Der neue Chefdirigent der SEL im Land-Gespräch

Frischer Wind

d'Lëtzebuerger Land du 15.07.2010

d’Land: Herr König, was hat Sie nach Luxemburg zu den Solistes Européens gelockt? Halten Sie für erstrebenswert und durchaus machbar, in nur drei Jahren mit diesem Klangkörper wirklich eine Handschrift zu entwickeln, in die Sie all die inzwischen gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse hineinlegen können?

Christoph König: Ich halte es nicht nur für möglich, ich glaube, es ist nirgends besser möglich als hier! Es gibt einen Geist im Orchester, den ich anderswo noch nie angetroffen habe, einen Geist des gemeinsamen Wollens. Ich habe das Rätsel noch nicht gelöst; was ist bei den SEL anders als in anderen Orchestern? Möglicherweise wird die Freude am gemeinsamen Musizieren in einem normalen Sinfonieorchester leichter behindert: durch die schiere Größe, weil sich der Einzelne in dem Kollektiv nicht mehr individuell angesprochen fühlt? Egal, es ist eine einmalige Konstellation, und ich bin wirklich dankbar, dass ich ein Teil davon sein kann.

Ich hoffe, dass von der von Ihnen angesprochenen Handschrift bereits das eine oder andere spürbar war in den letzten Konzerten. Eine Art des Musizierens entwickelt sich unmittelbar im Konzert, dafür brauchen wir nicht drei Jahre. Die Handschrift in der Programmgestaltung kann man allerdings wirklich erst über einen längeren Zeitraum erkennen. Aber: Auch ohne mich hat das Orchester bereits einen eigenständigen Charakter. Ich werde ständig neu angeregt von den Musikern und nehme Ideen und Anregungen auf. Handschrift ist also keine Einbahnstraße, sondern ein ständiges Geben und Nehmen.

Mit welchem Repertoire wollen Sie sich als Chefdirigent der SEL profilieren? Worin werden Sie den Schwerpunkt setzen? Was ist, in anderen Worten, Ihre musikalische Heimat? Gedenken Sie die von Ihrem Vorgänger bevorzugte Wiener Klassik weiter zu pflegen? Ist für Sie das deutsch-österreichische Kern-Genre der Klassik und Romantik das allein Seligmachende oder werden Sie anderen Repertoires einen gebührenden Raum schaffen? Sie haben – so ist mir zu Ohren gekommen – ein Faible für französische Musik. Darüber hinaus reizt Sie auch sehr – das ist ein offenes Geheimnis – die zeitgenössische Musik. Werden Sie das Repertoire der SEL möglicherweise erweitern?

Vielleicht schildere ich kurz, was mir wichtig ist, und beantworte so ihre Fragen: Ja, ich fühle mich zu Hause im deutsch-österreichischen Kern-Repertoire, da komme ich her. Ja, ich glaube, wir sollten immer dieses Repertoire pflegen, weil es unsere Bibel ist. Kein Musiker kommt an ihm vorbei. Aber wir müssen nicht jedes Jahr alle Beethoven-Sinfonien und die letzten drei von Mozart spielen und sonst nichts. Ich mag den harmonischen Einfallsreichtum von Franck und Saint-Saens, ganz zu schweigen von Debussy und Ravel. Ich schätze sehr den Esprit und Witz der Six, die sich auch von der Besetzung her für die SEL anbieten. Natürlich habe ich die Programme der SEL der letzten Jahre studiert, und eine gewisse Einseitigkeit wird sicher niemand bestreiten. Ich wünsche mir – so wie für mein Leben auch – Abwechslungsreichtum, neue Anregungen, Überraschungen, Unvorhergesehenes, aber auch eine gewisse Stabilität. Wie weit wir mit den Überraschungen gehen können, müssen wir gemeinsam mit dem Publikum und unseren Förderern selbst rausfinden. Konkreter: Im Leben gibt es auch bestürzende Momente; sollten wir das in einem Programm auch einmal versuchen? Genauer: So richtig extrem zeitgenössisch, experimentell? Ich bin überzeugt, dass es die Mischung macht. Da gehört französische Musik genauso dazu wie zeitgenössische ...

„Es gibt keinen anschaulicheren Ausdruck für Machtausübung als die Tätigkeit des Dirigenten.“ So hat Elias Canetti in Masse und Macht die Symbolkraft und Führungsrolle des Dirigenten auf den Punkt gebracht. Teilen Sie diese Betrachtungsweise der Orchesterführung? Wie viel darf sich, Ihres Erachtens, überhaupt vom Dirigen­ten in der Musik widerspiegeln? Warum braucht es ihn? Warum hat er in den letzten 150 Jahren eine so zentrale Position eingenommen? Die Bedeutung des Dirigenten ist doch eigentlich, Diener, Testamentsvollstrecker zu sein, in dem Sinne, dass er das vom Komponisten Geschriebene wieder lebendig, wieder neu erlebbar macht.

Naja, jetzt geben sie schon die halbe Antwort selber, da bleibt mir ja nichts mehr. (lacht)

Wenn wir einmal den Nimbus, die Aura, dieses Gottgleiche, das sich so herrlich ironisch bei Canetti wiederfindet („Er schreitet auf Säulen“, wenn ich mich recht erinnere), ausklammern, dann hat sich im Sinfonieorchester mit einiger Verzögerung eine ähnliche Entwicklung vollzogen, wie im Rest unser gesamten Gesellschaft: Spezialisierung und Arbeitsteilung bei zunehmender Komplexität der Aufgaben und Vergrößerung der Firmen und Ensembles. Jeder Musiker wird ihnen bescheinigen, dass die Probenarbeit mit einem kompetenten Dirigenten viel schneller zum Ziel kommt als ohne. Nicht jedes musikalisches Detail muss in einem komplizierten und langwierigen demokratischen Prozess erarbeitet werden. Die Größe der Orchester erfordert oft einen gestischen Koordinator. Entscheidungen über Programme müssen getroffen, Gastdirigenten und Solisten ausgewählt werden und so weiter. Das würde natürlich alles auch in einem demokratischen Prozess gehen, aber womöglich unendlich länger dauern. Auch wäre es sehr kompliziert, die Musiker in diesen Ablauf so einzubinden, dass alle mit vollem Engagement und Verantwortung dabei sind; irgendwann wollen sie dann doch nach Hause und nicht noch endlos diskutieren, schlimmstenfalls noch kurz vor dem Konzert. Und so hat sich peu à peu die Funktion des musikalischen Leiters, des Dirigenten, als Erleichterung der Umstände etabliert. Ist das praktischer? Auf jeden Fall. Ist das auch schöner? Nicht unbedingt, manchmal wirklich nicht. Ist es schön, dass das amerikanische Prinzip des Praktischen, Einfachen über das europäi-sche des Komplizierten, des Verwinkelten, Facettenreichen siegt? Nicht wirklich. Aber es hat sich etwas Neues gebildet, was bereits seit geraumer Zeit relativ gut funktioniert.

Und dann kommt noch das Geheimnis des Dirigenten: Di-ri-gent, das Wort zergeht auf der Zunge, es klingt elegant mit einem Schuss Brutalität und Unerbittlichkeit, es birgt die Aura des Exzeptionellen, des Geheimnisumwitterten. Letztendlich ist der Beruf des Dirigenten auch der letzte, der diese unfassbare Ausstrahlung noch hat. Sicher hat es auch etwas mit zur Schau gestellter Machtausübung zu tun, und die wirkt heute in unseren sehr modernisierten und nivellierten Zeiten manchmal noch sehr stark, fast aphrodisierend. Wenn Sie Manager einer Firma, Staatspräsident oder Bundeskanzler sind, dann weiß eigentlich jeder (oder glaubt zu wissen), ihre Arbeit zu beurteilen. Aber beim Dirigen­ten, da sind noch so viele Dinge im Graubereich des Mystischen, des Fantastischen. Keiner kann es einschätzen, wirklich beurteilen. Ich will an dieser Situation auch gar nichts ändern, es ist schließlich mein Beruf (lacht). Aber dieser Beruf ist auch ein Stück weit ernsthafter und im guten Sinne handwerklicher, als die meisten denken.

Zum Stichwort „Klangidentität“. Heutzutage kommen die Musiker von überall her zum Vorspielen, und die Dirigenten reisen sehr viel. Zudem gibt es kaum noch typisch national beziehungsweise regional besetzte Formationen. Bei den SEL spielen Musiker aus ganz Europa. Die Nivellierung schreitet immer weiter fort, und es besteht die Gefahr, dass von Japan über Amerika bis nach Europa alle Orchester eines Tages gleich klingen werden. Ist die im Zeichen eines kosmopolitischen Weltbildes des Musizierens herbeigeführte stilistische Austauschbarkeit der Klangkörper Ihrer Meinung nach auf die Globalisierung des Musikmarktes zurückzuführen oder hat diese Entwicklung mit einer Schwächung der autokratischen Machtposition des Dirigenten zu tun?

Beides, wobei zuvorderst die Stärkung der demokratischen Machtposition des Orchesters die Schwächung der autokratischen des Dirigenten bewirkt. Könnte ich einmal anders fragen: „Welche Ursachen, also was ganz konkret führt zu einem spezifischen Klang?“

Da ist erst einmal die Mentalität eines Orchesters zu berücksichtigen, die je nach Land, Kultur und Geschichte in Ausnahmefällen auch heute noch sehr verschieden sein kann. Die Orchester, die noch eine starke, ganz eigene Mentalität haben, die historisch und lokal geprägt ist und die jenseits der Bühne auch ihre Schattenseiten haben kann, können sie an einer Hand abzählen. Ich denke an die Wiener Philharmoniker, das Concertgebouw oder die Staatskapelle Dresden. Die ungeschriebenen Gesetze des Musizierens, aber auch des Benehmens, der Kommunikation im Außermusikalischen wirken sich da direkt auf den Klang aus.

Zweitens: Einige Orchester hatten früher Dirigenten, die sehr lange in der Chefposition geblieben sind und durch ihre Arbeit direkt an der Entwicklung des Klanges beteiligt waren. Kurt Sanderling und Eugene Ormandy sind hier gute Beispiele, auch George Szell oder Ernest Ansermet. Damals war es normal und die Orchester akzeptierten, über Jahrzehnte auf die gleiche Weise geleitet zu werden. Heute ist es fast undenkbar. Dem Orchester und ein Stück weit auch dem Publikum wird schnell langweilig, und hopp, wird ein neuer Chefdirigent eingestellt, der es anders machen soll. Die schnelle Abwechslung. Es ergeht der Musik ebenso wie anderen Bereichen der Gesellschaft. Alles unterliegt einem ständigen Erneuerungsprozess, aber muss er denn mit dieser Geschwindigkeit ablaufen? Können gute Dinge denn gar keine Wurzeln mehr schlagen? Die Geschwindigkeit unserer Zeit und die schier unerschöpflichen Ressourcen führen dazu, dass wir nirgendwo mehr halten bleiben und langsam die Fähigkeit verlieren, eine Arbeit, Eindrücke, Erlebnisse oder Beziehungen zu vertiefen. Und die Dirigenten sind nicht schuldlos an der Misere. Die Neigung, sich schnell und konfliktlos nach einem neuen Partner umzusehen, findet sich bei Orchestern ebenso wie bei Dirigenten. Ich glaube, vor 50 bis 80 Jahren war das noch anders; da ist man tendenziell eher längere Bindungen eingegangen, und wenn es Probleme gab, hat man sich nicht sofort einen neuen Dirigenten, ein neues Orchester, einen neuen Manager oder einen neuen Ehepartner gesucht oder suchen können. Das Zeitalter der Flugzeuge und speziell der düsengetriebenen hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, dass die Künstler überall in ausreichender Zahl und praktisch immer zur Verfügung stehen.

Drittens: Die unbegrenzte Verfügbarkeit aller großer Werke mit allen großen Orchestern unter allen bekannten Dirigenten auf CD hat den Vergleich erst ermöglicht, der zum Verwischen der Unterschiede beiträgt. Haydn konnte an diesem Vergleich nicht „irrewerden“, wie er selbst einmal sagte: in der Abgeschiedenheit von Esterhazy musste er „original“ werden. Wenig hat ihn irritiert. Wenn man heute eine ungewöhnliche musikalische Idee oder Haltung hat und diese (was wenig wahrscheinlich ist) nicht irgendwo schon vorher existierte, muss man aussergewöhnlich standhaft sein, dass sie einem nicht ausgetrieben wird durch Lehrer, Professoren, Hochschulen, Kritiker oder Kollegen.

Eine völlig anders geartete und dennoch nicht weniger akute Gefahr geht von der Überalterung des Konzertpublikums aus. Angesichts der immer weiter wachsenden Massenfaszination der Popmusik fällt es weltweit ja vor allem schwer, verstärkt junge Menschen für die klassische Musik zu begeistern. Warum gehen nicht mehr junge Leute ins Konzert? Liegt dies möglicherweise auch an der traditionellen, von recht strengen „Ritualen“ geprägten Konzertform, die den Besuch der Konzerte für die jüngere Generation eher unattraktiv macht? Wird die klassische Musik nicht so aufregend dargeboten, wie sie eigentlich ist? Wie lautet da Ihr Rezept? Wollen Sie sich gezielt des jungen Publikums annehmen?

Ich bin überhaupt nicht Ihrer Meinung, was die Präambel angeht. Unser Publikum hat bereits seit mindestens 50 Jahren das gleiche Alter, und vom Überalterungsproblem spricht man ebenso lang. Sinfonische Musik war fast nie Unterhaltung für breite Schichten, aber natürlich: Als noch im Heute komponiert und rezipiert wurde, waren mehr junge Leute im Publikum, weil sie Anteil nahmen an den „heutigen“, also aktuellen künstlerischen Strömungen. Aber es waren auch mehr junge Leute bei den Johann-Strauss-Nachmittagen in Wien als in den Konzerten von Brahms am Abend. Diese Zeiten sind aber seit sicher 50 Jahren definitiv vorbei. Jetzt kommt ein ganz anderer Faktor ins Spiel: Wenn man in unserer Zeit im Berufsleben steht und eine Familie hat, ist man in der Regel derartig in Zeitnot, dass man keine Muße hat für Langsamkeit. Dann steht einem nicht der Sinn nach Sinfoniekonzerten. Dazu gehört auch ein Davor und ein Danach: alles nicht drin. Wenn hingegen die Kinder aus dem Haus und die Karrierechancen ausgereizt sind, man also altersmäßig irgendwo zwischen 50 und 70 ist, dann beginnt man, sich Dingen zuzuwenden, für die man Zeit braucht. Zeit! Man sollte deswegen die Alten nicht verprellen und sich stattdessen freuen, dass sie da sind und jetzt endlich die Muße haben. Natürlich müssen wir versuchen, mehr Junge einzufangen, ja! Aber nicht, bevor wir das „Alter“ als wichtigen Teil unseres Lebens vollständig akzeptiert haben. Im Übrigen liegt der Altersschnitt des Publikums klassischer Musik zum Beispiel in Spanien, in Porto, aber auch in China völlig anders.

Und die Rezepte? Ich glaube, wir begehen einen Fehler, wenn wir glauben, wir werden für die Jungen interessanter, wenn wir alle Konventio­nen auflösen. Konventionen müssen ja nicht langweilig sein, Langeweile schreckt doch jeden ab, nicht nur die Jungen. Popstar-Hypes können wir ebenfalls kaum anbieten, höchstens verliebt sich mal eine Chorsängerin in den Dirigenten. (lacht) Ich freue mich natürlich darauf, auszuprobieren, mit dem äußeren Rahmen zu experimentieren. Wie wäre zum Beispiel ein Jeanskonzert samstags spät-abends um 22 Uhr, wenn die Youngsters zum Leben erwachen? Oder ein Konzert in Wiltz mit dem zugegebenermaßen extrem populären David Garrett? Oder eins, in dem die Leute dem Pianisten eine Melodie, ein Lied nennen können, über das er dann in Form einer Zugabe improvisiert? Oder ein Concert Surprise, in dem der letzte Programmpunkt nicht im Programmheft veröffentlicht wird?

Es gibt den Trend zum Topstar. Junge Künstler werden hochstilisiert. Auf den Plakaten ist der Komponist, wenn überhaupt, nur noch ganz klein zu lesen, während der Interpret den größten Raum des Plakats in Anspruch nimmt. Wie sehen Sie diese meines Erachtens problematische, höchst besorgniserregende Entwicklung?

Sie haben Recht! Die Interpreten verschwinden allerdings in der Regel auch schneller als je zuvor in der Versenkung. Ich befürchte, dass von den etwa zehn jungen, begabten und attraktiven Geigerinnen, die im Moment international erfolgreich sind, in 20 Jahren die Welt nicht mehr sprechen wird. Vielleicht werden es dann hundert noch attraktivere, noch jüngere sein, die noch schneller verglühen. Der Einzelne bekommt selten noch die Gelegenheit, sich künstlerisch wirklich zu entwickeln, ohne dass das Interesse des Marktes nachlässt. Die Frage ist eher, ob wir uns darüber Sorgen machen oder es einfach akzeptieren. Ohne, dass es gut ist oder gerecht. Es gibt so viele gute Künstler, das „Angebot“ ist unermesslich groß. Dieser Überfluss führt – übrigens in allen Bereichen – dazu, dass das Publikum die Orientierung verliert. So muss jedes Produkt mit extremen Methoden angeboten werden, um überhaupt auf sich aufmerksam zu machen. Das marktschreierischste, seltener das beste Angebot gewinnt. Wenn überhaupt.

José Voss
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