Brexit-Verhandlungen

Mit dem Rücken zur Wand

d'Lëtzebuerger Land du 17.11.2017

Es ist eigentlich alles schon gesagt. Großbritannien will in etwa 16 Monaten die Europäische Union verlassen. Diese Entscheidung steht seit 17 Monaten fest. Zeit genug, um das Land in eine tiefe Krise zu stürzen und die Union in einen Prozess der Selbstfindung zu schicken. Mit dem Ergebnis, dass London noch immer nicht weiß, was es eigentlich will; Brüssel hingegen hat sich längstens mit der Scheidung abgefunden. Dass es für London keinen Exit vom Brexit geben wird, ist sowohl der britischen Premierministerin und Tory-Chefin Theresa May als auch Labour-Boss Jeremy Corbyn, wichtigster Oppositionsführer im britischen Unterhaus, ins politische Poesiealbum geschrieben. Doch beiden Politikern ist auch bewusst, dass die verbleibende Zeit kaum für einen Scheidungsvertrag reichen wird, denn für einen Interimskontrakt oder gar für ein Freihandelsabkommen.

Den Briten ist bislang nicht einmal klar, welchen Brexit sie überhaupt möchten: einen harten Schnitt mit Austritt aus der Zollunion und dem Binnenmarkt der EU oder einen weichen Rückzug aus den politischen Institutionen, bei dem Großbritannien für den Zugang zum europäischen Freihandelsraum zahlen und auch Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus der EU akzeptieren muss. Theresa May wagt es nicht einmal Andeutungen zu machen, welche Scheidungsvariante sie favorisiert, so sehr steht sie politisch unter Druck – und dann ist das Hemd näher denn die Hose, oder das eigene politische Überleben wichtiger als die Zukunft des Landes.

In Brüssel ist man gelassener. Der Brexit ist ein Faktum. Nun gilt es schnellstmöglich einen Deal auszuhandeln, der andere Staaten vom Nachahmen abhalten soll. Michel Barnier, Chefverhändler der Union, hat den Briten jetzt eine Frist von zwei Wochen gesetzt, um Schwung in die Scheidung zu bekommen. In dieser Zeit soll London drei Eröffnungsfragen konkretisieren: die Grenzfrage zwischen Nordirland und der Republik Irland, die künftigen Rechte von EU-Bürgern sowie die Kosten der Scheidung. Bewegen sich die Briten nicht, dann wird die EU beim Gipfel im Dezember kein grünes Licht für den Beginn der zweiten Phase der Trennung geben. Dann wird es richtig knapp: Verhandeln beide Seiten ab Januar nicht über die zukünftigen Handelsbeziehungen und über das Übergangsabkommen, dann wird es eng mit dem Austrittsdatum Ende März 2019. Schließlich müssen die Parlamente auf beiden Seiten des Kanals dem Scheidungsdokument zuvor zustimmen, damit die Trennung gültig werden wird.

Klar ist auch, dass alle Experten dieses Drama haben kommen sehen. Etwa britische Sachverständige: Sie warnten ihre Regierung davor, den Artikel 50 auszulösen, der bloß eine Frist von zwei Jahren vorsieht. Denn nach 44 Jahren Mitgliedschaft ist das britische Recht so eng mit dem europäischen verwoben, dass es eines Kraftakts bedarf, die Gesetzesbücher umzuschreiben. Anfang der Woche schließlich diskutierte das Unterhaus über einen Entwurf eines Austrittsgesetzes, nach dem zunächst alle EU-Gesetze ins britische Recht überführt werden soll, anschließend dann jedes einzelne darauf untersucht werden soll, ob es für die Zeit nach dem Brexit Bestand haben kann, abgeändert werden muss oder verworfen werden soll. Hundert Änderungsanträge wurden eingebracht, um den Brexit in die ein oder andere Richtung zu lenken. Am Ende des Tages versprach David Davis, Londoner Brexit-Minister, dass das Scheidungsabkommen an sich im Unterhaus zur Abstimmung gestellt werden wird. Ein Zugeständnis an die Kritiker von May, die nur über eine knappe Mehrheit im Parlament verfügt. Die Debatte und die Abstimmungsprozedur um das Austrittgesetz werden sich wohl bis Weihnachten hinziehen.

Was aber geschieht, wenn das Parlament in London den letztendlich ausgehandelten Brexit-Deal durchfallen lässt? Darf das Unterhaus dann über dieses „No-Deal“-Szenario abstimmen, falls die Regierung kein Abkommen hinbekommt? Viele proeuropäische Parlamentarier in London befürchten, dass die Regierung May genau darauf abzielt, ohne Abkommen aus der EU auszutreten. Dem rechten Flügel der Torys käme dieses Szenario gerade recht, denn es bedeutete auch, dass London die Abschlussrechnung der EU nicht zahlen müsse. Außenminister Boris Johnson hatte bereits zu Protokoll gegeben, dass „sich die EU eine hohe Abschlagszahlung abschminken kann“. Der Sprung ins tiefe, vertragslose Wasser hätte allerdings schwerwiegende Folgen: Briten in der EU wären nicht mehr abgesichert, britische Pensionäre in der EU verlören ihre Altersvorsorge, Hilfsprogramme der EU in Großbritannien stellten sofort ihre Arbeit und ihre Zahlungen ein, Nordirland würde sicherlich im politischen Chaos versinken, Abkommen über Flugsicherheit, Medikamentenkontrolle, Fischereirechte hinfällig – die Liste ist unendlich lang. Alles ohne Recht und Ordnung. Besonders gravierend ist dabei, dass Brüssel London kein Handelsabkommen zu besonders günstigen Kondi-
tionen gewähren wird, was für die britische Wirtschaft schlimmer ist, als für den EU-Binnenmarkt.

Bei dieser Rosenkriegsliste ist es eine Frage, warum Boris Johnson und Umweltminister Michael Gove als vehemente Brexit-Befürworter, das Land überhaupt über die Klippe springen lassen wollen. Verhandlungsmasche, um einen möglichst guten Vertrag aushandeln zu können? Oder ist es doch nur die eigene, persönliche Agenda, um möglichst schnell in Downing Street No. 10 einziehen zu dürfen? Der interne Machtkampf und die chaotische Verhandlungsführung bei den Torys hilft derzeit vor allen Dingen Labour-Chef Corbyn. Bei Neuwahlen könnte er gewinnen und einen sanften Brexit aushandeln, so dann seine Utopie vom pragmatischem Sozialismus auf der britischen Insel umsetzen. Dies mag Johnson und Gove noch davon abhalten, Premierministerin May und ihren moderaten Schatzkanzler Philip Hammond abzulösen. Noch. May wird in diesen Tagen oft mit dem früheren Premier John Major verglichen. Von ihm hieß es seinerzeit, dass er zwar im Amt sei, nicht aber an der Macht. Dennoch regierte er über fünf Jahre.

Martin Theobald
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