Zwei Dritteln der Schüler einer Mosaikklasse gelingt der Sprung zurück in die Regelschule, respektive ihr Verhalten bessert sich. Trotz des Erfolgs wird über die Förderklassen kaum berichtet

Einen Orden aus Mosaik

d'Lëtzebuerger Land du 05.09.2014

Am 15. September werden viel Erstklässler ihren Ranzen aufschnallen und sich aufgeregt vom ersten Schultag überraschen lassen. Lehrer und Direktionen werden dieses Schuljahr vielleicht einen ähnlichen Moment der Nervosität haben: Wenn nämlich Erziehungsminister Claude Meisch (DP) Details zur geplanten Sekundarschulreform bekanntgibt. Ob das zur Rentrée geschieht, ist zwar nicht so sicher, das Gutachten des Staatsrats steht noch immer aus. Bislang hat sich der liberale Politiker jedenfalls bedeckt gehalten.

Doch egal, ob Meisch nun im September oder erst im Winter sein Vorhaben konkretisiert, viele Projekte an den Sekundarschulen laufen weiter. So auch die Mosaikklassen. Die speziellen Förderklassen für verhaltensauffällige Schüler, oder wie es heute heißt, Schüler mit spezifischem Förderbedarf, gibt es offiziell seit 2005, also fast zehn Jahre. Ursprünglich war es das Lycée technique in Bonneweg, das den Namen prägte, als es 2003 mit einem Vorläufermodell startete. Mittlerweile haben 23 Schulen im Land eine oder mehrere Mosaikklassen eingerichtet, in denen Erzieher, Psychologen und Lehrer versuchen, problematischen Schülern mit einem speziellen Förderprogramm unter die Arme zu greifen. Über die Jahre wurden die Mosaikkonzepte und Methoden ausgewertet, überarbeitet und professionalisiert. Das lässt sich aus dem Jahresbericht zu den Mosaikklassen von 2011 und 2012 ablesen, den das Weiterbildungsinstitut IFC in Mersch im August weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit online gestellt hat.

Die defensive Kommunikationspolitik tut dem Förderprogramm Unrecht. Nicht nur, dass sich in den Mosaikklassen interdisziplinäre Teams zusammengetan haben, die sich auf die Förderung schwieriger Jungen und Mädchen spezialisiert haben. Mit vereinten Kräften und Knowhow versuchen sie Schülern, die auf der Kippe stehen, doch noch Perspektiven in der Regelschule zu eröffnen. Und das offensichtlich mit Erfolg. Rund ein Drittel der betreuten Jungen und Mädchen, das ergab eine ausführliche Evaluation im Jahr 2009, werden danach wieder in ihre ursprüngliche Klasse integriert. Für ein weiteres Drittel werden Alternativen wie eine Ausbildung oder eine andere Schule gefunden. Ein Drittel wird allerdings gar nicht erreicht. Ebenfalls bei rund zwei Drittel der Jugendliche hat sich das Verhalten verbessert, allerdings lässt der Effekt bereits sechs Monate nach der Reintegration nach.

Was sich wie eine durchwachsene Bilanz liest, hat gleichwohl Vorbildcharakter. „Im internationalen Vergleich ist das wirklich ein gutes Resultat”, betont Camille Peping, Leiter des Merscher Weiterbildungsinstituts, das das Schulprojekt seit Jahren mit Fortbildungen und Expertenberatungen begleitet. Anders als in Deutschland gibt es in Luxemburg keine Sonder- oder Förderschulen für die Sekundarstufe. Schüler mit Verhaltensstörungen werden im Prinzip in der öffentlichen Schule betreut; im Prinzip, denn einige gehen ins Ausland oder brechen die Schule ab. Für viele ist die Aufnahme in eine Förderklasse die letzte Hoffnung vor dem Schulverweis. Absentismus, hartnäckiges Schulschwänzen, aber auch wiederkehrende Provokationen und Störungen sind Auffälligkeiten, die dazu führen, dass Schüler in Mosaikklasse kommen. Oder anders ausgedrückt: Der typische Mosaikschüler ist männlich, bereits einmal sitzengeblieben, hat Schwierigkeiten, sich im Klassenverbund einzufügen und dem Unterricht zu folgen. Laut Jahresbericht lag das Verhältnis von Jungen zu Mädchen in den Mosaikklassen 2012 bei rund 73 zu 25 Prozent, wobei die Mädchen aufholen. „Derselbe Trend lässt sich auch im Ausland beobachten”, bestätigt Jörg Haferkamp. Der Psychologe begleitet zusammen mit der Pädagogin Lisa Neunkirch die Mosaikklassen als externe Beobachter, ihre Vorschläge sind in den Rahmenplan von 2012 eingeflossen. Darin ist das diagnostische Verfahren beschrieben, auf dessen Grundlage die Fördermaßnahme aufbaut. Um zu bestimmen, welche Hilfen ein Schüler braucht, wird er, nachdem er vom Lehrer beim schulpsychologischen Dienst oder beim Service éducatif gemeldet wird, zunächst innerhalb seiner Klasse beobachtet.

„Man muss davon ausgehen, dass rund zehn Prozent der Schüler generell psychologische Auffälligkeiten haben“, sagt Jörg Haferkamp. Wenn die Rate stimmt, dann ist es erstaunlich, dass nicht viel mehr Mosaikklassen im Land existieren. 255 Schüler erhielten 2011/2012 eine Spezialförderung durch Mosaikteams. „Manche Lehrer probieren es vielleicht erst einmal selbst, andere melden problematische Schüler nicht, weil sie damit ein persönliches Scheitern verbinden“, versucht Haferkamp die Zurückhaltung vieler Lehrer zu erklären, bei schwierigen Schülern um externe Hilfe zu fragen. Das sei kontraproduktiv: „Die Chancen, störendes Verhalten zu beeinflussen, sind besser, je früher gegengesteuert wird.“

Um den Förderbedarf zu bestimmen, sind Lehrer angehalten, eine Art Check-Liste ausfüllen. In der Praxis erledigen dies aber meistens die Erzieher und Sozialpädagogen der Mosaikklassen. „Es gibt Lehrer, die sind durch die Fragen überfordert. Es gibt aber auch jene, die den Mehraufwand scheuen“, sagt Haferkamp. Laut Jahresbericht bewerteten die Mosaikteams 2012 in über 81 Prozent der Fälle die Zusammenarbeit mit den Klassenlehrern als gut bis sehr gut, im Vorjahr lag die Zustimmung bei rund 74 Prozent. Das ist auch ein Verdienst gestraffter Prozeduren. So wurde das Rahmenkonzept von 2005 von Haferkamp, Neunkirch und Peping 2012 neu aufgelegt. Darin steht zum Beispiel, wie ein Förderplan zu erstellen ist, welche Methoden und Arbeitsweisen in den Förderklassen zum Einsatz kommen, wie die Zusammenarbeit und die Arbeitsbereiche zwischen Eltern, Betreuern und Klassenlehrerin optimal gestaltet werden sollen.

Eine gute Abstimmung zwischen dem Mosaikteam und dem Klassenlehrer ist aber nicht nur wichtig, um möglichst präzise Hilfestellungen zu geben, sondern vor allem für die Nachbetreuung, wenn der Junge oder das Mädchen wieder in die Klasse zurückkommt. Das ist das Ziel: Auch wenn die Schüler für einige Wochen herausgenommen werden, so bleibt die Verbindung zur Klasse prinzipiell bestehen. Gleichzeitig erfährt der Schüler in der Mosaikklasse aber eine umfassendere Betreuung, die ein Lehrer, der noch 20 andere Schüler betreuen muss, in der Form nicht leisten kann.

„Die Mosaikklasse ist keine Waschmaschine, aus der ein Schüler ‚sauber’ herauskommt“, warnt Haferkamp vor falschen Erwartungen. Damit positive Verhaltensänderungen nachhaltig sind, muss der Klassenlehrer mitmachen. Manche Schüler folgen dem normalen Unterricht auch nach der Rückkehr nicht vollständig, bekommen auf ihr Niveau und Lerntempo zugeschnittene Aufgaben, werden weiterhin vom Erzieher begleitet. Viele der Schüler kommen aus sozial schwachen oder zerrütteten Elternhäusern. Oft ist zuhause niemand, der ihnen Grenzen setzt oder mit ihnen schulische oder persönliche Probleme bespricht. Lehrer, die sich bemühen, diese Defizite aufzufangen, können dies nur bedingt. „Sie sind dafür nicht ausgebildet“, stellt Camille Peping fest.

Die Mosaikteams sind dagegen geschult, haben Weiterbildungen, etwa in Konfliktmanagement oder Lehrmethoden, absolviert. Sie arbeiten mit einer kleinen Gruppe an Schülern zusammen, um jeden so individuell wie möglich zu begleiten. Dazu wird ein Förderplan aufgestellt, in den die Eltern einwilligen müssen. „Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist enorm wichtig“, betont Jörg Haferkamp. Aber nur mit rund der Hälfte klappt die Zusammenarbeit gut bis sehr gut, mit einem Drittel mittelgut, bei jedem fünften Elternteil ist sie sogar schlecht.

Kein Wunder, dass auch die Betreuer mitunter an ihre Grenzen stoßen. Zumal viele unter Zeitdruck arbeiten und sich nicht jedes Mosaikteam während der Arbeitszeit austauschen kann. „Teambesprechungen sind notwendig, dafür muss ein fester Platz im Stundenplan vorgesehen werden“, fordert Haferkamp. Hier sind die Schulleitungen gefragt, die nicht alle das Projekt nicht mit derselben Präsenz unterstützen. Haferkamp und seine Kollegin versuchen, den Teams mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. In Konferenzen wurden Schwerpunkte vertieft. So lag ein Augenmerk auf der Vernetzung mit externen Hilfediensten, wie dem Jugendamt oder der Jugendpsychiatrie. Weil es dort Wartelisten gibt, kommt es immer wieder vor, dass Jugendliche, die eigentlich therapeutische Unterstützung brauchen, in den Mosaikklassen unterkommen, bis sie anderswo adäquate Hilfe erhalten.

Manche Erlebnisse gehen so unter die Haut, dass in diesem Schuljahr erstmalig eine Supervision für die Betreuer angeboten wird. „Ohne regelmäßigen Austausch und Unterstützung brennen viele aus“, weiß Camille Peping. In der Supervision können sie vertraulich über Probleme sprechen, die durchaus aufttreten können. „Die Mosaikteams haben eigentlich einen Orden verdient“, lobt Jörg Haferkamp. „Leider wird ihre schwierige Arbeit noch zu wenig honoriert.“

Es war die sozialistische Erziehungsministerin Mady Delvaux-Stehres, die sich den Kampf gegen Schulabbruch und Misserfolg auf die Fahnen geschrieben hatte. Das war der entscheidende Anstoß, damit das Mosaikklassenkonzept auf andere Schulen im Land ausgedehnt und professionalisiert werden konnte. Welchen Stellenwert die Förderung schwieriger Schüler unter Erziehungsminister Meisch bekommt, wird sich noch zeigen müssen: Mit dem Dienstherrn wechselte auch der Ansprechpartner im Ministerium. Die letzte Mosaik-Arbeitssitzung dort, bei der der Jahresbericht vorgestellt wurde, fand im Frühjahr statt.

Ines Kurschat
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