MOSTRA INTERNAZIONALE D’ARTE CINEMATOGRAFICA

Never let the truth get in the way of a sad story

d'Lëtzebuerger Land du 09.09.2022

Der Sexskandal um den Pädophilenring des US-amerikanischen Geschäftsmannes Jeffrey Epstein erschütterte vor nicht allzu langer Zeit die Gemüter. Die hohen Wellen, die dieser Skandal schlug, waren unter anderem auf das Netzwerk um Epstein und seine rechte Hand Ghislaine Maxwell zurückzuführen: Sogar der damals amtierende Präsident wurde mit ihnen in Verbindung gebracht. Die traurige Wahrheit aber ist, dass dieser Vorfall keine Ausnahme ist. Vor fast 20 Jahren spielte sich auf dem lateinamerikanischen Kontinent etwas Ähnliches ab. Zu Beginn der Nullerjahre war Chile in Aufruhr wegen des sogenannten Caso Claudio Spiniak, ein Fall, der monatelang heiß mediatisiert und diskutiert wurde. Auch er war ein Geschäftsmann, der über Jahre Sexpartys organisierte und Kindesmissbrauch ermöglichte. Genau an dieser Stelle, und mit dem richtigen Skandal als traurige Inspiration, knüpft Fernando Guzzonis neuer Spielfilm Blanquita an. Vergangenen Sonntag hatte dieser Film seine Weltpremiere im Orizzonti-Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig.

Blanca oder Blanquita ist die titelgebende Figur, die man zu Beginn des Film mit ihrem in den Armen haltenden Kind antrifft. Die 18-Jährige scheint ruhig, doch es dauert nicht lange, bis sie mit einem Jungen, Carlos, konfrontiert wird. Carlos schmeißt während einer brutalen Panikattacke Möbel herum und schlägt um sich. Während sie den Mitbewohner des katholischen Heims zu beruhigen versucht, erfährt sie von seinen jahrelang anhaltenden Missbrauchserfahrungen. Blanquita hat selbst diese traumatischen Erfahrungen gemacht und die Schilderungen von Carlos lösen etwas bei ihr aus. Mit der Hilfe des Verantwortlichen des Heims, einem strengen aber engagierten Pfarrer, wagt sie den Schritt an die Öffentlichkeit und an die Behörden, um auszusagen. Die Aussagen von Blanca machen sehr schnell die Runde: Medien werden in Rekordgeschwindigkeit auf sie aufmerksam und zeichnen das mutige Portrait dieser jungen Frau, die schon manche Misere in ihrem Leben durchmachen musste. Blanca und Priestervater Manuel ziehen jedoch nicht exklusiv solidarische Stimmen an sich. Die Täterseite besteht aus Geschäftleuten, Reichen und Politikern und die schwerwiegenden Vorwürfe lassen diese Menschen nicht einfach auf sich sitzen. Irgendwann wird an der Glaubwürdigkeit von Blancas Aussagen gezweifelt und werden versteckte Motivationen vermutet.

Fernando Guzzonis dritter Spielfilm Blanquita macht keinen Hehl daraus, dass etwas faul im Staate Chile ist. Und nicht nur seit Kurzem. Die Welt, der der Regisseur den Spiegel vorhällt, scheint ein einziger sozialer Brennpunkt zu sein, aus dem ein Ausweg alles andere als gegeben ist. Ein Brennpunkt, in dem sich Institutionen und die Reichen gegenseitig unter die Arme greifen und die Hände rein waschen. Die Kameraarbeit von Benjamín Echazarret lässt an diesem Tatbestand keine Zweifel aufkommen. Der Kameramann, der u.a. mit Sebastián Lelio bei dessen Filmen Una mujer fantástica und Gloria mitgewirkt hat, schenkt Blanca, Pfarrer Manuel, den anderen Figuren und den Orten, an denen sie sich bewegen, nur sehr wenig Licht. Die Dunkelheit erschwert es ihnen, den Hoffnungsstrahl zu finden, an den sie sich klammern könnten, um einigermassen heil auf der anderen Seite ans Tageslicht zu gelangen. Dabei funktionniert Blanquita jedoch nicht nur als Sozialdrama. Echazarrets Bild- und Lichtgestaltung und die Inszenierung von Guzzoni sind auch die eines Thrillers. Oft spielt sich Blancas Erzählung in Verhörräumen und geschlossenen Zimmern ab, die jediglich von Tisch- und Deckenlampen beleuchtet werden. Es sind aber auch keine expressionistischen Kompositionen, wie man sie aus einem film noir kennen könnte. Flache Grautöne, die offenbar den letzten Rest Emotionalität im Kontext der traurigen Umstände abgetötet haben, dominieren den Film. Es geht nur noch ums Überleben und um den einzigen und letzten Versuch, Gerechtigkeit zu erhalten.

Diese auf der Oberfläche anmutende Härte erkennt man auch in Laura López Blanca wieder. Die Gesichtszüge dieser Frau, mit der man sich zu Beginn zu identifizieren hat, werden im Verlauf zu einer Fassade, die die Zuschauer den Komissaren ähnlich zu untersuchen haben, um vielleicht doch andere Motive und Lügen zu erkennen. Blanquita ist gerade deswegen kein Film, der auf kathartische Erlösung aus ist. Je nachdem und abhängig davon, wieviele Filme dieses Schlags man schon gesehen hat – Guzzonis Film macht eine ganze Reihe Häkchen hinter Elemente, die ein von Festivals gern gesehener Film aufzuweisen hat – er eröffnet aber letztlich den Raum für die Frage, ob und in welcher Hinsicht eine Lüge letztlich doch die Essenz, die Wahrheit an den Tag legen kann. Das Kino, mit dem die Geschichte von Blanquita erzählt wird, lebt seit Beginn von exakt dieser These. Von einem erlogenen, fabrizierten Konstrukt, hinter dem sich eine Wahrheit verstecken kann.

Tom Dockal
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