Giganten, sagt Fernand Kartheiser. Die EU brauche „Giganten, die den USA und China die Stirn bieten können“. Womit der Spitzenkandidat zu den Europawahlen aber keine militärischen Riesen-Kampfmaschinen meint, sondern industrielle. Auf dem Weg dorthin benötige die EU „neue Fusionsregeln“. Und niedrige Energiepreise.
Dass ein Europawahlprogramm andere Akzente setzt als ein Kammerwahlprogramm, versteht sich. Das Kammerwahlprogramm der ADR hatte Ehrenpräsident Jean Schoos auf einem ihrer ersten Wahlkampfabende Anfang September in Befort mit den Worten zusammengefasst, konservativ sein bedeute, wiederhaben zu wollen, „was früher gut war“ (d’Land, 8.9.2023). Diesen Montag in Grevenmacher ist der erste Europa-Wahlkampfabend der ADR. Aber wiederzubringen versprechen, was früher gut war, ist nicht so einfach, wenn es um die EU geht, denn was war früher und wann war das? Die Jahre der Montanunion können nicht gemeint sein, die Ceca wird im Wahlprogramm der ADR nur einmal kurz erwähnt. Und immerhin könnte man behaupten, die Verträge von Paris 1951 hätten direkt in die EU geführt, und erwähnen, dass manche damals schon an eine Europäische Föderation dachten. Die will die ADR nicht. Sie verspricht mit ihren politischen Freunden in der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) ein „Europa der Nationen“ in einer „close and friendly cooperation“. Der Anhang auf Englisch zum Wahlprogramm an die Adresse der „dear fellow conservatives“ fasst besonders gut zusammen, wofür die ADR steht: „national sovereignty, free markets, low taxes, strong family values, authentic democracy and individual freedom“. Die Luxemburger Sprache kommt in der Aufzählung nicht vor, die Marktkräfte umso mehr. Die EU sei „nicht da, wo wissenschaftlich und ökonomisch die Musik spielt“, klagt Fernand Kartheiser, als er in Grevenmacher über das Wahlprogramm referiert. „Wer war auf dem Mond? Die USA, Russland, China, Indien und Japan. Die EU nicht. Das sollte uns zu denken geben.“
Interessiert das die Wähler/innen? Vielleicht, wenn ihnen erzählt wird, Höhenflügen bis zum Mond, und seien es unbemannte, stehe zu viel Regulierung im Weg. Und grüne Ideologie womöglich noch. Eigentlich will die ADR endlich einen Sitz in Straßburg. 2019 hätte es fast geklappt, sie kam auf 10,04 Prozent der Stimmen. Die vor ihr platzierte LSAP brachte es auf 12,1 Prozent und errang ein Mandat. Allerdings fuhr vor fünf Jahren ziemlich genau ein Drittel der knapp 130 000 ADR-Stimmen der sehr populäre Gast Gybérien für sich ein und wurde als landesweit Sechstbester gewählt. Fernand Kartheiser wurde Sechsundzwanzigster, Fred Keup Achtundzwanzigster. Einen potenten Sympathieträger für die kleinen Leute wie Gybérien hat die ADR nicht auf ihrer Europaliste. Der joviale Jeff Engelen besitzt den Stallgeruch des Aktiounscomité 5/6-Pensioun fir jiddfereen, ist als Kammer-Abgeordneter aber längst nicht so erfahren, so eloquent und so clever, wie Gybérien es war. Alexandra Schoos ist noch neu in der Politik. So kommt es, dass beim ersten Europa-Wahlkampfabend alle vier anwesenden Kandidat/innen sympathisch wirken wollen und prophylaktisch strahlen, wie sie auf dem toute boîte strahlen. „Sogar die Presse ist gekommen!“, ruft Fernand Kartheiser, und es soll begeistert klingen. Dann stellt er sich mit Alexandra Schoos für ein Facebook-Video in Positur.
Auf dem Holzgestühl im schmucklosen Saal des Vereinshauses der Maacher Guiden a Scouten sitzen nur Parteimitglieder. Elf Wahlversammlungen will die ADR bis Anfang Juni abhalten, beinah eine pro Kanton und fast so viele wie DP (neun) und CSV (vier) zusammen. Mit 130 Seiten ist das Wahlprogramm der ADR das umfangreichste der 13 Parteien und Listen, die am 9. Juni antreten. Weil es im Programm um die EU geht, muss die ADR darin keine Rede vom „onkontrolléierte gewaltege Wuesstem“ führen, wie in dem für die Kammerwahlen, oder davon, dass Luxemburg „mëttlerweil eent vun de geféierlechste Länner an der EU“ sei und deshalb das Recht auf Selbstverteidigung erweitert gehöre.
„Das Wahlprogramm kennt ihr ja wahrscheinlich“, sagt Kartheiser, als er zu seinem „Tour“ durchs Programm anhebt. Aber so wahrscheinlich ist das nicht, selbst wenn die acht Leute im Saal zur Familie gehören. Das Programm ist schwer leserlich. Eine Seite Vorwort von der Parteipräsidentin, danach 20 Seiten Präambel. Zum Schluss drei Seiten Zusammenfassung und zwei Seiten auf Englisch. Dazwischen über hundert Seiten Prosa, die meinen lassen, Fernand Kartheiser in der Kammer reden zu hören. Hat er das Programm geschrieben? Die Frage schmeichelt ihm. „Ich dementiere das nicht.“
Weil Kartheiser in Grevenmacher nicht den Politikfundus der ADR erklären muss, kann er sich zur Sprooch und zur Einwanderung kurz fassen. Dass immer weniger Leute Luxemburgisch sprächen, „mécht eis Suergen“ (in Wirklichkeit warnen Statec und Uni Luxemburg davor, eine gemeinsame Studie so zu interpretieren). Zur Einwanderung sei ja „alles klar“: Das Asylrecht sei ein acquis, die ADR sei bloß gegen „illegale Einwanderung aus ökonomischen Gründen“. Die der vor kurzem beschlossene EU-Migrationspakt übrigens nicht unterbinden könne. „Nëmme mat eis“, und darum geht es an diesem Abend eigentlich, könne Luxemburg aus der EU die „Plus-valueë“ beziehen, an denen es ein Interesse haben muss.
Nimmt der Europawahlkampf Fahrt auf, könnte sich für CSV und DP schmerzhaft herausstellen, wie politisch töricht es war, am Mittwoch vergangener Woche im Parlament die Motion Kartheisers zu unterstützen, „en aucun cas“ das Einstimmigkeitsprinzip in Steuerdingen infrage zu stellen. Diesen politischen Sieg, der vielleicht nicht nur ein taktischer gegenüber DP-Spitzenkandidat Charles Goerens war, sondern ein strategischer gegenüber CSV und DP, genießt Fernand Kartheiser auf dem ersten ADR-Wahlabend und dürfte darauf auch an den zehn noch folgenden Abenden zurückkommen: „Wir sind die einzige Garantie, dass die Interessen unseres Landes gewahrt bleiben.“ Denn nur die ADR habe das Einstimmigkeitsprinzip in Steuerfragen im Wahlprogramm stehen. Was lese man dagegen bei CSV und DP? Bei der DP „die Abschaffung der Einstimmigkeit insbesondere in der Außenpolitik, bei der Finanzierung der EU und in Fragen der Staatsbürgerschaft“. Kartheiser macht eine rhetorische Kunstpause. Ehe er fragt: „Also über unsere Staatsbürgerschaft und über unseren Beitrag zum EU-Budget sollen andere entscheiden?“ Die Zuhörer murmeln. Kartheiser geht über zur CSV, für die Einstimmigkeit „nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme sein“ soll, weil die EU „handlungsfähig bleiben“ müsse. Mit diesen Vorschlägen, interpretiert Kartheiser, „hat Luxemburg null Gewicht“. Und dann die Idee, dem Europaparlament ein legislatives Initiativrecht zu geben. „Das könnte gegen unseren Finanzplatz gehen. Wenn da gesagt würde, Finanztransaktionssteuer, dann wären wir fort!“ CSV, DP, LSAP und Grüne seien „eigentlich alle gleich“.
Natürlich ist die ADR nicht so wirklichkeitsfremd, dass sie vergisst, dass für Luxemburg „jeder Versuch, außerhalb eines größeren Kontextes zu agieren, zum Scheitern verurteilt ist“, wie Kartheiser doziert. Die ADR ist nicht die AFD, die („Unser Land zuerst“) die EU auflösen und durch einen „Bund europäischer Nationen“ ersetzen, das Europaparlament abschaffen, raus aus dem Euro und die D-Mark wiederhaben will. „Prioritär“ aber, so steht es in ihrem Wahlprogramm auf Seite 31, sieht auch die ADR die EU als „eng Zoll- a Wirtschaftsunioun“. Was genau das bedeuten soll, ist dem langen Programm nicht zu entnehmen. Aber wenn unter den Eckpunkten free markets, low taxes, national sovereignty jeder EU-Staat danach streben soll, dem Kapital die besten Verwertungsbedingungen zu gewähren, könnte man sich das Europa im ADR-Entwurf unschwer als Patchwork von Sonderwirtschaftszonen vorstellen; als eine große gated community mit zuverlässig bewachten Außengrenzen. „China und Amerika überholen uns dreimal!“, warnt Fernand Kartheiser. Die EU habe nur vier Prozent Anteil an der Weltbevölkerung und werde „immer marginaler“. Folglich kann, so muss man Kartheiser verstehen, sich „auf der Weltbühne behaupten“ nur über die Wirtschaft führen. So ähnlich steht es auch im Europawahl-Manifest von Mutterpartei EKR, deren Vorstand Kartheiser angehört: „We see a future where the European Union thrives on free trade, propelling us into an unprecedented era of economic growth.“ Was sich liest wie die Wachstumsfantasien der britischen Konservativen vor dem Brexit.
Dabei sind die politischen Positionen rechts von der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) alles andere als homogen. Die Positionen der ADR passen dazu. Ihre Wortwahl zum Thema Migration im Wahlprogramm zum Beispiel ist nicht weit weg von der der AFD, mit der die ADR nicht in Verbindung gebracht werden möchte. Aber worin besteht der Unterschied, wenn die ADR schreibt, „Migrante solle prioritär a sécheren Nopeschlänner opgeholl ginn, wa méiglech och aus hirem Kulturkrees“ (S. 39), während die AFD verlangt, „Migrationsvermeidung aus Krisenregionen muss sich auf die Hilfe vor Ort konzentrieren, um möglichst vielen Menschen eine heimatnahe Zuflucht zu ermöglichen und den Anreiz für gefährliche Reisen zu nehmen“ (Programm der Alternative für Deutschland für die Wahl zum 10. Europaparlament, S. 14). Zwar schreibt die ADR nicht vom „Ruanda-Modell“ für Asylverfahren, wo Antragsteller „im Falle der tatsächlichen Schutzbedürftigkeit auch Aufnahme finden“, (AFD, S. 14). Doch sie fordert: „D’Behandlung vun Asyldemandë soll méiglechst systematesch baussent dem Territoire vun der EU gemaach ginn“, und erklärt: „D’ADR wëll och eng honnertprozenteg Réckféierung vu Leit, déi kee Recht op Asyl hunn, op Territoirë baussent der EU, wa méiglech an hir Heemechtslänner, soss op eng aner sécher Plaz“ (S. 39).
Der AFD ist die ADR auch in ihren Positionen zum Ukrainekrieg und zu Russland nahe, dagegen weit weg von denen der Europäischen Konservativen, bei denen die polnische PiS den Ton angibt, was Russland betrifft. Die EKR schreibt in ihrem Manifest: „Standing firmly with Ukraine against Russian aggression, we will work to increase aid and ensure that sanctions are effective, empowering nations that are opressed through active support.“ Dagegen will die ADR, wie die AFD, die Sanktionen gegen Russland aufheben. Das ADR-Wahlprogramm verspricht das „Neeshierstelle vun engem kompetitiven Ëmfeld fir eis Ekonomie mat bëllegen Energiepräisser (...). Fir d’ADR sollen also ausdrécklech och déi russesch Gasliwwerungen nach zum EU-Energiemix vun der Zukunft gehéieren“ (S. 97).
Dass Luxemburg auch vor Russlands Einmarsch in die Ukraine höchstens ein Viertel seines Gasverbrauchs über Deutschland aus Russland deckte, ist ein Detail, das offenbar nicht weiter interessiert. Doch Fernand Kartheisers Eintreten für eine „Verhandlungslösung“ im Ukrainekrieg sollte die ADR in erster Linie interessant und wählbar für Menschen machen, die Angst vor einer Eskalation mit Russland haben. Die schien die EKR Anfang 2023 regelrecht herbeizufantasieren, als sie am 31. Januar eine Konferenz mit dem Titel „The Imperial Russia. Conquer, Genocide and Colonisation“ organisierte und auf ihrer Webseite schrieb: „It is naive to think that the Russion Federation can remain within the same constitutional and territorial framework. Taking into account the national and ethnic map of the territories of the Russian Federation, we should discuss the prospects for the creation of free and independent states in the post-Russian space, as well as the prospects for their stability and prosperity.“ Es bedarf nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass der Versuch, das Land mit dem größten Nukleararsenal der Welt in viele Einzelstaaten aufzubrechen, zu einem Atomkrieg führen würde.
Um solche Fragen geht es in Grevenmacher nicht, dort emfpiehlt Fernand Kartheiser die ADR als „Stimme der Vernunft“. Widersprüche aber gibt es nicht nur zwischen den Positionen von ADR und Dachpartei, sondern auch in den Wahlversprechen der ADR selber. „Pragmatisch“ will sie vorgehen und „nicht ideologisch“. Einerseits, weil das gegen die Grünen geht, andererseits die Brücke zur CSV schlägt. Drittens weil die EKR mit Slogans wie „slashing red tape“, „negative impacts of the current over-ideological green climate policy“ oder „a technology-neutral approach that champions nuclear energy“ lauter Wettbewerbsvorteile für europäische Unternehmen verspricht.
Ob alle das so sehen? Alexandra Schoos sinniert über die Ängste Jugendlicher vor dem Klimawandel. „Aber man muss doch realistisch sein, man muss doch verstehen, was möglich ist und was nicht, und wofür man wirklich einen globalen Ansatz braucht!“ Damit fängt die Spitzenkandidatin und Parteipräsidentin gut an. Wenn sie erklären würde, worin der „wirklich globale Ansatz“ bestehen soll, wenn nicht in dem marktkonformen und technologiegläubigen, der seit Jahrzehnten vorherrscht. Weil sie es nicht erklärt, scheint sie den globalen Ansatz delokalisieren zu wollen. Dabei ist das mit der Delokalisierung so eine Sache. Die ADR ist für Freihandel, doch „China kann billiger produzieren als wir, da brauchen wir einen Bewusstseinswandel beim Konsumenten“, findet Schoos und ist sich vielleicht gar nicht im Klaren darüber, wie ideologisch Bewusstseinswandel sich anhört. Fernand Kartheiser dagegen versteht das. Pragmatismus sei angesagt, keine Ideologie und „keine zu hohen Standards“. Natürlich sei das auch eine Frage des Konsumentenschutzes und nicht einfach. Doch wer zum Mond will, bekommt nichts geschenkt.
Eine Viertelstunde lang gibt die ADR sich statt einer Wahlkampfdebatte einer kleinen Grundsatzdiskussion über ihre Ideologie hin, denn wer behauptet, keine zu haben, hat erst recht eine. Dass die vier Kandidat/innen und ihr Publikum in der Familie sind, ist dem Exkurs förderlich. Doch ehe die Frage, wieviel Pragmatismus gut ist, weiter vertieft werden kann, geht sie in Ignoranz unter. Ein Einwurf aus dem Publikum, dass in Europa mehr recycliert werden müsse, statt „den Dreck zu exportieren“, führt Jeff Engelen zu der Überlegung, dass das viel Strom koste, von dem Luxemburg aber nicht genug habe. „Früher haben wir 100 Prozent importiert, heute vielleicht 98 Prozent“, und das Bisschen aus Wind- und Solarstrom reiche „vläicht fir e puer Stéit“. In Wirklichkeit ist die heimische Produktion aus grünem Strom schon seit drei Jahren so hoch, dass sie den Bedarf sämtlicher Haushalte deckt. In der Abgeordnetenkammer müsste sich das herumgesprochen haben.
Die anderen Parteien hätten Angst vor der ADR und sprächen deshalb vom am 9. Juni drohenden „Rechtsruck“, erklärt Fernand Kartheiser siegessicher. Dabei habe die ADR einfach andere politische Ideen, und zwar bessere. Zwei Tage später sagt der Politmonitor von Ilres im Auftrag von Wort und RTL der ADR den Verlust der Hälfte ihrer Stimmen gegenüber den Europwawahlen 2019 voraus, und in der Beliebtheits-Hitparade von 16 Kandidat/innen kommt Kartheiser auf Platz 12 an, Schoos auf Platz 15.