Sieben Jahre nach der Reform der Berufsausbildung leidet diese an viel mehr als nur „Kinderkrankheiten“

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d'Lëtzebuerger Land du 09.10.2015

Eine Generalüberholung plane er nicht, sagte Claude Meisch (DP) am Mittwoch. Das war, nachdem der Erziehungsminister die desolaten Ergebnisse einer 30-seitigen Evaluation der Universität Luxemburg zur viel kritisierten Berufsausbildung vorgestellt hatte. Dabei ist eine tiefgehende Revision das, was die Autoren der Uni von den Gesprächen mit Vertretern der Schulen, der Berufskammern, der Betriebe, der Lehrplangruppen, mit Schülern und Eltern zurückbehalten haben. Chaotisch, undurchsichtig, schlecht koordiniert sind nur einige der Kritiken, die sie aufzählen. Da nützt es auch nichts, dass Meisch betont, man habe bewusst den Akzent darauf gelegt, „was nicht funktioniert“. Denn das ist eine ganze Menge.

Die meisten Vorwürfe, die gegen die 2008 unter der damaligen Ministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) reformierte Berufsausbildung erhoben werden, füllen seit Jahren Negativschlagzeilen: Schüler und Lehrer finden sich im modularen System nicht zurecht. Nachdem die alte Berufsausbildung mit Fächern und 60-Punkte-Bewertung funktionierte, wurde auf Module umgestellt. Das Ziel von Chefdenker und Direktor der Berufsausbildung Aly Schroeder war damals ambitiös: Um das Ansehen der unbeliebten Berufsausbildung zu verbessern und hohe Misserfolgsquoten von über 30 Prozent zu reduzieren, sollte das System modernisiert, die Ausbildung anwendungsorientierter werden. Dafür sollten Schüler bausteinartig jene Kompetenzen erlernen, die sie als Bäcker, Maurer, Einzelhandelskaufmann und so weiter brauchen. Erreichte Kompetenzen sollten fortlaufend vertieft werden. So weit die Theorie.

Sieben Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus, der Ärger über die vielen konzeptuellen Mängel ist riesig. Weil der inhaltliche Aufbau der Module sehr kompliziert geriet, in einem Beruf beispielsweise drei Kompetenzen abgefragt werden, während für einen anderen mehr als 20 zu erreichen sind, blicken viele nicht mehr durch. Zudem ist das Lernniveau, das ein Schüler erreichen muss, um weiterzukommen, recht anspruchsvoll, manche sagen sogar, viel anspruchsvoller als im alten System. So dass viele am Ende des Semesters frustriert feststellen, dass ihnen wichtige Kompetenzen fehlen und sie diese nachholen müssen. Die Cours de rattrapage zu organisieren, ist eine Herausforderung für sich. Schulen sind verpflichtet, sie anzubieten, Lehrer müssen Zeit dafür finden, Werkateliers müssen frei sein und Schüler müssen neben dem normalen Pensum zusätzlich Zeit fürs Wiederholen einplanen. Denn die Ausbildung geht ja weiter. Kein Wunder, dass es nun zum Mega-Stau kommt: Rund 7,7 Prozent der Module müssen bei Ausbildungen zum Certificat de capacité professionnelle nachgeholt werden, beim Diplôme d’aptitude professionnelle sind es neun Prozent (5 171 Module), in der Techniker-Ausbildung zehn Prozent (9 434 Module). Rund 15 000 Wiederholungskurse – das bringt die beste Schulplanung an die Grenzen.

Der Minister versuchte in einer ersten Reaktion, die gröbsten Schnitzer zu beheben: Schüler, die nach drei Schuljahren nicht die nötigen Module haben, können sie in einem vierten Jahr nachholen. Wem nur eine Teilkompetenz fehlt, der braucht nicht das komplette Modul zu wiederholen. Eigentlich sollte ein Gesetz für dieses Schuljahr Rechtssicherheit bringen, aber wegen eines verfassungsrechtlichen Problems liegt der Entwurf noch im Parlament. Bis Frühjahr soll das Verfassungsproblem gelöst und bis zur Rentrée 2016/2017 die Ergebnisse der Evaluation in den Text eingearbeitet werden. Wahrscheinlich kommen auch die Lehrpläne erneut auf den Prüfstand. Die Unterscheidung in obligatorische Module und Kompetenzen, die für die Berufsausbildung zwingend notwendig sind, und jene, die wünschenswert sind, ist nicht immer nachvollziehbar. Warum ist Sport beispielsweise für Schlosser obligatorisch, während die wichtigen Fächer Physik und Chemie nur fakultativ sind? Derlei Ungereimtheiten gibt es in der Berufsausbildung viele – so viele, dass Gewerkschaften seit längerem fordern, die Berufsausbildung komplett neu auszurichten. Der Erziehungsminister zeigte sich am Mittwoch zwar grundsätzlich offen, an den Lehrplänen Anpassungen vorzunehmen. Doch die Techniker-Ausbildung, die seit 2008 zur Berufsausbildung zählt und nicht mehr automatisch den Zugang zu Hochschulstudien erlaubt, will er nicht grundlegend ändern.

Die Gründe, warum Minister Meisch vor einer Totalrevision zurückschreckt, liegen auf der Hand: Zum einen wären damit erhebliche Mehrkosten verbunden. Bisher beziffert das Ministerium die Kosten für die gesamte Reform auf rund 3,4 Millionen Euro. Das sind vor allem Ausgaben für Beratungen, Weiterbildungen, neue Materialien. Darin sind Mehrkosten, die durch Freistellungen von Hunderten von Berufsschullehrern anfielen, nicht enthalten. Meisch hat angekündigt, dass er für die Reform der Reform möglicherweise erneut externen Rat benötigen wird. Auch dafür muss er Geld in die Hand nehmen. Hier liegt ein Hauptproblem: Die Umstellung auf eine kompetenzorientierte Berufsausbildung stellt sich als eine Herkulesaufgabe dar, der kaum jemand gewachsen war und die alle unterschätzt haben. In der Politik, im Ministerium, in den Schulen und in den Betrieben. Manchen Lehrern war die Kompetenz-Pädagogik von vornherein ein Dorn im Auge. Sie taten sie als neoliberalen Mode ab und sie ließen kaum eine Gelegenheit aus, den Ansatz schlecht zu reden, obwohl er in anderen Ländern funktioniert. Andere waren anfangs sehr engagiert. Vor allem die Möglichkeit, wie bei einem Setzbaukasten fehlende Kompetenzen nachholen zu können, schien als großer Vorteil. Doch je länger die Beratungen in den Arbeitsgruppen dauerten, je höher der Druck stieg, die Programme fertigzustellen, trotz zahlreicher offener Fragen und Komplikationen, umso frustrierter wurden sie. Teilnehmer der Lehrplangruppen sagen, ihre Einwände seien von den ausländischen Experten nicht ernst genommen worden. Insbesondere den Mitarbeitern des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn, das die Entwicklung begleitet hat, wird vorgeworfen, selbst kein Konzept und keine Ahnung vom Luxemburger Bildungswesen gehabt zu haben.

Andererseits stimmt auch, was BIBB-Experten früh bemerkten: Die meisten Lehrer waren für die schwierige Aufgabe, Ausbildungsprogramme und Lehrpläne zu erstellen, nicht geschult. Weiterbildungsangebote kamen nicht gut an. Viele kannten den Kompetenzansatz zuvor nicht, wussten nicht, wie komplex es ist, eine kompetenzorientierte Methodik vom Anfängermodul bis zum Zeugnis durchzudenken. Die Ausbilder in den Betrieben wussten es erst recht nicht. Die Wirtschaft klagt öfters über Lehrlinge, die angeblich kaum lesen und schreiben können. Doch das Engagement mancher Betriebe lässt ebenfalls zu wünschen übrig. Praktikanten werden nicht überall gleich gut begleitet, es fehlen Lehrlingsberichte, einige Ausbilder validieren Kompetenzen, obwohl ihr Lehrling sie nie gelernt hat. Viele zeigen nun mit dem Finger auf den jeweils anderen; nur man selbst will es nicht gewesen sein. Lehrer klagen, dieselben Ausbildungen würden von Schule zu Schule variieren. Gleichzeitig gibt es wenige Impulse, sich besser abzustimmen. Jeder sucht seine eigene Lösung. Dabei haben wahrscheinlich alle Seiten Recht mit ihrer Sichtweise und Analyse der Probleme. Eine dauerhafte Lösung der Misere kann es jedoch nur gemeinsam geben.

Dafür braucht es eine funktionierende Steuerung. Und das ist das andere Kernproblem. Aly Schroeder ging in Pension, noch bevor über sein Lebenswerk im Parlament abgestimmt wurde. Auch sein Nachfolger Nic Alff blieb nur für kurze Zeit Leiter der Berufsausbildung und verabschiedete sich dann ebenfalls in den Ruhestand. Über seinen Nachfolger Antonio de Carolis wird gesagt, er wirke überfordert, es fehle an Koordinierung und Informationen. Auch sei niemand da, der die vielen Beschwerden über kleinere und größere Mängel systematisch erfasse, analysiere und Lösungen organisiere.

Claude Meisch dagegen warnt vor vorschnellen Schuldzuweisungen und sieht die Fehler „im System und nicht in den Köpfen“. Er muss das sagen, sein Ministerium steht nicht gerade gut da: Das Gesetz sieht eine Koordinierungsplattform vor, aber sie scheint kaum bis gar nicht funktioniert zu haben. Eine professionelle Steuerung für das hochkomplexe Vorhaben wurde schon unter Delvaux sträflich vernachlässigt. Und das bei einer der schwierigsten und anspruchsvollsten Reformen überhaupt im Bildungswesen. Meisch versprach am Mittwoch, das Steuerungskomitee mit einer neuen Spitze, Jean Billa, wiederzubeleben.

Einen anderen Fehler hat der Minister sozusagen geerbt: Ein ursprünglich geplanter Testlauf wurde nicht konsequent zu Ende geführt und ausgewertet. Eigentlich sollten 19 Formations phares dazu dienen, eventuell auftretende Schwierigkeiten rechtzeitig zu erfassen, zu analysieren und dann zu lösen, bevor der Kompetenzansatz auf die anderen Hundert Ausbildungen übertragen würde. Doch Mady Delvaux-Stehres drückte auf die Tube, weil es politisch so gewollt war, aber auch um die Kosten nicht weiter explodieren zu lassen, schließlich war der Finanzrahmen für die Reform da bereits einmal verlängert worden. 120 Ausbildungen wurden in der Folge übers Knie gebrochen. Einige Lehrpläne sind bis heute nicht fertig, es gibt teils erhebliche Unterschiede zwischen den Berufen und den jeweiligen Anforderungen. Den Preis dafür zahlen überforderte Lehrer, orientierungslose Schüler und verunsicherte Eltern, die sich nun fragen, ob die Berufsausbildung wert ist, was auf dem Papier steht. Apropos Zeugnisse: Die sind selbst für Eingeweihte schwer lesbar. Warum ist es nicht möglich, den Leistungsstand eines Schülers übersichtlich und zudem in einer verständlichen Sprache abzubilden? Wie oft wurde beanstandet, dass das Gros der Berufsausbildung auf Deutsch unterrichtet wird – obwohl ein Großteil der Schüler daheim kein Luxemburgisch spricht? Auch sieben Jahre nach der Reform sind nicht alle Programme ins Französische übersetzt, geschweige, dass alle Ausbildungen in beiden Sprachen angeboten würden. Das liegt auch an Lehrern, die sich schwer tun, ihren Kurs in Französisch anzubieten – obwohl sehr gute Deutsch- und Französischkenntnisse Voraussetzung sind, um überhaupt Lehrer zu werden.

Bessere Bildungschancen bildeten das Leitmotiv, mit dem Aly Schroeder und Mady Delvaux die Reform überschrieben hatten. Heute sind die Resultate nicht so schlecht wie geunkt wird, aber sie sind auch nicht wirklich besser. Die Erfolgsquote lag 2013/2014 insgesamt bei 68,2 Prozent. Sicher ist, dass die Berufsausbildung durch das Hin und Her und wegen des miserablen Krisenmanagements einen erheblichen Imageschaden erlitten hat.

Einige Ansprüche waren zu hoch: Betriebe wollen Jugendliche so früh wie möglich für ihren Beruf vorbereitet sehen. Sie kritisieren Praktikanten der 10e, weil diese angeblich nichts können – stellen später aber lieber eine ausländische Fachkraft ein, weil die billiger ist. Eine verbesserte Orientierung, wie Meisch sie plant, kann Schüler vielleicht früher auf Potenziale und Optionen hinweisen. Bloß: So lange Sprachenkompetenzen derart über das schulische Weiterkommen entscheiden, wird die Orientation par l’échec nie aufhören. Die Handwerksverbände und die Gewerkschaften wollen nun Kompetenzzentren einrichten, in denen Beschäftigte sich weiterbilden können. Eine deutliche Ansage, dass Betriebe der öffentlichen Schule ihre Kernaufgabe nicht mehr zutrauen. Politiker und Funktionäre beschwören in Sonntagsreden gerne die Wichtigkeit des Handwerks – und schicken ihre Kinder ins Classique.

So würde allen Akteuren mehr Ehrlichkeit gut zu Gesicht stehen. Eine solide Berufsausbildung kann nur gelingen, wenn alle mutig anpacken. Wenn Zusammenarbeit, Steuerung, Verantwortung und Vernetzung nicht nur von den anderen gefordert, sondern von allen Seiten angestrebt und umgesetzt werden. Auch deshalb wäre ein ganz neuer Anlauf keine Garantie für eine bessere Berufsausbildung, denn die Hauptakteure bleiben im Wesentlichen dieselben.

Ines Kurschat
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