angemahnte Weißbuch geschehen.

Reiner Hesse hat Politologie und Soziologie mit Schwerpunkt Militär- und Sicherheitspolitik studiert und zum Thema Vergleichbarkeit militärischer Führungskulturen und -philosophien geforscht.

Reiner Hesse
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