Vor einem halben Jahr stellte der Premier ein Maßnahmenprogramm für die sozial Schwächsten vor. Viel ist davon bisher noch nicht in Sicht

Bücherbons, Gratiswasser und Spangen vom Staat

d'Lëtzebuerger Land du 01.06.2012

Es sollte ein Maßnahmenpaket für die sozial Schwächsten sein, und es sollte so aussehen, als werde der Kaufkraftverlust durch eine erneute Indexmanipulation halbwegs eingehegt. Als Premier Jean-Claude Juncker (CSV) am 16. Dezember vergangenen Jahres nach der gescheiterten Tripartite die Presse zu sich rief, erklärte er nicht nur, dass die Regierung „die nötigen Entscheidungen“ getroffen habe und die eigentlich für März 2012 fällige In-
dextranche auf Oktober verschoben werde und es 2013 und 2014 ebenfalls frühestens im Oktober zu einer Indexanpassung komme. Der Premier kündigte auch mehrere politische Initiativen an, um „schmale Schultern“ zu entlasten.

Einkommensschwache Familien mit Schulkindern über zwölf Jahren könnten auf Anfrage einen Bon im Wert von 300 Euro zum Kauf von Schulbüchern erhalten, erklärte der Premier. Außerdem werde eine Prime unique von 500 Euro pro Kind und Schuljahr eingeführt. 

Lohnabhängige, die vor der Einführung des Einheitsstatuts Arbeiter waren, könnten sich ab Anfang 2012 auf höhere Nettolöhne freuen, fuhr er fort. Denn die höheren Krankengeldbeiträge der Ex-Arbeiter werden mit den Jahren schrittweise auf das Niveau der Angestellten abgesenkt. Die Differenz gegenüber dem allgemeinen Krankengeld-Beitragssatz fließt in die Krankengeld-Mu-tualität der Arbeitgeber. Diese Surprime sinke, kündigte Juncker an, von 2,1 Prozent des Bruttolohns im Jahr 2011 auf ein Prozent im Jahr danach, und sie werde nicht erst 2014 ganz auslaufen, wie im Gesetz über das Einheitsstatut vorgesehen, sondern schon 2013. Der dann entstehende Einnahmenverlust für die Arbeitgeber-Mutualität werde über den Staatshaushalt kompensiert.

Apropos Krankenversicherung: Damit „Familien mit niedrigem Einkommen und bestimmter Kinderlast geholfen werden kann“, sollte die Gesundheitskasse Zahnarztleistungen übernehmen, die derzeit „schlecht oder gar nicht erstattet“ werden. Und ehe der Premier erklärte, im Gegensatz zur Forderung des Unternehmerverbands UEL, den Mindestlohn einzufrieren, hal-te die Regierung daran fest, ihn zum 1. Januar 2013 zu erhöhen, stellte er noch eine „landesweite soziale Staffelung im Wasserpreis“ in Aussicht und kündigte für die kommenden Jahre den Bau von „wenigstens“ 9 000 Sozialwohnungen an, „in erster Linie“ Mietwohnungen.

Knapp ein halbes Jahr später lässt die Umsetzung der meisten Ankündigungen noch auf sich warten. Sieht man ab von der ohnehin regelmäßig erfolgenden Mindestlohn-anpassung, ist nur eine Maßnahme drauf und dran, umgesetzt zu werden: die Beihilfen für Schulkinder. Die Eltern von Schülern im Sekundarunterricht und von jenen, die dieses Jahr von der Grundschule in die Sekundarstufe wechseln, wird das Unterrichtsministerium im Juli per Brief darüber informieren, dass, wer zum Bezug des Subside annuel unique berechtigt ist, auch 300 Euro Beihilfe zum Schulbuchkauf beantragen kann.

Dass es das Jahressubsid schon gibt, steht leicht im Gegensatz zu den Darstellungen des Premiers, der sich so verstehen ließ, als werde die Beihilfe neu eingeführt. Tatsächlich wird sie in ihrer Höhe ungefähr verdoppelt und kann, je nach Einkommenslage der Eltern, 500 bis 560 Euro im Jahr betragen. 

Doch dramaturgische Kniffe hatte die Präsentation schon enthalten müssen. Wie etwa auch den, dass die Surprime für ehemalige Arbeiter nicht etwa auf den Regierungsbeschluss hin Anfang 2012 nur noch ein Prozent des Bruttolohns betragen sollte: Dieser Satz steht schon im Gesetz vom 13. Mai 2008 über das Einheitsstatut. Neu war lediglich, dass die Surprime schon für 2013 abgeschafft werden sollte – wofür allerdings noch das Gesetz geändert werden muss. 

Aber weil die Gewerkschaften im Dezember, kurz bevor die Tripartite auseinanderbrach, signalisiert hatten, sie wären mit einer erneuten Indexmanipulation einverstanden, sofern sie auf 2012 beschränkt bliebe und sozial- und wirtschaftspolitisch flankiert würde,  musste schnell ein Bündel aus Begleitmaßnahmen her, das umfangreich war und so aussah, als habe die Koalition auch langjährige Gewerkschaftsforderun-gen aufgenommen. Das half zu versprechen, die Rückerstattung von Zahnarztleistungen werde verbessert. In Sicht ist das noch nicht.

Zwar wurde das Thema vergangene Woche beim Frühjahrstreffen der Krankenkassen-Quadripartite andiskutiert und Gesundheitsminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) hat dafür gesorgt, dass die Nomenklaturkommission, die über die ärztlichen Gebührenordnungen befindet, nächste Woche darüber spricht. 

Doch dort soll zunächst sondiert werden, wie alle Beteiligten die Lage sehen. Das Versprechen vom 16. Dezember wirft gleich mehrere Fragen auf. Dass Zahnersatz oder Zahnspangen durchaus ein paar tausend Euro kosten können, die CNS aber womöglich nur ein paar hundert davon übernimmt, ist schon lange als Problem erkannt. Doch eine bessere Rückerstattung allein für sozial Schwache zu organisieren, liefe der Philosophie der Krankenversicherung zuwider. Vor ihr sind alle Versicherten mit ihrem Leistungsbedarf gleich. Eine Umverteilung findet nur „horizontal“ zwischen Gesunden und Kranken statt, indem Erstere durch ihre Beiträge die Behandlungskosten Letzterer finanzieren helfen. Sie durch eine „vertikale“ Umverteilung zwischen „Reichen“ und „Armen“ zu ergänzen, wäre ein absolutes Novum im System.

Daran liegt es wohl auch, dass auf der Quadripartite zur Sprache kam, eine Beihilfe – vielleicht prioritär für Kinder-Zahnspangen – könne womöglich aus dem Staatshaushalt kommen. Etwa aus einem „Gesundheitsfonds“, der durch Abgaben auf „gesundheitsschädliche Produkte“ gespeist würde, zum Beispiel durch Extra-Akzisen auf Tabak und Alkohol. 

Machbar wäre ein solcher Fonds, der auf eine Idee der LSAP zurückgeht, vermutlich. Sogar mit Blick auf den Index-Warenkorb, aus dem der Premier am 16. Dezember Alkoholika und Tabakwaren herausnehmen zu wollen angekündigt hatte, worüber es bisher jedoch keine weiteren Diskussionen gab. Ebenso wenig wie über das Vorhaben, die Preisentwicklung von Erdölprodukten, außer Heizöl, ab einer bestimmten Zuwachsrate nicht mehr im Warenkorb zu berücksichtigen. Eigentlich hatte die Regierung darüber im März entscheiden wollen, wie Juncker im Dezember erklärte.

Aber vielleicht ist das gar nicht nötig. Denn das Statistikamt Statec hatte vor zwei Jahren vorgerechnet, dass zwischen 2003 und 2009 die Alkohol- und Tabakpreise ohne nennenswerten Einfluss auf den Index waren (d’Land, 23.12.2011). Und als der Premier laut über die Erdölprodukte im Warenkorb nachdachte, hatte kurz zuvor die Zentralbank prognostiziert, in den beiden nächsten Jahren würden die Energiepreise so stark gar nicht steigen.

Der heikle Punkt bei der Zahnarzt-Rückerstattungsfrage ist aber weniger die Finanzierung als der Umstand, dass die teuersten Leistungen auch deshalb so kostspielig sind, weil die Preise dafür frei kalkuliert werden dürfen und der Zahnarzt auf einen Kostenvoranschlag hin in Rechnung stellen darf, was er will. Diese Leistungen für den Patienten zu verbilligen, ob durch bessere Rückerstattung durch die CNS oder einen Zuschuss vom Staat, würde eigentlich voraussetzen, zunächst in diesen Markt einzugreifen, damit die neuen Hilfen nicht einfach eingepreist werden. Wie weit die Regierung dabei gehen würde, ist noch nicht abzusehen. Damit aber steht auch in Frage, ob die neue Reglung tatsächlich zum 1. Januar 2013 in Kraft treten könnte, wie der Jean-Claude Juncker am 16. Dezember versprach.

Noch komplizierter umzusetzen sieht sein Versprechen nach einer „landesweiten sozialen Wasserpreisstaffelung“ aus. Öffentlich war seit dem 16. Dezember nie mehr die Rede davon. Stattdessen versprach der Premier am 8. Mai in seiner Erklärung zur Lage der Nation einen „landesweiten Einheitspreis“ und bis zum Herbst ein „Modell“ dafür.

Das klang, als sei der „Einheitspreis“ eine Vorbedingung für eine „soziale Staffelung“. So sehen das tatsächlich so manche Bürgermeister von Landgemeinden. Unlogisch ist die Argumentation nicht: Schon im vergangenen Jahr hatte der für Wasserpolitik zuständige Innenminister Jean-Marie Halsdorf (CSV) angedeutet, pro Einwohner eine Gratismenge Wasser abzugeben, wie es schließlich vor vier Wochen in Monnerich unter LSAP-Bürgermeister Dan Kersch beschlossen wurde, könne doch mit dem Wassergesetz vereinbar sein. Dieses sieht für die kommunale Trinkwasserversorgung und Abwasserbehandlung zwar das Kostendeckungsprinzip vor. Doch Halsdorf meinte damals, die Kostendeckung müsse nur für eine  Gemeinde insgesamt und über all ihre drei Verbraucherkategorien hinweg gelten – Haushalte und Kleingewerbe, Bauernbetriebe und Großverbraucher aus der Industrie. Das sollte heißen: Wollte eine Gemeinde wirklich Sozialpolitik über den Wasserpreis betreiben, könne sie Preisdifferenzen entweder auf die anderen Verbraucher umlegen oder sie in Grenzen aus dem Gemeindehaushalt subventionieren. 

Das Problem ist nur: Die Wasser-Gestehungspreise differieren von Gemeinde zu Gemeinde um den Faktor zwei bis drei und sind in kleinen Landgemeinden besonders hoch. Wollte eine davon „sozial staffeln“, müsste sie entweder die lokalen Landwirte belasten oder das schmale Gemeindebudget. „Landesweite Einheitspreis“ dagegen hieße, einen Lastenausgleich über Land zu organisieren.

Das ist es, was Juncker am 8. Mai „nationale Solidarität“ nannte. Sie herbeizuführen hieße aber, an die Gemeindeautonomie zu rühren, der die Wasserwirtschaft laut Gemeindegesetzgebung unterliegt. Und weil hohe Wasser-Gestehungspreise häufig auch hohe Kosten für Investitionen enthalten, die in der Zukunft nötig sind, in der Vergangenheit aber unterblieben, hieße „nationale Solidarität“ auch, jene Gemeinden, die ihre Infrastuktur in Schuss hielten, für die mitzahlen zu lassen, die das versäumten. Kein Wunder, dass die großen Städte sich dem „Einheitspreis“ bisher energisch widersetzen. Schnell dürfte der nicht zu haben sein. Doch wenn er tatsächlich die Vorbedingung für eine soziale Staffelung sein sollte, wäre die eines der utopischsten Versprechen vom Dezember.

Auch die versprochene Großinitiative für sozialen Mietwohnungsbau scheint eher ein Vorhaben auf lange Sicht. Schon im Dezember musste sich die Regierung von der DP vorrechnen lassen, die 9 000 vom Premier für die nächsten Jahre angekündigten Sozialwohnungen seien das Dreißigfache dessen, was der öffentliche Fonds du logment pro Jahr neu baue. Auf diesen Vorwurf kam Juncker am 8. Mai zurück: Nicht zuletzt die nationale Gesellschaft für Siedlungsentwicklung werde helfen, viele neue Wohnungen zu bauen. Doch zu der von Juncker für die Woche danach angekündigten öffentlichen Vorstellung dieser Gesellschaft kam es nicht. Das ist vielleicht nicht weiter schlimm, denn da die Gesellschaft schon seit dem Gesetzentwurf über den Wohnungsbaupakt vor fünf Jahren im Gespräch ist, kommt es auf ein paar Wochen auch nicht mehr an. Einen guten Eindruck macht es allerdings ebenfalls nicht.

So dass als einzige greifbare Neuerung aus den vielen Versprechen vom 16. Dezember die Schulbuch-Beihilfe übrig bleibt. Anspruchsberechtigt sind, mit dem Subside annuel unique, zum Beispiel Alleinerziehende mit einem Kind bei einem Jahres-Nettoeinkommen unter 24 446 Euro oder Paare mit einem Kind beziehungsweise Alleinerziehende mit zwei Kindern bei weniger als 28 311 Euro netto. Das Unterrichtsministerium schätzt, 5 000 Schüler könnten die Beihilfe in Anspruch nehmen. Bei einer Gesamt-Schülerzahl von rund 35 000 im Sekundarunterricht wäre das immerhin jeder Siebente. Ganz offensichtlich ist der Kreis der Personnes nécessiteuses so klein nicht.

Aber sei es Schulbüchergeld, Gratis-Wasser oder eine Zahnspangenhilfe, die der Staat zahlt: Allesamt sind das Maßnahmen, die in erster Linie Einheimischen zugute kommen. Exportabel wären sie wahrscheinlich nicht. Grenzpendlern mit dem Mindestlohn bliebe dann vielleicht nur der Trost, dass der Zahnarzt daheim nicht so viel kostet wie der in Luxemburg.

Peter Feist
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