Luxemburgs Schüler liegen in den Naturwissenschaften, beim Lesen und beim Rechnen weiter unter dem OECD-Durchschnitt – ursächlich dafür sei die „Migrationssituation“. Wegen schwacher Leistungen der Einwandererkinder sinke das Gesamtniveau hierzulande, meldete RTL Radio am Dienstagmittag. Hätten die Journalisten abgewartet (eine erste Version des Artikels wurde während der Pressekonferenz im Internet veröffentlicht) und die 25-seitige Studie gelesen, wäre vielleicht aufgefallen, dass die Wahrheit, wie so oft, komplizierter ist.
Es stimmt, dass Luxemburg mit einem Anteil von 49 Prozent Einwandererkindern an der Gesamtschülerzahl an der Spitze der 72 Länder steht, die 2015 an der OECD-Bildungsstudie teilnahmen. Beim Pisa-Test 2003 (die Resultate von 2000 wurden wegen methodologischer Schwächen nicht berücksichtigt) betrug ihr Anteil 30 Prozent, bis 2015 war er um beachtliche 19 Prozentpunkte gestiegen.
Schlüsselt man die Resultate dahingehend auf, welchen Einfluss Sprache, kulturelle und soziale Herkunft auf die Leistungen der Schüler hatten, stellt sich jedoch heraus: Der Leistungsabstand ist zwischen Jugendlichen, die aus einem sozioökonomisch benachteiligten Elternhaus kommen, und Jugendlichen, die sozioökonomisch besser gestellt sind, am größten (Naturwissenschaften 85, Lesekompetenz 88, Mathe 78 Punkte) – deutlich größer, als wenn man den Migrationshintergrund isoliert betrachtet (Rückstand zwischen Schülern mit Migrationshintergrund und jenen ohne: 15 Punkte in den Naturwissenschaften, zehn beim Lesen und zwölf Punkte beim Rechnen). „Von den drei Merkmalen hat die soziale Herkunft den größten Einfluss auf die Schülerleistung und zwar 5,6 Mal mehr als der Migrationshintergrund“, bringt Antoine Fischbach, Direktor des Luxembourg centre for educational testing (Lucet) und wissenschaftlicher Leiter der Luxemburger Pisa-Studie die soziale Ungleichheit des Schulsystems auf den Punkt.
Das ist nicht neu und war bei allen vorherigen Pisa-Tests der Fall. Dass dem Aspekt Migrationshintergrund jetzt die Aufmerksamkeit gilt, halten die Forscher aus einem anderen Grund für gerechtfertigt: Die Entwicklung der Zuwandererkinder gebe Anlass zu Hoffnung. Obschon ihr Anteil wächst, haben sich ihre Leistungen in allen drei Domänen verbessert. „Das spricht dafür, dass es dem System irgendwie gelingt, sie zu integrieren. Wie, können wir aus den Daten leider nicht herauslesen“, erklärt Luc Weis, Direktor des Service de coordination de la recherche et de l‘innovation pédagogiques et technologiques (Script). Die Leistungssteigerungen bei in Luxemburg geborenen luxemburgischsprachigen Schülern dagegen, die 2012 gemessen wurden, seien ein „positiver Ausrutscher“ gewesen. Heißt: Ja, Einwandererkinder schneiden in Luxemburg deutlich schlechter ab als ihre Kameraden ohne Migrationshintergrund. Doch ihr Leistungsrückstand ist kleiner geworden. Sie holen auf. Für Stack-Lëtze-buerger gilt diese frohe Botschaft nicht.
Dass in Kommentaren und in sozialen Netzwerken trotzdem über die Risiken der Zuwanderung gestritten wird, liegt nicht nur an der verkürzten Berichterstattung von RTL: Der Minister selbst hat die Schieflage provoziert. Während sich Script-Direktor Luc Weis und Forscher Antoine Fischbach um eine differenzierte Darstellung der Ergebnisse bemühten, lautete Meischs Kernaussage am Dienstag: Hätten nur Autochtone am Leistungstest teilgenommen, läge Luxemburg über dem OECD-Durchschnitt. Als Beweis ließ Meisch eine entsprechende Grafik (und nur diese) neben seinen Schlussfolgerungen abdrucken. Die Luxemburger Schule sei gut, so sein Fazit, aber eben nicht für jedes Kind.
Offenbar wurde diese Akzentuierung beanstandet. Die Schlussfolgerungen im Pressedossier stammen von Ministerium, nicht von den Forschern der Uni. Es ist nicht das erste Mal, dass Meisch ein eher funktionales Verhältnis zur Wissenschaft an den Tag legt: Als seine Vorüberlegungen zur frühkindlichen Sprachförderung von Sprachforschern der Uni Luxemburg zerpflückt wurden, verzichtete der Minister auf weitere Konsultationen. Dabei ließ Meisch es sich am Dienstag nicht nehmen, zu ermahnen, die Pisa-Testergebnisse „nuanciert und differenziert“ zu betrachten – um im nächsten Atemzug zu fragen, ob eine Teilnahme an der Bildungsstudie in der Form überhaupt noch Sinn mache.
Dass sich ihr Erkenntnisgewinn in Grenzen hält, ist nicht von der Hand zu weisen, nicht zuletzt wegen nahezu unveränderter Ergebnisse. Laut Ministerium kostet die Studie pro Testzyklus (alle drei Jahre) durchschnittlich rund 975 000 Euro; Durchführung, Personalkosten und Mitgliedsbeitrag zusammengerechnet. Das ist viel Geld, das an anderer Stelle fehlt. Doch Meischs Pisa-Kritik läuft unter der Überschrift „Das Unvergleichbare nicht vergleichen“. Das ist nicht nur politisch fragwürdig, es zeugt von sachlicher Unkenntnis oder Ignoranz. Der Leistungstest ist eine internationale Vergleichsstudie: Daten werden nach einheitlichen Kriterien erhoben, gerechnet und verglichen. Deshalb zählt der von Pisa-Gegnern vorgebrachte Einwand nicht, Luxemburg schneide bei dem internationalen Test so schlecht ab, weil hierzulande fast alle 15-Jährigen getestet werden (fünf Prozent der Schüler nahmen nicht an Pisa teil, weil sie neu in Luxemburg sind und/oder ihre Leistungen zu schwach), während es in anderen Ländern ein (beschönigter) Bruchteil der Bevölkerung sei. Oder: Würden nur Classique-Schüler verglichen, befände sich Luxemburg im OECD-Spitzenfeld. Ein Blick auf aktuelle und vorige Pisa-Testergebnisse genügt, um die Behauptung in den Bereich des Wunschdenkens zu verbannen: In Luxemburg erzielen vergleichsweise weniger Schüler exzellente Leistungen, und ihre Spitzenwerte sind nicht so hoch wie etwa in Singapur, Südkorea oder Finnland. Was immer man von internationalen Vergleichsstudien halten mag, „die Pisa-Studie ist und bleibt state of the art“, verteidigt Forscher Antoine Fischbach die Methodologie.
Die Lucet-Wissenschaftler relativieren weitere Alleinstellungsmerkmal, die Pisa-Gegner für Luxemburg reklamieren: die Sprachen und die Zuwanderung. Auch in anderen Ländern wird nicht in der Muttersprache getestet, etwa in Singapur, wo Kinder auf Englisch getestet werden, oder in der mehrsprachigen Schweiz, wo die Testsprache Deutsch ist. Hohe Zuwanderungsraten sind in Zeiten der Globalisierung nichts Ungewöhnliches (mehr). In Deutschland stieg der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund seit 2000 von acht auf 22 Prozent, in Großstädten wie in Berlin liegt ihr Anteil bei über 40 Prozent. Beim Pisa-Musterschüler Finnland ist die Zuwanderung deutlich geringer; es handelt sich bei den Zugewanderten größtenteils um Asylbewerber. Kanada, das in der Pisa-Rangliste weit oben steht, ist seit Jahrzehnten ein klassisches Einwanderungsland – und schafft es trotzdem, die Neuankömmlinge vergleichsweise gut zu integrieren.
Gleichwohl bleibt die Sprachensituation eine Riesenherausforderung. Luxemburgs Schüler müssen nicht eine Sprache, sondern mindestens zwei, respektive drei Sprachen lernen. Das ist aber kein Konstruktionsfehler; die Dreisprachigkeit und sehr gute Kompetenzen in mehreren Sprachen sind politisch gewollt. Folglich muss sich die Bildungspolitik daran messen lassen, ob die Schulen das Ziel erreichen – ohne bereits vorhandene Ungerechtigkeiten zu verstärken oder neue zu schaffen.
Der Hinweis auf die Einzigartigkeit Luxemburgs wurde in der Vergangenheit oft von denen ins Feld geführt, die sich tiefer gehenden Reformen verweigern. Nach 15 Jahren Pisa gibt es kein Deuteln mehr: Die bildungspolitischen Bemühungen dieser und der vorigen Regierung haben die eklatanten Ungerechtigkeiten nicht gemindert und die Testleistungen wurden, von der Aufholbewegung der Einwandererkinder abgesehen, nicht besser. Im Gegenteil, die Risikogruppe derer, die kaum lesen und rechnen können, wächst weiter, die Gruppe der Schüler mit exzellenten Resultaten hingegen stagniert.
Während andere Länder längst gezielte Förderprogramme für Einwandererkinder aufgelegt und die Hochbegabtenförderung systematisiert haben, dort Unterrichtsmethoden überdacht wurden und die Schulentwicklung professionalisiert wurde, kommen Veränderungen in Luxemburg vergleichsweise langsam voran. Eine umfassende Sekundarschulreform wurde von den Gewerkschaften und Lehrervertretern verhindert. Also von jenen, die erfolgreich die Luxemburger Schule durchlaufen haben.
Minister Meisch verweist auf Pläne seiner Regierung, das Schulangebot weiter auszudifferenzieren, um der Schülervielfalt besser zu begegnen. Die erste öffentliche International School in Differdingen ging dieses Jahr an den Start, in Redingen und Grevenmacher gibt es Matheunterricht auf Deutsch. Angebote wie der Bac international in Englisch im Athenäum oder in Französisch im Lycée Technique du Centre wurden bisher nicht ausgewertet. Ob sie zu mehr Chancengerechtigkeit beitragen, bleibt unklar; das gelänge nur, sofern sie verstärkt auch Kindern aus sozial schwachen Elternhäusern zugänglich gemacht würden, und nicht nur Banker-Söhnen und Beamten-Töchtern. Die landesweit geplante zweisprachige Frühförderung in Luxemburgisch und in Französisch richtet sich Meisch zufolge besonders an sozial schwache Kinder, sie tritt aber frühestens im Sommer 2017 in Kraft. Bis messbare Ergebnisse vorliegen, wird es also dauern.
Zwei der Schlüsselmaßnahmen, die Bildungsexperten bereits nach Veröffentlichung der ersten Pisa-Resultate anmahnten, die Sprachanforderungen zu senken und stärker an die gesellschaftliche Realität anzupassen sowie den Technique und Classique durchlässiger zu machen, lassen indes auf sich warten. Nach wie vor finden wenige Einwanderer- und Arbeiterkinder den Weg in klassische Lyzeen. Eine Arbeitsgruppe im Ministerium soll die Sprachanforderungen von der Kinderkrippe bis zur Première neu definieren, noch wurden keine Details bekannt.
Derweil wird in RTL-Foren und auf Facebook über Sinn und Unsinn von Pisa und die Zukunft des Sprachunterrichts gestritten. Es tauchen dieselben Ausreden und Entschuldigungen auf, die der Minister anführte, Sachgehalt irrelevant. Wird das Sprachenproblem thematisiert, wird vielfach mehr Luxemburgisch gefordert und dafür weniger Französisch. Claude Meisch, Instinktpolitiker, der er ist, denkt neuerdings laut darüber nach, Luxemburgisch als Amtssprache in der EU anerkennen zu lassen, Privatschulen sollen hierzulande verpflichtet werden, Luxemburgisch anzubieten (was die meisten bereits tun). Die wachsende Schar der Zuwanderer aber bleibt in der Debatte außen vor. Sie werden nicht zu Fernseh-Rundtischgesprächen eingeladen, ihre Meinung wird nicht gefragt. Gewerkschaften greifen das Narrativ vom unvergleichlich-unvergleichbaren Luxemburg auf, da sind sich plötzlich alle einig. Ein Jahr vor den Gemeindewahlen und zwei Jahre vor den Parlamentswahlen entdecken Minister Meisch, Lehrervertreter und Heimatfetischisten inhaltliche Gemeinsamkeiten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Oder darin Taktik erkennt.