Die Frage, ob Politologie eine Wissenschaft ist oder Restekochen aus Soziologie, Geschichte und Ökonomie, tut nichts zur Sache. Tatsache ist, dass die Luxemburger Politik bis in die jüngste Vergangenheit kein Forschungsgegenstand war. Denn deren Erforschung hätte nur den frommen Glauben beschädigt, dass eine endlose Dynastie christlich-sozialer Staatsminister mit väterlicher Güte über eine klassenlose Volksfamilie herrscht.
Wie mit der Nationalgeschichte und der Nationallinguistik drohte die Gründung einer Universität auch mit dieser Gewohnheit aufzuräumen. Umso mehr, als sie anfangs den Auftrag hatte, nicht nur die Forschungsabteilungen der Industrie zu entlasten und sich in den globalisierten akademischen Markt einzuklinken, sondern sich auch der heimischen Gesellschaft anzunehmen. Und tatsächlich unterhält die Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur, Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswissenschaften eine Forschungseinheit Identités, politiques, sociétés, espaces (Ipse), zu der auch ein Institut für Politikwissenschaft gehört, das einen Master in European governance und einen Master en histoire européenne contemporaine anbietet.
Mit der Luxemburger Politik befasst sich in erster Linie der Lehrstuhl für Parlamentarismusforschung. Der Lehrstuhl war im Herbst 2011 durch eine Konvention zwischen dem Parlament und der Universität geschaffen worden. Im November 2014 wurde die Konvention bis 2018 verlängert. Bis heute ließ das Parlament sich den Lehrstuhl mehr als eine halbe Million Euro kosten.
Die im Parlament vertretenen Parteien waren zuerst an den Wahlanalysen interessiert, die sie seit dem Wahlfiasko der CSV 1974 kauften, um sich Wahlkampfhilfen auf Kosten des Parlaments zu beschaffen. Zuerst hatten sie das Brüsseler Centre de recherche et d’information socio-politiques (Crisp) mit diesen Untersuchungen beauftragt, danach das inziwschen im Luxembourg Institute of Science and Technology (List) aufgegangene Centre de recherche public Gabriel Lippmann. Schließlich vergab die Kammer den Auftrag an Politologen der Universität, die sich 2004 Unité de recherche interdisciplinaire sur le Luxembourg (Stade) nannten und 2009 Programme gouvernance européenne, études parlementaires et politiques.
Die parlamentarischen Fraktionen, die sich oft über die lustlosen und oberflächlichen Wahlanalysen beschwert hatten, hofften, mit der Finanzierung eines Lehrstuhls an der neuen Universität einen beständigen und zuverlässigen Partner für ihre Wahlanalysen zu finden. Als Geldgeber können sie zudem ein Wort mitreden, indem sie das Comité de pilotage mit den fünf Abgeordneten Claude Adam, Taina Bofferding, Alex Bodry, Eugène Berger und Laurent Mosar besetzten und den parlamentarischen Generalsekretär Claude Frieseisen zu einem der drei Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats machten. Die Universität war an den frischen Drittmitteln interessiert und die Politologen an Arbeitsplatzgarantie. Denn die befristet eingestellten Autoren waren nach der Veröffentlichung der Wahlanalysen regelmäßig ohne Arbeitsvertrag, womit auch ihre Erfahrung für weitere Analysen verloren zu gehen drohte.
Der Inhaber des Lehrstuhls und Leiter des nunmehr elfköpfigen Forscherteams ist der französische Politologe Philippe Poirier. Dass Poirer sich vor zehn Jahren zum Vorsitzenden des rechten UMP-Auslandsablegers Union des Français de l’étranger in Luxemburg wählen ließ, läßt bei Abgeordneten links von der CSV bis heute Zweifel an seiner wissenschaftlichen Unvoreingenommenheit aufkommen.
Aufgabe des Lehrstuhls ist es grundsätzlich, zu erforschen, wie die Parlamente national und europaweit dazu beitragen, politische Entscheidungen zu treffen. Dabei sollen sich die Forscher auf die parlamentarische Demokratie und die nationale Gesetzgebung konzentrieren und sie mit denjenigen in anderen europäischen Staaten vergleichen. Die Forscher betreuen Doktoranden und organisieren Symposien, die sich allerdings kaum mit Luxemburger Politik befassen.
Mit einer Meinungsumfrage und einer Fokusgruppe versuchten die Parlamentarismusforscher, die öffentliche Akzeptanz für den Kompromiss zwischen CSV, DP, LSAP und Grünen über die geplante Verfassungsrevision zu ergründen. Neben Wahlanalysen veröffentlichten sie mehrere Studien zur Parlamentarismusforschung. Von einer, Les pouvoirs d’un parlement. La Chambre des Députés du Luxembourg (2014), hatte sich das Parlament Trost erwartet und erhalten, dass es auch nach der Abtretung der Budgethoheit an die Europäische Union eine Daseinsberechtigung hat.
Allerdings hat die Parlamentarismusforschung in der Belvaler Maison des sciences humaines eine recht einseitige Ausrichtung. Sie kreist um die modische Idee der „Gouvernance“, womit die möglichst konfliktarme Herrschaftstechnik eines scheinbar demokratischen, aber in Wirklichkeit autoritären und manipulativen Liberalismus gemeint ist. Ihre ökonomistischen Wahlanalysen gehen von einem Markt aus, auf dem Parteien Politikangebote machen, für die sich die Wähler als monadische Politikkonsumenten entscheiden können.
Die Untersuchung nach sozialen Klassen und Schichten schränkten die Wahlforscher zunehmend ein und gaben sie nach 2013 ganz auf – „there is no such thing as society“, sagte die englische Krämertochter. Als politischen Regelfall setzen sie eine wirtschaftsliberale, EU-freundliche CSV voraus, die anderen Parteien beschreiben sie implizit als Abweichungen oder pathologisieren sie als Populisten und Souveränisten. Die geplante Wahlanalyse des Referendums von 2015 wurde nie in der gewohnten Form veröffentlicht, da die Wähler sich offenbar verwählt hatten. Womit wir wieder beim frommen Glauben von der endlosen Dynastie christlich-sozialer Staatsminister wären, die mit väterlicher Güte über eine klassenlose Volksfamilie herrschen.