ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Kotau

d'Lëtzebuerger Land du 10.05.2024

Helmut Schelsky wurde 1929 Mitglied des Nationalsozialistischen Schülerbundes, 1932 der SA, 1937 der NSDAP. Nach Auschwitz benannte der deutsche Soziologe die „Volksgemeinschaft“ um in „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“.

Als solche verstehen sich große Teile der Luxemburger Gesellschaft. Das „Statut unique“ schaffte amtlich die Arbeiterklasse ab. Von einer herrschenden Klasse geht keine Rede. Allenfalls von einer oberen Mittelschicht aus Mittelständlern, Rechtsanwältinnen, Studienräten. Sie stellt Abgeordnete und Regierungsmitglieder. Herrscht sie deshalb?

Die CSV-Abgeordnete Diane Adehm war Berichterstatterin zum Haushaltsgesetz. Sie hatte „décidé d’examiner plus en détail [...] l’avenir de la place financière“ (Doc. parl. 8383/10, S. 5). Diese zahle „4 milliards euros en taxes et impôts“ (S. 66). Sie schaffe „25 % de la valeur ajoutée totale de l’économie“. Sie beschäftige „14 % de la population active“. Insgesamt seien sogar 135 519 Arbeitsplätze „liés au secteur financier“ (S. 67).

Die Abgeordnete wollte zeigen: Die Politik müsse entgegenkommend sein. Sie zeigte, wie ausgeliefert sie ist. Sie selbst war der lebende Beweis. Ihre Ausführungen bestanden aus einer Bilanz: „La place financière du Luxembourg“ (S. 57). Gekauft von der Lobby Luxembourg for finance bei der Steuervermeidungsfirma Deloitte. Und aus einer Aussicht: „Les défis auxquels est confrontée la place financière“ (S. 73). Entnommen den Forderungskatalogen der Finanzlobbys Alfi und ABBL für die Koalitionsverhandlungen.

In Absprache mit Premier Luc Frieden und Finanzminister Gilles Roth huldigte Diane Adehm der „place financière“. Das heißt den Leuten, die steuersparend fremden Mehrwert durch Luxemburg schleusen. Durch Banken, Briefkästen, Fonds, Versicherungen. Wenn sie Dividenden, Zinsen, Renten kassieren wollen.

Sie sind eine internationale Klasse von Rentiers. Eine „Leisure Class“, die überall in der Welt ihr „Kapital arbeiten“ lässt. Die wie zu Balzacs Zeiten im Salon sitzt. Oder vor der Privatinsel auf dem Flyboard braust. Nur Luxleaks, Panama-Papers nennen ihre Namen. Sie sind Prokuratoren des „capitalismo per procura“. Wie der Soziologe Luciano Gallino die Herrschaft der Investitionsfonds über das Kapital der Kleinanleger nannte (Con i soldi degli altri, Torino, 2009).

Diese Rentiers und ihre Manager sind klassenbewusst. Ihre ökonomische Macht schafft politische Macht. Sie setzen nie einen Fuß nach Luxemburg. Sie sind die unsichtbar herrschende Klasse. Minister, Abgeordnete, Parteien, Gewerkschaften, Leitartikler stehen bereitwillig zu ihren Diensten. Und halten für nationale Interessen die Interessen der Transnational Capitalist Class (Leslie Sklair, Oxford, 2000).

Der Soziologe Alexis Spire beschreibt „la domestication de l’impôt par les classes dominantes“ (Actes de la recherche en sciences sociales, 2011/5, S. 60). Bereitwillig helfen Ministerinnen und Abgeordnete dabei: Von maßgeschneiderten Gesetzen über verständnisvolle Verwaltungen bis zum Plädoyer vor dem Europäischen Gerichtshof. Gegen etwas Körperschaftsteuer und Abonnementtaxe.

„Et war esou ëm d’Päischten“: Die neue Regierungskoalition erneuerte der herrschenden Klasse den Vasalleneid. Bei Gelegenheit der Haushaltsdebatten. Auf Vorschlag der Nationalisten warfen sich CSV und DP vor der Transnational Capitalist Class auf die Knie. Sie stimmten einen ADR-Antrag, um „d’Eestëmmegkeet a Steierfroen am EU-Ministerrot op kee Fall a Fro ze stellen“. Sie versprachen die bedingungslose Verteidigung der Steueroase. Der Festung Luxemburg für den globalen Klassenkampf der Vermögenden gegen die Steuerzahler, Lohnarbeiter, Besitzlosen anderer Länder.

Romain Hilgert
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