Die neuen Kapital- und Solvenzregeln Solvency II halten Versicherungsgesellschaften und ihre Aufsichtsbehörden auf Trab

Fleißarbeit

d'Lëtzebuerger Land du 16.06.2011

Auch nach Jahren der Vorbereitung stellen die neuen europäischen Kapital- und Solvenzregeln, genannt Solvency II, die europäische und damit auch die Luxemburger Versicherungsbranche vor große Herausforderungen. Sie sind so groß, dass auch die seit Januar 2011 tätige europäische Aufsichtsbehörde für Versicherungsgesellschaften und Pensionsfonds (Eiopa) es nicht für abwegig hält, das Inkrafttreten der neuen Regeln um ein Jahr zu verschieben.

Victor Rod, Leiter des Commissariat aux Assurances, der Luxemburger Aufsichtsbehörde für die Branche, ist Vize-Präsident von Eiopa, deren Mission er in drei Aufgabenfelder unterteilt. Die Behörde ist erstens dafür zuständig, die technischen Standards der Branche zu etablieren, damit die Berichterstattung der Unternehmen an die Behörden künftig EU-weit vergleichbar ist. Dann erst kann die zweite Aufgabe der Eiopa in Angriff genommen werden: Das Gremium soll verstärkt Daten sammeln, denn an zentral geführten Statistiken mangelt es bislang. So mussten die EU-Finanzpolitiker, als sie bei Ausbruch der europäischen Schuldenkrise wissen wollten, wie groß die gefährdeten Staatsanleihenportfolios der Versicherungsfirmen seien, länger auf eine Antwort warten, als ihnen lieb war. „Natürlich halten die Versicherungen sehr viele staatliche Anleihepapiere“, erklärt Victor Rod, bei weiten nicht nur griechische. „Sie wurden jahrzehntelang dazu angehalten, in solche Papiere zu investieren, weil sie als sicher galten.“ Dritte Mission von Eiopa ist fortan, die Koordination der Aufsicht der großen grenzüberschreitend tätigen Konzerne zu übernehmen. Einerseits, um zwischen den verschiedenen Behörden der Länder zu vermitteln, in denen die Gesellschaften aktiv sind. „Eiopa kann aber auch Entscheidungen treffen, denen sich die Gesellschaften direkt unterwerfen müssen“, erklärt Rod. Über solche Vollmachten verfügte die Vorgängereinrichtung, der eher lose Zusammenschluss der europäischen Versicherungsregulierer Ceiops, nicht.

Von Ceiops hat Eiopa die Mitarbeiter übernommen, rund 25 sind es derzeit. Doch Eiopa rekrutiert intensiv. Zwischen 90 und 100 Mitarbeiter will die Behörde Ende 2012 auf der Lohnliste haben. Damit gerät auch das Commissariat aux Assurances unter Zugzwang, personell aufzurüsten, schon allein, um mit der Entwicklung auf Eiopa-Ebene Schritt halten zu können. „Der Erwartungsdruck aus der Politik an die neuen EU-Behörden ist enorm“, berichtet Rod. Deren Botschaft an die Aufsichtsbehörden der Finanzindustrie fasst er in zwei Sätzen zusammen: „Die vergangene Krise hat uns viel Geld gekostet. Sorgt dafür, dass es nicht noch einmal zu einer solchen Krise kommt; wir können uns das nicht leisten.“ Wer dabei mitdiskutieren und seine Interessen vertreten will, muss Präsenz in den Arbeitsgruppen zeigen, die diesen Auftrag erfüllen sollen.

Zur Krisenprävention gehört auch die Identifizierung systemischer Risiken, welche die Aufsichtsbehörden auf EU-Ebene wie weltweit beschäftigt. „Die Branche selbst glaubt nicht, dass von ihr systemische Risiken ausgehen. Es gibt aber zum Beispiel Geschäftsmodelle, wie die so genannten Monoliners in den USA, die bedenklich sind. Und in der Realwirtschaft gibt es ganze Branchen, deren Aktivität direkt vom Versicherungsschutz, den sie abschließen, abhängig ist“, wendet Rod ein. Was passiert, wenn der ausfällt, spürten zivile Fluggesellschaften weltweit, als ihnen am 12. September 2001 der Versicherungsschutz vor Terrorgefahren gekündigt wurde: Die Flugzeuge blieben am Boden. Die Forschung, beispielsweise in der Chemieindustrie, fährt Rod fort, sei ebenfalls stark von ihrem Versicherungsschutz abhängig. „Was passiert, wenn die Versicherungskonzerne beschließen, in großem Maß Aktien und Wertpapiere zu verkaufen? Kommt es zum Börsenkrach?“, zählt er ein weiteres mögliches Risiko auf.

Die größte Baustelle für das europäi-sche Versicherungswesen und seine Aufsichtsbehörden bleibt der neue Regelrahmen zur Berechnung der Solvenzkriterien Solvency II, der 2013 in Kraft treten soll. Dass die Kapitalanforderungen künftig auf Basis der tatsächlichen Risiken berechnet werden sollen, denen die Gesellschaften ausgesetzt sind, und nicht nach einer pauschalen Formel, die für jedermann gilt, geht auf Branchenforderungen aus Vorkrisenzeiten zurück. Durch individuelle interne Modelle, die jeweils von den Behörden zu genehmigen sind, hofften vor allem große transnationale Versicherungsgruppen, die Kosten zu senken. Doch weil seit der Finanzkrise allgemein die Anforderungen zur Risikovorsorge steigen und sich immer mehr die Erkenntnis durchsetzt, dass der Preis, beziehungsweise die Kapitalrücklagen, für eingegangene Risiken stimmen müssen, verflüchtigen sich die eventuellen Vorteile des neuen Systems. Übrig bleiben ein hochkomplexes Regelwerk und hohe Umstellungskosten.

Nicht alle Gesellschaften werden die Umstellung schaffen. Das hat die fünfte Impaktstudie (Quantative impact study oder QIS5 genannt), die im Vorfeld zur Solvency-II-Einführung durchgeführt wurde, gezeigt. Zwar beteiligten sich an der Studie weitaus mehr Firmen als noch an der letzten. Und insgesamt seien die Europäischen Versicherungsgesellschaften immer noch stark überkapitalisiert, stellte Eiopa im März fest. Doch wenn die Solvenzquoten nach den neuen Anforderungen berechnet werden, sind die Reserven nicht mehr ganz so hoch wie nach dem aktuellen Berechnungsmodus von Solvency I, und manche Gesellschaft wird nicht umhin kommen, bis zum Inkrafttreten von Solvency II neues Kapital aufzunehmen.

Die eingesandten Fragebögen zeigten aber vor allem: Die Gesellschaften sind eineinhalb Jahre vor dem Start von Solvency II nicht ausreichend vorbereitet. Das eingegangene Datenmaterial, warnte die EU-Behörde bei der Vorstellung der Ergebnisse, sei von sehr variabler Qualität. „Die Industrie ist noch weit von richtigen Vorbereitungen entfernt“, bedauert auch Victor Rod. „Am weitesten sind hier in Luxemburg die Firmen, die sich bereits an der dritten Impaktstudie beteiligten.“ Weil vielen Firmen nun dämmert, dass sie nicht wissen, wie sie mit dem neuen Regelwerk umgehen sollen, suchen sie dringend Personal, das es kann. „Das führt dazu, dass sie sich gegenseitig und auch dem Commissariat die Aktuare abjagen.“

„Unsere traditionellen Versicherungsgesellschaften, seien es Lebensversicherungsgesellschaften oder die Sachversicherer, haben im Prinzip kein Problem, die neuen Anforderungen zu erfüllen“, fährt Rod fort. Anders sieht es bei den Rückversicherungs-Captives aus. „Eine Reihe wird echte Probleme haben“, sagt der Leiter des Commissariat aux Assurances. Von aktuell rund 250 aktiven Captives könnten zwischen 30 und 50 verschwinden. Entweder, weil die Rückversicherer, die über die Captives spezifische Risiken absichern, diese lieber schließen werden, anstatt sie zu rekapitalisieren. Andere könnten sich für Fusionen mit anderen Captives entscheiden, die ähnliche Risiken absichern. Oder aber in Territorien außerhalb der EU umziehen, in denen die Kapitalanforderungen weniger hoch sind, warnt Rod. Denn manchen von ihnen fehlten laut Impaktstudie bis zu 50 Prozent des nötigen Kapitals, um die Solvenzkapitalanforderungen von Solvency II (SCR) zu erfüllen. Das heißt, ihre Kapitaldecke würde nicht reichen, um die Risiken abzudecken, die innerhalb von zwölf Monaten mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,5 Prozent eintreten würden. „Weil nur 32 Prozent der Captives bei QIS5 mitgemacht haben, wissen wir nicht, wo die anderen 68 Prozent stehen“, erklärt der Aufsichtschef. Der hat nun die Firmen aufgefordert, die nötigen Daten mit ihrem Jahresbericht zu liefern, damit sich das Commissariat ein besseres Bild der Lage machen kann.

Die schlechten Resultate der anderen Firmen seien allerdings zum Teil auf eine mangelhafte Feineinstellung der Berechnungsgrundlage in Solvency II zurückzuführen, beschwichtigt Rod. Das gilt besonders in Bezug auf Katastrophenrisiken, die über die Captives rückversichert werden. Zum Beispiel: „Die Lawinengefahr ist hier ebenso hoch wie in Österreich, obwohl in Luxemburg die Alpenabhänge fehlen. Und die Gefahr großer Überschwemmungen ist im Alzettetal genauso gegeben wie entlang der großen polnischen Ströme“, verdeutlicht er das Problem. An einer besseren Kalibrierung der Risiken werde derzeit in Brüssel noch gearbeitet.

Doch die richtige Einschätzung der Katastrophenrisiken ist nur eines der Probleme, das noch vor der Umsetzung von Solvency II gelöst werden muss. Der Richtlinientext, schon vor Jahren vorbereitet und beschlossen, trägt der Existenz und den Kompetenzen der neuen Europäischen Aufsichtbehörden keine Rechnung. Und eigentlich muss sogar noch das Datum geändert werden, an dem die Richtlinie in Kraft tritt. Denn das im offiziellen Amtsblatt veröffentlichte Eintrittsdatum vom 1. November 2012 stimmt nicht mit dem Anfang des Bilanzjahres überein, dem 1. Januar. Dass es erhebliche Probleme nach sich ziehen könnte, wenn mitten im Bilanzjahr die Spielregeln geändert würden, war erst später aufgefallen. Doch mit der so genannten Omnibusrichtlinie, mit der diese Probleme gelöst werden sollen, wird sich das Europäische Parlament voraussichtlich erst Anfang 2012 befassen, also wenige Monate vor dem Stichdatum.

Weil dies ziemlich grundlegende Probleme sind und die Branche noch nicht bereit ist, hat Eiopa dem EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier vorgeschlagen, die Umsetzung um ein Jahr zu verschieben. „Das hieße, man würde 2013 zweigleisig fahren. Die Gesellschaften würden nach den Solvency-I-Regeln bewertet, müssten aber quasi als Trockenübung auch nach Solvency-II-Regeln berichten“, so der Eiopa-Vize-Präsident. Ob sich Eiopa bei der Kommission mit dieser Auffassung durchsetzt, ist aber noch ungewiss. Barnier hat bisher in öffentlichen Stellungnahmen eine Verschiebung von Solvency II immer kategorisch abgelehnt.

In der Zwischenzeit arbeitet das Commissariat aux Assurances am Gesetzentwurf, mit dem die Solvency-II-Richtlinie in Luxemburger Recht umgesetzt werden soll. Bei mehr als 360 Artikeln eine Fleißarbeit, wie Rod berichtet, und nicht immer ganz einfach. Die Originalrichtlinie wurde auf Englisch verfasst und der Text, in dem über 20 frühere Richtlinien zusammengefasst wurden, treibt die Übersetzungsdienste der Kommis-sion an ihre Grenzen. Nutzer der französischen Übersetzung, selbst wenn sie mitverhandelt haben, dürfen sich dann schon mal fragen, was eine „mère supérieure“, wie sie im Text vorkommt, mit den Kapitalanforderungen der Versicherungsbranche zu tun hat.

Dass sich die Gesellschaften mit dem neuen Regelwerk mindestens so schwertun wie die Behörden, kann man auch den Teilnehmerzahlen von QIS5 erkennen. Besonders kleinere Versicherungsgesellschaften scheuten laut Commissariat die Teilnahme an der Impaktstudie. Damit sie künftig verschiedene Funktionen, die ihnen viel Kopfzerbrechen bereiten, an spezialisierte Firmen auslagern können, arbeitet man auch an einem Gesetzentwurf, der nach dem Beispiel der Professionnels du secteur financier (PSF), das Statut der Professionnels du secteur des assurances (PSA) einführen soll, die vom Commissariat beaufsichtigt werden. Erst wenn die PSA den gleichen Aufsichtsregeln unterliegen und sie ein Berufsgeheimnis wahren müssen, dürfen die Gesellschaften Daten zur Weiter­verarbeitung weiterreichen. „Das könnte auch eine Nachfrage aus dem Ausland anregen“, glaubt Rod. Denn kleine Gesellschaften, die nicht alle Aufgaben intern erledigen könnten, gebe es schließlich nicht nur in Luxemburg.

Das Gesetz über die PSA, das im Entwurf in den kommenden Wochen vorgelegt werden soll, dürfte auch Gelegenheit sein, die bereits jetzt tätigen individuellen Versicherungsmarktakteure strenger als bislang an die Kandare zu nehmen. Anfang April unterschrieb Victor Rod ein geharnischtes Rundschreiben über die Vorortkontrollen bei den Versicherungsmaklern, das darauf schließen lässt, dass bei vielen Maklern Schlendrian in der Führung der Kundendossiers herrscht. Nicht einmal einem Drittel von ihnen bescheinigt Rod sorgfältige Arbeit. Wenn das Commissariat sie künftig einer richtigen prudentiellen Kontrolle unterziehen darf, anstatt wie bislang die Berufsqualifikationen zu prüfen, dürfte es mit der Sorglosigkeit vorbei sein.

Lohnt sich also der ganze Aufwand, die strengeren Regeln, die höheren Kapitalanforderungen, die Kosten, die Solvency II mit sich bringt? Machen sie das Versicherungswesen stabiler? Sicherer? „Wenn man bedenkt, wann es hier die letzte Insolvenz einer Versicherungsgesellschaft gegeben hat, kann unser bisheriger Aufsichtsrahmen eigentlich nicht so schlecht gewesen sein“, schlussfolgert Victor Rod.

Michèle Sinner
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