Arbeiterkinder haben in Luxemburg schlechtere Bildungschancen. Der Fernunterricht wegen Covid-19 könnte sie weiter zurückwerfen

Niemanden verlieren

d'Lëtzebuerger Land du 10.04.2020

„Flotte Ideen und Inspiration“ für die Osterferien, schreibt Erziehungsminister Claude Meisch in einem Newsletter an alle Eltern im Land, worin er eine Internetseite mit Freizeitaktivitäten für Kinder bewirbt, die nun wegen Covid-19 gezwungenermaßen den Urlaub daheim verbringen. Wer auf kannerdoheem.lu klickt, bekommt Beschäftigungen nach Altersgruppen vorgeschlagen, sei das eine Camera Obscura bauen oder ein Segelschiff aus Weinkorken basteln und anderes mehr.

Die Eltern, die den Platz und die Zeit haben, sich mit den Kleinen zu vergnügen und nicht vereinnahmt sind von Erwerbs- und Familienarbeit, dürfte die kostenlose Hilfestellung von Erziehungsministerium und nationalem Jugenddienst SNJ ansprechen. Aber was ist mit den Familien in Not, wo das Geld schon in Nicht-Krisenzeiten kaum bis zum Ende des Monats reicht, geschweige denn, um Bastelmaterial zu kaufen, wo die Wohnverhältnisse zu eng sind, um zu spielen?

Kein Anschluss unter dieser Nummer Die Sorge um die Kinder und Jugendlichen aus einkommensschwachen Elternhäusern beschäftigt zunehmend auch das Erziehungsministerium. Das wurde auf der Pressekonferenz des zuständigen Ministers am vergangenen Donnerstag deutlich. Neben Anleitungen dazu, wie das vom 20. April auf den voraussichtlich 4. Mai verlängerte digitalisierte Homeschooling verbessert werden kann, galt Claude Meischs (DP) Augenmerk den Kindern, die die Schule offenbar trotz Messenger-Apps und Lern-Plattformen nicht erreicht. Er warb um Verständnis für die „unterschiedlichen Lebenssituationen“ von Eltern, Schülern und Lehrern, etwa von Alleinerziehenden mit mehreren Kindern, die neben dem Job vielleicht noch drei Schulprogramme von Kindern im unterschiedlichen Alter folgen müssten – und dankte allen für ihren „Einsatz“ und ihr „Verständnis.“

Das Ministerium hat die digitalen Angebote auf schouldoheem.lu ausgebaut. Aber erreichen sie auch diejenigen, die sie am dringendsten benötigen? Selbst in besser gestellten Schichten hat nicht jede Familie W-Lan, für jedes Kind einen Computer und einen funktionsfähigen Drucker zuhause. Jeder Monat ohne Schule aber verzögert die Entwicklung von Kindern – bis Lernrückstände nicht mehr aufgeholt werden können.

Tablets als Leihgabe In den frühen Tagen der Pandemie (an einem Donnerstag), als sich abzeichnete, dass Schulen und Kindergärten schließen würden, um eine Verbreitung des gefährlichen Virus einzudämmen, hatte das Ministerium vor allem ein Anliegen: Den Freitag vor den landesweiten Schulschließungen zu nutzen, um den Austausch zwischen Lehrern, Schulen und Schülern während der Quarantäne zu planen: Jeder Schüler hat grundsätzlich ein Online-Konto, über das er mit seinen Lehrern in Kontakt treten kann. Und sie mit ihm.

Alle Direktionen im Land, egal ob öffentlich oder privat, waren angehalten, sicherzustellen, dass alle Kinder eine E-Mailadresse führen. Diejenigen, die zuhause keinen Computer haben, bekamen aus den jeweiligen Beständen einen mit nach Haus. „Weit über tausend Sekundarschüler“ wurden laut Ministerium mit Laptops oder Tablets versorgt. In den Grundschulen besorgten dies die Gemeinden. Diejenigen ohne Internet bekamen Arbeitsblätter mit heim. Ihr/e Klassenlehrer/in werde sich mit weiteren Anweisungen melden. Einige nahmen die Aufgabe sehr ernst und schossen mit wahren Aufgabenbergen weit übers Ziel hinaus. Einer ministeriumseigenen Umfrage zufolge war eine große Mehrheit, über 80 Prozent, mit der Betreuung zum plötzlich angeordneten Fernunterricht recht zufrieden. Bei punktuellen Problemen in einem Fach hakt der Fachlehrer nach. Schüler, die digital nicht zurechtkommen, kriegen Anleitungen per Post. Die Ackerbauschule beispielsweise verschickte vor den Osterferien Umschläge mit weiteren Aufgaben.

Plötzlich verschwunden Und doch gab und gibt es SchülerInnen und Eltern, die nicht erreicht wurden. Sie scheinen wie von der Bildfläche verschwunden. „Meistens sind es die Schüler, die auch im Präsenzunterricht nicht problemlos sind“, beschreibt der Direktor eines Lycées im Norden das Profil. Dass Kinder aus einkommensstärkeren Familien bessere Noten und bessere Bildungschancen haben, weil sie daheim unterstützt werden, bemerken SchulexpertInnen seit vielen Jahren. In Luxemburg ist der soziale Graben zwischen Wohlstandskindern und Arbeiterkindern besonders tief. Entsprechend groß sind die Befürchtungen des Ministeriums, sozial schwache Schüler könnten durch die pandemiebedingte Auszeit weiter abgehängt werden. Zumal, wenn sie auch noch eine neue Sprache lernen. Um das zu verhindern, empfehlen Schulleitungen zunächst, der/die Klassenlehrerin solle über E-Mail, Messenger-Dienste oder Video-Chat Kontakt zum Schüler aufnehmen. Bleibt das ohne Erfolg, sind persönliche Anrufe zuhause, durch die Direktion, ein nächster Schritt. Schulpsychologinnen vom Service psycho-social et d,accompagnement scolaires (Sepas, siehe d’Land vom 27.3.20) werden eingeschaltet, wenn familiäre Nöte hinter der Funkstille vermutet werden. In manchen Schulen, wie im Lycée Michel Lucius, begleiten Erzieher und Mitarbeiter spezialisierter Förderteams Kinder mit Schulproblemen.

Jugendamt zu Besuch Das Sepas-Team schreibt die Betroffenen per E-Mail an und versucht, herauszufinden, wo der Schuh drückt. Besonders Schüler, die allein wohnen oder nicht mit ihren Eltern leben, ebenso wie Flüchtlingskinder, liefen Gefahr, den Anschluss zu verlieren, so Alioune Touré, Psychologe und Koordinator der schulpsychologischen Dienste in den Schulen. Waren alle diese Kontaktversuche erfolglos, bleibt als letztes Mittel, das Jugendamt einzuschalten: Sozialarbeiter klingeln dann bei besonders schwierigen Fällen daheim und statten dem Kind einen persönlichen Besuch ab, mit Sicherheitsabstand selbstverständlich, um nach dem Rechten zu sehen. „Die Familienhilfen laufen während der Corona-Krise weiter“, sagt Lex Folscheid, Erster Regierungsrat im Erziehungsministerium. Eine gesetzliche „Grauzone“ mache dies möglich.

Auf rund fünf Prozent schätzt der Beamte die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, „die wir überhaupt nicht erreichen“, auf 15 bis 20 Prozent, das ist immerhin ein Fünftel, den Anteil der Kinder, deren Betreuung während der Corona-Ausgangsbeschränkungen holprig verläuft. Besonders hart trifft es Eltern, die behinderte Kinder jetzt rund um die Uhr zuhause haben: Nicht nur verlangen diese eine intensive Betreuung; den Eltern fehlt oft das pädagogische Know-how, um mit ihnen zu lernen. In diesen Fällen bemühen sich Mitarbeiter der Kompetenzzentren, individuelle Lösungen zu finden, verspricht Laurent Dura, Leiter der Abteilung Kinder mit besonderem Förderbedarf im Ministerium.

Die Gründe für schlechten oder keinen Austausch sind nicht immer Frust, Überforderung oder null Bock. Direktionen berichten, Lehrer seien plötzlich von der Bildfläche verschwunden, bis sich herausstellte, dass sie mit Covid-19-Fieber im Bett lagen. „Wichtig ist, solche Informationen immer an den zuständigen Lehrer oder an die Schulleitung weiterzugeben“, mahnt Regierungsrat Folscheid. Denn die Schulpflicht gilt in Luxemburg bis 16 Jahre und das auch in der Coronakrise. Wer unentschuldigt dem (Fern-)Unterricht fernbleibt, muss mit Konsequenzen rechnen. Auch Lehrer, die sich nicht einbringen und ihre Schüler sich selbst überlassen, müssen mit disziplinarischen Folgen rechnen. Offenbar sollen im Süden Familien mit schulpflichtigen Kindern das Land verlassen haben. Man sei dabei, dem nachzugehen, so Folscheid. Diese Schüler sind doppelt im Nachteil: Sie verlieren den Anschluss an den Unterricht und an die Klassengemeinschaft.

Das Ministerium will sein Angebot an lernschwache abtrünnige Schüler nach den Osterferien ausbauen: Sie sollen in bestimmten Schulen Nachhilfe erhalten. „Wir prüfen verschiedene Optionen“, erläutert Lex Folscheid. Mitarbeiter der Équipes de soutien des élèves à besoins éducatifs particuliers ou spécifiques (Ebes) oder Studierende der Erziehungswissenschaften, deren Uni-Vorlesungen größtenteils abgesagt wurden, könnten mit bedürftigen Schülern lernen. Wohl gemerkt, nur mit den Nachzüglern; als Betreuungsalternative für überforderte Eltern ist das Angebot nicht gedacht. Und die anderen Schulen bleiben für den Unterricht weiterhin zu.

Präsenzkurse für Nachzügler Nicht nur schwache Schüler bekommen ein zusätzliches Angebot: Wer das wünscht, soll schwache Leistungen oder Wissenslücken durch zusätzliche Aufgaben und Projektarbeiten aufbessern; auch Lern- und Wiederholungskurse während der Sommerfeien, ähnliche wie beim Nachexamen, sind eine Piste, die das Ministerium derzeit prüft. Denn das ist das Ziel, an dem das Ministerium trotz Covid-19 eisern festhält: Allen Schülern zum Schulende ein Zeugnis auszuhändigen – obschon die Lernbedingungen in der Auszeit so unterschiedlich sind. „Das, was wir in der regulären Schule erreichen können, können wir sicher (hier) nicht erreichen. Das soll nicht das Ziel sein“, so Minister Meisch auf der Pressekonferenz. Eher gehe es darum, „die Zeit so gut wie möglich im Interesse der Kinder zu nutzen“, damit Schüler im September ohne „nachhaltigen Schaden“ und „ohne nachhaltigen Nachteil“ das neue Schuljahr beginnen können.

Dafür werden erstes und zweites Trimester zu einem Semester zusammengeschlagen und so zwei Semester gebildet; jedes Semester soll zur Hälfte in die Jahresnote einfließen. Der herkömmliche Lehrplan sowohl in der Grundschule, auf der Sekundarstufe wie auch in der Berufsausbildung wird auf das „Essentielle“ begrenzt. Was das ist, entscheiden die Schulen und Lehrer auf eilig einberufenen Fachkonferenzen selbst – mit Blick auf die genutzten Schulbücher und auf den bereits vermittelten Unterrichtsstoff. Um das Wissen und Können der Schüler zu benoten, sollen Lehrkräfte auf die formative Bewertung, auf den individuellen Lernprozess setzen. Eine automatische Versetzung, wie sie derzeit in Rheinland-Pfalz als Szenario überlegt wird, wird es in Luxemburg nicht geben. An den Ferien werde ebenfalls nicht gerüttelt, so Folscheid.

Keine automatische Versetzung Insofern ist Meischs Botschaft doch widersprüchlich: Ja, Lehrer, Schüler und Eltern sollen sich „nicht verrückt machen und probieren, das Beste“ aus der Corona-Krise zu machen. Gleichzeitig macht genau das Druck: Lehrer müssen sich über eine faire Benotung den Kopf zerbrechen und Schüler doch fürchten, wenn sie im Fernunterricht nicht so gut vorankommen, am Ende schlechtere Noten zu bekommen: „Solange die Schulen zu sind und wir den Fernunterricht haben, machen wir eigentlich nur eine fomative Bewertung“, so Meisch.

In einem so leistungsorientierten und notenfixierten Bildungssystem mutet das allerdings für viele wie ein Sprung ins kalte Wasser oder eine Reise ohne klares Ziel an. Lehrer berichten von Videokonferenzen vor den Ferien, bei denen teils heftig diskutiert wurde. Gestresste und besorgte Kollegen fragen, wie sie Schüler bewerten sollen, wenn klassische Prüfungen als Leistungsnachweise wegfallen. Laut Ministerium sind Prüfungen in den Hauptfächern fakulativ und dienen lediglich dazu, den Schülern Rückmeldungen über ihren Leistungsstand zu geben; sie zählen aber nicht fürs Zeugnis. Prüfungen, die zählen, soll es erst wieder geben, wenn die Schulen den Betrieb erneut aufnehmen. Andere Fächer könnten über Projektarbeiten daheim bewertet werden.

Am Abschlussexamen hält der Minister ebenfalls unverrückbar fest. „Wir planen ein analoges Première-Examen“, bekräftigt Folscheid. Bisher sei man bei der Prüfung der Sicherheits- und Schutzmaßnahmen „auf keine K.o.-Kriterien gestoßen“, die ein Präsenz-Examen verbieten würden. Geplant sei, Schüler mit nötigem Sicherheitsabstand sitzen zu lassen. Die mündlichen Examen sollen ebenfalls in der Schule stattfinden. „Zustände wie in Südkorea wird es bei uns nicht geben“, beruhigt Folscheid. Dort wurden Abiturienten in Fußballstadien geprüft. Bleibt die Frage, inwiefern diese Lernbedingungen gerecht sind und wirklich allen dieselben Chancen bieten. Und was ist mit denen, die wegen Covid-19 latent gestresst und unkonzentierter als sonst sind? Wird das bei der Benotung berücksichtigt? „Dazu werden wir uns Gedanken machen. Wir finden sicherlich auch da eine Lösung“, sagt Folscheid optimistisch.

Ines Kurschat
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