Draußen ist es noch dunkel, als die Briefträger im Postamt von Walferdingen ihre Briefe und Pakete ordnen. Sechs Uhr ist es jetzt, Dienstbeginn war vor einer halben Stunde gewesen. Da kam der Transport von der Zentrale in der Hauptstadt an und hat die erste Fuhre Post gebracht. Vor allem Reklamesendungen: Heute ist Dienstag, I-Mail-Tag. Das sind die bunten Gratis-Werbeblätter im Sammelumschlag aus Plastik. Nicht zu verwechseln mit der E-Mail – die ist elektrisch und wiegt nichts.
Im Postbüro fällt kaum ein Wort. Sechs Männer arbeiten in dem Raum voller Regale. Hier hat jeder seine gesamte Tour vor Augen, Straße für Straße und Hausnummer für Hausnummer – mit je einem Fach von vielleicht fünf Zentimeter Breite und 20 Zentimeter Höhe. Wer sich da nicht konzentriert, steckt schnell mal einen Brief ins falsche Fach. Weil solche Nachlässigkeit sich unterwegs rächt und niemand das will, ist es so still im Walferdinger Postbüro.
Nico Kass ist schon seit knapp einer Stunde hier. 25 Minuten Freizeit hat er der Post geschenkt. „Damit ich besser zurecht komme.“ Das macht er fast immer so, und seinen Kollegen geht es nicht anders. Die Zahl der Sendungen wächst und wächst.
Gegen Viertel vor sieben ist Nico Kass fertig mit dem Einsortieren seiner Briefe. Fürs Erste, denn in einer halben Stunde kommt noch ein Transport aus der Zentrale in Luxemburg-Stadt, dann beginnt das Spiel von vorn. Unterdessen füllt Nico Kass die Schließfächer des Postamtes auf. Als er damit fertig ist, zeigt die Uhr auf zwanzig nach sieben. Zeit für einen eiligen Biss ins Pausenbrot und einen Schluck Tee aus der Thermosflasche. „Man muss immer trinken, das ist wichtig. Wegen des Staubs auf den Briefen und Pakteten.“
Das Warten auf das zweite Postauto überbrückt Nico Kass mit dem Durchsehen postkartengroßer gelber Avis-Zettel: Der Automobilclub hat Mitgliedskarten verschickt, und für die gibt es extra Mitteilungen. Auszufüllen hat sie der Briefträger. Das hat Nico Kass gestern abend zu Hause erledigt.
Die zweite Fuhre aus der Hauptstadt ist kleiner als die erste. In nur 20 Minuten hat Nico Kass die Hälfte seiner Regalfächer im zweiten Durchgang gefüllt. Es ist jene Hälfte, die so hoch angebracht ist, dass sie nur im Stehen bestückt werden kann. Der untere Regalbereich lässt sitzende Tätigkeit zu. Da nimmt der Briefträger Platz auf einem runden Holzschemel. Das Mobiliar hier im Postbüro in Walferdingen ist seit 40 Jahren dasselbe.
Gegen acht Uhr werden die Briefträger fertig mit dem Sortieren. Hier und da fligen jetzt ein paar Worte über die Regalwände hinweg. Fußballresultate, Frauengeschichten. Dann rollen die Männer nacheinander ihre Wagen mit den beiden großen gelben Taschen in den Vorraum neben der Eingangstür. Dort wartet der größte Posten des Tages aufs Einladen: bergeweise I-Mail-Reklame. 350 Stück davon sind für Nico Kass. Bei 430 Gramm pro I-Mail macht das insgesamt drei Zentner.
Ehe Nico Kass auf Tour geht, bindet er seine Briefe straßenweise zu kleinen Bündeln zusammen. Ein Drittel der Briefe, Zeitschriften und kleinen Pakete verstaut er in im Postwagen, der Rest wird auf zwei blaue Postsäcke verteilt. Die werden später per Auto zu „Depots“ gefahren, die auf Nico Kass‘ Weg liegen. Auch zwei Drittel der Reklametüten wird Nico Kass sich erst unerwegs greifen.
Um Viertel vor neun sind die sechs Briefträger reisefertig. Vier werden die Gemeinde Walferdingen mit den Ortsteilen Walferdingen, Bereldingen und Helmsingen ablaufen; einer geht nach Steinsel und einer für Heisdorf zwischen Walferdingen und Lorentzweiler. Die Tour von Nico Kass führt durch Walferdingen und Helmsingen. 10,5 Kilometer ist sie lang und führt vorbei an 470 Hausbriefkästen.
„Wie ist denn das Wetter draußen?“, fragt der Steinseler Kollege vor dem Hinausgehen. „Saukalt und feucht“, kommt die Antwort von draußen. „Da muss ich meinen Hut aufsetzen“, brummt der Steinseler.
„Müssen Sie noch mal pinkeln?“, fragt Nico Kass den Reporter, der heute mit ihm auf Tour gehen will. „Wir haben jetzt stundenlang keine Gelegenheit mehr.“ Und sich einfach an den nächstbesten Baum stellen – das geht nicht. „Ich bin schließlich ein Briefträger!“
Nico Kass ist nicht nur Briefträger, sondern Routinier. 50 Jahre alt und seit 35 Jahren bei der Post. Ein Bär von einem Mann, nicht sehr groß, dafür um so breiter. Seine Reisegeschwindigkeit ist enorm, und so, wie beim Einsortieren der Briefe jeder Handgriff gesessen hat, so zielstrebig steuert Nico Kass seinen Handwagen mit den gelben Taschen von Haus zu Haus. Dem Mitlaufenden kommt die Strecke merkwürdig vor. Der Briefträger fährt nicht der Reihe nach eine Straße nach der anderen ab, sondern in vielen Kreisen durch sein Revier. Die Route hat er selbst optimiert. Jeder Briefträger macht das so, weil Zeit kostbar ist.
Schätzungsweise vier Stunden werden wir unterwegs sein. Nico Kass tut das seit fünf Jahren. „Ich habe schon überall im Land gearbeitet. In der Stadt, in Petingen, in Weiswampach… querbeet eben.“
Ein Traumberuf war der Postdienst für ihn nicht gewesen. „Wir waren vier Kinder zu Hause, und der Vater war tot. Ich war der Älteste und habe Geld verdienen müssen. Hätte zwar auch weiter zur Schule gehen können, denn ich war gut. Aber das ging nun mal nicht.“
Ein Verwandter gibt dem Vierzehnjährigen den Tip, es bei der Post zu versuchen. Nico Kass nimmt den Rat an und arbeitet für 2 800 Franken im Monat im Postamt von Vianden, um die Haushaltskasse der fünfköpfigen Familie aufzubessern, die vorher nur durch den Verdienst der Mutter und die Halbwaisenrente für die Kinder gefüllt wurde. Vier Jahre bleibt Nico Kass in Vianden und wechselt dann zum Schalterdienst ins damals noch bestehende Postamt im Hauptbahnhof von Luxemburg-Stadt. Später wird er für zehn Jahre Fahrer beim Transportdienst. Briefträger ist Nico Kass seit 15 Jahren.
„Und ich bin es gern“, sagt er mit Nachdruck. „Du arbeitest auf eigene Verantwortung und bist unter Leuten. Ja, ich bin schon so lange allein unter den Leuten, dass ich weiß, wie die Menschen sind.“
Und die Menschen sind oft einsam und auf der Suche nach jemandem zum Reden. Vor allem die Alten. Wie der weißhaarige Mann, der schon auf uns gewartet hat, um einen Witz zu erzählen: „Kommt ein Belgier in ein Bistrot…“
„Jeden Tag macht der das", sagt Nico Kass danach. „Erzählt immer einen anderen Witz. Der hat niemanden, was will er machen?“
Das ist die Rolle des Briefträgers – desjenigen, der Tag für Tag um die gleich Zeit kommt. Immer. Die Zuverlässigkeit in Postleruniform. Zum Glück für die 92-Jährige, die kaum noch gehen kann und der Nico Kass ab und zu Brot vom Bäcker mitbringt. Andere brauchen eine Arznei aus der Apotheke. Oder sie wollen einen Rat.
„Und dann war diese Frau, mit der ich oft kurz gesprochen habe. Eines Tages stand sie vor ihrem Haus, und als sie mich kommen sah, rief sie schon von Weitem: ‚Briefträger, Briefträger, ich habe Brustkrebs!‘“
Nico Kass ist stehengeblieben: „Können Sie mir sagen, was ich da tun soll? Eigentlich habe ich für so etwas gar keine Zeit mehr, aber ich kann nicht einfach weitergehen!“
Er sagt, dass er sich gestresst fühle, immer mehr. Es gibt immer mehr auszutragen, und morgen, am Mittwoch, gibt es zwar keine drei Zentner Reklameblätter zu verteilen, aber dafür die Wochenillustrierten. Auch an die drei Zentner.
Währenddessen haben wir die neue Siedlung in Walferdingen erreicht. Hier, zwischen der Hauptstraße Richtung Mersch und der Alzette, wächst auf der grünen Wiese ein Eigenheim nach dem anderen in die Höhe, hier wird der Speckgürtel um die Hauptstadt breiter. Potenzielle Kundschaft für den Briefträger, der erst vor einem Monat von vorher 530 Haushalten 60 abgenommen bekommen hat, als seine Tour und die seiner Kollegen „reorganisiert“ wurde. Mehr als ein Jahr hatte es gedauert, ehe die Postdirektion die Reorganisation durchführen ließ.
Jetzt stehen wir vor dem Depot Nummer eins, einem kleinen Geschäft inmitten der Eigenheimsiedlung. Ein Postsack voller Briefe steht bereit und ein neuer Zentner I-Mail. Seitdem die Reklameblätter ausgetragen werden, kommen die Briefträger ohne diese Zwischenlager nicht mehr aus. Ausfindig machen müssen sie die selbst – in Geschäften oder in den Wohnungen von Leuten, die garantiert tagsüber zu Hause sind. Üblicherweise sind das ältere Leute. Ohne engen Kontakt zum Postkunden gäbe es keine Depots.
„Das ist es, was mich so ärgert“, sagt Nico Kass. „Wir arbeiten immer mehr, und das ist ja auch zunächst einmal nicht schlimm. Aber wenn unsere Direktion darauf nur antwortet, das müsse eben so sein, das sei die neue Zeit; wenn sie uns sagt, wir dürften eben nicht mehr so viel mit den Leuten reden, dann zeigt mir das, dass die Leute an den Schreibtischen keine Ahnung haben von dem, was hier draußen vor sich geht."
Viel möchte Nico Kass nicht erzählen von dem, was „nicht läuft“. Und er versteht sogar seine Direktoren: „Die leiten jetzt ein richtiges Unternehmen. Die müssen rechnen, das ist klar.“ Aber dass er enttäuscht sei, sagt er, als wir um halb zwölf für zehn Minuten bei einer Tasse Espresso in einem Café sitzen. Für den Briefträger ist das die erste Mini-Pause nach sechseinhalb Stunden Arbeit. „Wissen Sie, ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen, ich habe immer ordentlich meine Arbeit gemacht. Ich bin es nicht gewohnt, mich zu beklagen, ich bin immer aus eigener Kraft durchgekommen. Aber wenn ich jetzt höre, dass wir immer schneller arbeiten müssen, und niemand sich fragt, ob das einem Fünfzigjährigen noch abverlangt werden kann – dann klingt das so, als hätten wir bisher alles falsch gemacht. Mit mir kann man so nicht reden, nach 35 Jahren bei der Post.“
Um halb eins lässt Nico Kass seinen Wagen unterwegs stehen und lädt seine Umhängetasche voller Briefe und Reklametüten – die Restladung aus Depot Nummer zwei. Es geht die Straße steil bergan in Richtung Grünewald, den Wagen zu schieben, wird dem Briefträger zu schwer. Dass der Reporter ihm zur Hand geht, lehnt er freundlich, aber kategorisch ab: „Morgen sind Sie auch nicht da, morgen bin ich wieder allein. Seien Sie froh, dass es heute nicht schneit.“
Zwanzig Minuten später hat Nico Kass seine Tour beendet. Vier Stunden und fünf Minuten war er unterwegs, hat zehneinhalb Kilometer zurückgelegt und rund fünf Zentner Post auf 470 Briefkästen verteilt. „Wissen Sie, was mich am allermeisten aufregt?“, fragt der Briefträger zum Schluss. „Dass es Leute gibt, die behaupten, den Staatsbeamten gehe es zu gut!“
Peter Feist
Catégories: Poste et service postal
Édition: 25.11.1999