Ein ökologischerer Tripartite-Beschluss wäre möglich gewesen. Wenn die Regierung die Energiepreise nicht erst vor vier Wochen als Problem entdeckt hätte

Mit der Gießkanne gegen die Inflation

Energieminister Claude Turmes (rechts) am Dienstag Nachmittag mit Vizepremier François Bausch, der noch am Samstag bei RTL gegen
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 23.09.2022

Das prägnanteste Urteil über den Tripartite-Beschluss fällte am Mittwochmorgen die Präsidentin des Mouvement écologique : „Aus unserer Sicht ist das ein absoluter Fehlschlag“, gab Blanche Weber im RTL Radio zu Protokoll. „Inbrünstig“ habe der Umweltverband gehofft, dass es „Selektivität für Haushalte und Betriebe“ geben werde, „aber bitte keine Preisdeckelung“. Nun jedoch werde „allen geholfen“. Dabei sei doch bekannt, dass mehr Energie verbraucht, wer viel verdient.

Was stimmt. Und noch am Samstag hatte der grüne Vizepremier François Bausch im „RTL Background“ erläutert, weshalb er die 7,5 Cent Tankrabatt für „sinnlos“ hielt: Weil jeder sie bekam. Großverdiener ebenso wie Mindestlohnempfänger, SUV-Fahrer ebenso Kléeinwagenbesitzer. „Ich hätte Klein- und Mittelverdienern, die im Ösling wohnen, noch mehr gegeben.“ CSV-Fraktionschef Gilles Roth habe „Recht gehabt“, als er darauf hinwies, wer im ländlichen Raum wohnt und auf sein Auto angewiesen ist, bekomme die gestiegenen Spritpreise anders zu spüren als etwa ein Stater.

Dasselbe kann man nun dem Tripartite-Paket vorhalten, wenn der Strompreis für sämtliche Kleinverbraucher/innen gegenüber dem aktuellen Stand nicht weiter steigen soll, der Gaspreis um höchstens 15 Prozent. Die Grünen finden sich nun in Erklärungsnot. Parteipräsident Meris Sehovic sagt dem Land, „der Gaspreis ist schon jetzt doppelt so hoch wie vor Ausbruch des Ukraine-Kriegs“. Kämen noch 15 Prozent Preissteigerung hinzu, sei das sehr wohl ein Anreiz zum Sparen. Außerdem gelte der Preisdeckel für Strom und Gas ja „nur temporär“. Vor allem aber habe das alles überragende Ziel der grünen Regierungsmitglieder in der Tripartite gelautet, „das Indexsystem zu schützen und eine soziale Katastrophe zu verhindern. Die Energiepreise laufen zu lassen, wäre eine Katastrophe gewesen“.

Die Energiepreise einfach laufen lassen, wollte natürlich niemand. Dass die Versorger von Enovos bis Sudenergie ankündigten, die Vorabzahlungen für Gas würden zum 1. Oktober um 80 bis 110 Prozent steigen, die Strompreise Anfang nächsten Jahres um 35 Prozent, verhieß nicht nur sehr viel Spar-anreiz, sondern Unheil. Und es war immerhin das Vorsitzenden-Tandem der Grünen, Meris Sehovic und Djuna Bernard, das Ende August erklärte, „Hilfen bis weit in die Mittelschicht“ seien nötig.

Heute hingegen ist es nicht leicht, in dem 1,1 Milliarden Euro schweren Paket einen Ansatz zum Klimaschutz zu erkennen. Obwohl er existiert, aber nur mittelbar. Wenn die Gaspreise, die seit 2021 nicht um 100 Prozent gestiegen sind, sondern nur um 62 Prozent, wie das Energieministerium präzisiert, um weitere 15 Prozent steigen, würden sie im Schnitt über alle Gasversorger um 78 Prozent höher als 2021. Denkt man sich hinzu, dass die Strompreise beim aktuellen Stand gedeckelt werden sollen, bleibt ein Anreiz bestehen, auf Elektro umzusteigen – ein Elektroauto anzuschaffen, eine Öl- oder Gasheizung durch eine elektrisch betriebene Wärmepumpe ersetzen zu lassen. Für Letztere soll die Investitionsbeihilfe erhöht werden. Das war’s aber auch schon mit der Energie-Transition im Tripartite-Kompromiss, sieht man davon ab, dass Beihilfen für Betriebe für Investitionen in Energieeffizienz (und in Digitalisierung) gleichfalls angehoben werden.

Andere Länder helfen nicht so unterschiedslos, wieder andere doch. Luxemburg orientiert sich offenbar an Frankreich: Dort sollen ab Anfang Januar und bis Ende 2023 die Gaspreise und ab Februar die Strompreise jeweils um höchstens 15 Prozent steigen können, wie vergangene Woche mitgeteilt wurde. Ohne diesen Deckel wird mit um 120 Prozent höheren Preisen gerechnet. Haushalte, die mit Gas heizen, sollen pro Monat im Schnitt nur 25 Euro mehr zahlen als heute, wer mit Strom heizt, 20 Euro mehr. Die zwölf Millionen Familien, deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt, erhalten einen einmaligen Energiescheck über 100 bis 200 Euro.

Dagegen soll in den Niederlanden eine Preisgrenze nur für einen Teil der Strom- und Gaskosten gelten, wie Anfang dieser Woche bekannt wurde. Was über einen Grundbedarf hinausgeht, müsste zu Marktpreisen bezahlt werden. In Deutschland wurde vor drei Wochen ein solches System für den Strom angekündigt. Ob es auch auf Gas ausgeweitet wird, ist noch offen. Am weitesten vorangekommen mit einem Modell dieser Art ist vielleicht Österreich: Die dortige Regierung hat am 7. September eine „Strompreisbremse“ beschlossen: Ab Dezember und bis Mitte 2024 werden für einen Grundverbrauch von bis zu 2 900 Kilowattstunden im Jahr zehn Cent pro Kilowattstunde gelten, für den Rest Marktpreise. Die Schwelle von 2 900 Kilowattstunden soll in etwa 80 Prozent des Durchschnitts-Stromverbrauchs der österreichischen Haushalte entsprechen. Bis zu 500 Euro monatlicher Mehrkosten soll die Deckelung abfangen.

Allerdings geht das österreichische Modell von Haushalten bis drei Personen aus. Sind es mehr, müssten zusätzliche Anträge gestellt werden. Und wer ein Elektroauto daheim auflädt oder mit einer elektrischen Wärmepumpe heizt, bekäme das nicht gesondert berücksichtigt. Bisher jedenfalls. In Österreich ist eine Diskussion entbrannt, ob zumindest Wärmepumpen separat betrachtet werden sollten. Oder ob eine Preisbremse für „Raumwärme“ hermüsse, unter die neben Wärmepumpen und Elektroheizungen auch Öfen fallen würden, die Holzpellets verbrennen.

„Solche Diskussionen hätten wir auch in Luxemburg führen müssen, um die Preisdeckelung gezielter zu machen“, sagt Energieminister Claude Turmes (Grüne). Die Regierung aber habe schnell reagieren müssen. „Wir brauchten eine Entscheidung jetzt, ehe die Strom- und Gasversorger zum 1. Oktober die Vorauszahlungen erhöht hätten.“ Wolle man schnell reagieren, sei „einfach keine Zeit, um raffinierte Sachen zu machen“. Und so ist Turmes das wahrscheinlich prominenteste Mitglied des Mouvement écologique, das die Einschätzung Blanche Webers nicht teilt. „Null!“, betont er. Und wiederholt: „Wir mussten den Leuten helfen. Andernfalls hätten 1 500 bis 2 500 Euro an monatlichen Energiekosten gedroht, zum Teil vielleicht noch mehr.“ Alternativ zum allgemeinen Deckel für Strom und Gas habe die Tripartite eine Zeitlang die Ausgabe von Energieschecks erwogen. Die aber hätten an den Preisen an sich nichts geändert. Die Inflation wäre weitergewachsen und drei bis fünf Indextranchen fällig geworden, je nachdem welches vom Statec vergangene Woche vorgestellte Inflations-Szenario eingetreten wäre.

Keine Zeit für raffinierte Sachen – dahinter verbergen sich so pikante Details wie jenes, dass eine gezielte Deckelung des Gaspreises auch technisch schwierig wäre. Nicht jeder Luxemburger Haushalt hat einen eigenen Gaszähler; selbst in Apartmentgebäuden neueren Baujahrs werden alle Verbraucher/inen zusammengefasst, die Kosten anschließend nach einem von der Besitzergemeinschaft vereinbarten Schlüssel aufgeteilt. Den Gaspreis gestaffelt deckeln zu wollen, hätte wahrscheinlich verlangt, Verbrauchs-Typologien festzulegen. Und sich der Diskussion zu stellen, wie willkürlich das sei und wen es womöglich benachteilige.

Doch „keine Zeit“ hat auch damit zu tun, dass die Regierung sich den Energiepreisen viel zu spät zuwandte. Während in Deutschland etwa auch über die Sommermonate die Diskussion über die Preise nie abriss, Anfang September das dritte Entlastungspaket in die öffentliche Debatte kam, herrschte in Luxemburg business as usual mit Vakanz und Schueberfouer. Nachdem die Parteispitze der Grünen in der letzten Augustwoche ihre Pressekonferenz zu den Hilfen gehalten hatte, nahm Premier Xavier Bettel den Energieminister auf ein gemeinsames Pressebriefing im Anschluss an den ersten Regierungsrat nach der Sommerpause mit, wie Paulette Lenert im März 2020 nach den ersten Covid-Fällen. Bettel demonstrierte dort, wer der Chef ist im Kabinett und dass er nicht akzeptiere, dass ein Koalitionspartner sich mit eigenen politischen Ideen zu profilieren versucht. Derselbe Premier, der nach seiner Kiew-Reise am 21. Juni öffentlich kein Wort mehr über die Ukraine verlor und dessen Koalition der Link zwischen Russlands Angriffskrieg und politischen Maßnahmen daheim abhandengekommen ist. Zurück aus dem Urlaub und konfrontiert mit der Aussicht auf schon ab 1. Oktober stark steigende Energiepreise, zunächst für Gas, blieb kein Raum für andere Lösungen als eine generelle Preisdeckelung, deren Differenzbetrag die Allgemeinheit per Staatsbudget bezahlt. Zumal in einer Tripartite-Runde, in der die Gewerkschaften insistierten, jede anfallende Index-
tranche müsse ausbezahlt werden, und die UEL das bestehende Indexsystem am liebsten abgeschafft hätte. Um das Thema Index zur Ruhe zu bringen und die Entwicklung der Inflation so weit zu drücken, dass höchstens eine Indextranche pro Jahr fällig wird, griff die Regierung zur Gießkanne.

Hilfen auszureichen, nicht zu viel vom Sparen erzählen zu müssen, stattdessen die Anreize walten zu lassen, hat für die Koalitionsparteien natürlich den willkommenen Nebeneffekt, sich beim Wahlvolk nicht unbeliebt zu machen. Der bei den Grünen wenig beliebte Tankrabatt kommt für Betreiber einer Ölheizung sogar in doppelter Höhe wieder. Doch gespart werden muss. Dass Gas gespart werden soll, verlangt der im Juli vom EU-Energieministerrat verabschiedete Gasnotfallplan. In der aktuell geltenden ersten Stufe sieht er vor, dass kein Mitgliedstaat sanktioniert wird, der das Sparziel von 15 Prozent nicht einhält. Doch was wäre, wenn unter den EU-Staaten mehr Solidarität nötig wird als derzeit, weil vielleicht doch mehr Strom aus Gas hergestellt werden muss oder überhaupt kein Gas mehr aus Russland fließt? Die Lage um den Ukraine-Krieg ist gefährlicher geworden, nachdem diese Woche in Russland eine Mobilmachung von 300 000 Reservisten angeordnet wurde.

Dass neben Gas auch Strom gespart werden soll, nicht nur zunächst eher freiwillig, sondern von Anfang an obligatorisch, steht in einem Vorschlag, den die EU-Kommission vergangene Woche gemacht hat: Um mindestens zehn Prozent solle der Stromverbrauch zwischen Anfang Dezember und Ende März gesenkt werden – vor allem in „Spitzenpreiszeiten“, wenn die Nachfrage am höchsten ist. Ob Luxemburg dem gerecht werden könnte, falls die EU-Energieministerrunde das auf ihrem nächsten Treffen am 30. September so beschließt und wenn hierzulande ab dem Tag danach der Strompreis für alle Haushaltskunden nicht mehr steigen soll? Wer weiß. Sparappelle an die Bürgerinnen und Bürger zu richten, wäre dann jedenfalls ziemlich merkwürdig. Herhalten müssten wohl Staat, Gemeinden und besonders stromintensive Betriebe.

Peter Feist
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