Auf einer Kreuzfahrt geben Luxemburger/innen vor, Exotik zu suchen und richten sich dann doch in ihren heimischen Gewohnheiten ein. Alle Jahre wieder lassen sie sich auf das schrille Unterhaltungsprogramm ein, stürzen sich auf einem Luxusdampfer in die Vergnügungssucht wie sonst nur im September auf die Schueberfouer. „Im Grunde weiß niemand mehr so richtig, weshalb oder wie genau die Sache begonnen hat, aber seit nunmehr über drei Dekaden pilgern bis zu 1 500 Luxemburger während der Pfingstferien gemeinsam an Bord eines Ozeanriesen, um dort eine Woche lang in aller Ruhe zwei ihrer frevelhaftesten Leidenschaften zu frönen, namentlich der touristischen Seefahrt und der Völlerei.“
Einen „literarischen Einblick in ein luxemburgisches Urlaubsphänomen“ verspricht die Presseankündigung zu Nora Wageners neuem, bei den Editions Guy Binsfeld erschienenen Buch Alle meine Freunde – der Roman zur Kreuzfahrt.
Kreuzfahrten bergen Potenzial – für Dokumentationen gleichermaßen wie für gruselige Fiktionen. Die eigene Selbstbefragung über das Buchvorhaben und die Frage nach dem passenden Genre baut Wagener gleich in ihren Roman ein. Vor allem aber will sie ergründen: Warum machen das so viele gern? „Und wenn dabei kaum einer Glück verspürt, wie es dem Anschein nach offenbar der Fall ist, warum unternimmt man an Stelle davon nicht etwas anderes, etwas Erbauliches? Warum sich das freiwillig antun?“
Wageners Ansatz, deren Stärke in Figurenzeichnungen liegt, ist vielversprechend. In 27 Kapiteln beleuchtet sie die individuellen Erfahrungen und Gefühle einiger Luxemburger Pauschalurlauber/innen und von zwei Mitarbeitern der Bord-Crew. Da ist der sympathische Ungar Georgy, durch dessen scharfsinnige Beobachtungsgabe sie das Geschehen auf dem Schiff aus Sicht eines Angestellten reflektiert. Durch ihn bekommt man einen „anderen Blick“ auf das Schiff: „Die Küche (an Bord) ist hell und steril und sieht in Georgys Augen wie eine große Leichenhalle aus. Weiße Fliesen auf dem Boden und an den Wänden, Röhrenleuchten an der Decke, und ab der Hüfte besteht der Raum aus einer Edelstahllandschaft.“ Georgy, der sich als Kellner auf dem Schiff verdingt, lernt schnell die Gäste wiederzuerkennen und ihnen zu schmeicheln. Das Paar Carlo und Melanie identifiziert er als „den traurigsten Mann der Welt und seine Gattin“.
Oder seine Cousine Marina, die auf dem Luxusdampfer Candyflip ihrem Traum nähergekommen ist. Jeden zweiten Abend tritt sie unter dem Künstlernamen Olga für eine Stunde in der Piano Bar auf. „Von Anfang an fand Marina es verblüffend, wie antriebslos und scheinbar halb unglücklich die Leute durch die Gänge schlurfen. Das will ihr einfach nicht in den Kopf. Wie Menschen, die sich eine Woche all-inclusive auf einem Schiff leisten können, im Sonnenschein, mit Cocktails, wie die es fertigbringen nicht in jeder Sekunde vor Freude zu strahlen.“
Vorgestellt wird Sandra, die den Trip jedes Jahr von ihrem Mann geschenkt bekommt, sich an Bord in Wellness-Angebote stürzt und dennoch eine depressive Leere empfindet: „Das sind komplizierte, schwermütige Gedanken, die sich sonderbarerweise vor allem in der Urlaubszeit anhäufen. Diese Überlegungen sind allerdings, wenn Sandra ehrlich ist, auch nur ein Katzensprung von ihrer Stimmung an jenen Sonntagen entfernt, an denen sich, selbst wenn die ganze Familie eingetrudelt und an einem Tisch versammelt ist, eine ähnliche Gedrücktheit bei ihr breit macht.“ Oder Henriette, eine demente Frau, die an Bord der Candyflip immer mehr den Überblick verliert: eine gewagte Figurenzeichnung, denn das Entgleiten der Wirklichkeit und die Abhängigkeit der Frau wird hier recht erbarmungslos herausgestellt.
Wageners Beschreibungen sind mitunter herrlich grotesk, zuweilen aber auch etwas abgehoben oder flapsig. Der Kontrast zwischen dem eher klugen Bordpersonal und den tölpelhaften, übersättigten, unzufriedenen Pauschaltouristen ist etwas zu konstruiert. Kaum thematisiert werden die prekären (Arbeits-)Verhältnisse, in denen sich viele der Bordangestellten solcher Luxusschiffe als Leiharbeiter über Zeitverträge mit Agenturen von Saison zu Saison durchhangeln. Ein richtiges Verständnis, ein wirkliches Interesse, warum „die Freunde“ den Luxusdampfer wählen, stellt sich nicht ein. Im Vordergrund bleibt die Kritik der seriellen Erfahrungen und Bespaßungen.
Wenngleich Wagener mit ihrer Sprache in den Bann ziehen kann – vor allem mit den minutiösen Beschreibungen des Unterhaltungsprogramms einschließlich der Karaoke-Shows, die vor bissiger Beobachtungsgabe strotzen, so überzeugt das Buch nicht auf dieselbe Art, wie ihre Kurzgeschichtenbände E. Galaxien (2015) oder Larven (2016). In Alle meine Freunde fehlt ein wirklicher Spannungsbogen und so plätschert der Kreuzfahrtroman über 264 Seiten vor sich hin.
Von Anfang bis zum Ende bleibt das Gefühl einer dumpfen Leere, die die Tourist/innen beherrscht und der sie doch zu entkommen suchen. Diese Leere und Sinnlosigkeit angesichts eines stumpfen Alltags vermag Nora Wagener allerdings bei ihren Figuren gekonnt einzufangen. In Alle meine Freunde erschöpfen sich die individuellen Geschichten rund um die Kreuzfahrt jedoch zu schnell.