Die Buchhaltung der Natur

Die Geschichte der Schlangensterne

d'Lëtzebuerger Land du 21.10.2016

Die Menschen möchten Kontakt mit Tieren aufnehmen, um sie zu beherrschen. Um wenigstens Blickkontakt aufzunehmen, ist es wichtig, die Augen zu finden oder auch nur den Kopf. Oder wenigstens zu wissen, wo vorne und hinten am Tier ist. Unter den zur Fortbewegung fähigen und damit gemeinhin als Tiere angesehenen, verweigern die Seesterne jeden Kontakt radikal.

Denn Seesterne gehören zu den wenigen Tieren, deren Körper weder asymmetrisch noch einfach spiegelsymmetrisch ist, der keine zwei Augen, keine gerade Zahl Pfoten, keine linke und rechte Hälfte, kein Vorne und Hinten hat. Sie sehen nicht nur aus, als ob sie bloß aus Armen bestünden, sondern ihnen ist auch nicht anzusehen, in welche Richtung sie damit im nächsten Augenblick kriechen. Sie verweigern jede Kontaktaufnahme, weil ihre Perfektion von gleich zehn Spiegel- und Drehsymmetrien das menschliche Verständnis abweist.

Den Seesternen ähnlich sind Schlangensterne, deren Körper sich als eine Art Scheibe von den sich schlängelnden Armen absetzt. Zusammen mit den Seesternen, Seegurken, Seeigeln und Seelilien werden sie zu den Stachelhäutern gezählt, die in fast allen Meeren leben, aber auch Zeugen eines archaischen Erdzeitalters waren: Schlangensterne kriechen seit einer halben Milliarde Jahren ­recht flink über die Meeresböden, fressen Abfall, Aas, Plankton und andere Tiere, haben auf ihre Art Sex und nahmen in all der Zeit we­der Notiz vom Aufkommen, noch vom Verschwinden der Saurier.

Im Jahrhundert des Absolutismus veröffentlichte der schwedische Biologe Carl von Linné 1735 ein bis heute gültiges Systema naturæ, in dem er die Natur nach dem Vorbild der Klassengesellschaft im Königreich hierarchisierte und in Reiche, Klassen, Ordnungen, Gattungen und Arten einteilte. Dabei sollten anatomische Gemeinsamkeiten den Verwandtschaftsgrad ausdrücken. Die Schlangensterne zählte Linné zum Tiers état, zur Klasse der Vermes, des Gewürms, und in dieser Klasse zur untersten Ordnung, derjenigen der Zoophyta, der pflanzenähn­lichen Tiere.

Nach dem Sieg des bürgerlichen Liberalismus führte der englische Naturforscher Charles Darwin dann 1859 mit On the Origin of Species die kapitalistische Konkurrenzwirtschaft als Auslese im Überlebenskampf in die Biologie ein und erklärte Linnés Verwandtschaftsverhältnisse als Ergebnis der Evolution. Bei der Eroberung der Welt führten die Kolonialmächte Heere von Naturforschern mit, die Skelette, Bälge und Formolleichen aus aller Welt nach Hause brachten, sezierten und nach Linnés Gebrauchsanweisung als neue Arten be­schrieben, mit latinisierten Namen der Gattung, der Art und, zur Belohnung als kleines Denkmal, in Klammern dem Namen des Entdeckers und dem Jahr der Be­schreibung. So trägt der inzwischen in einen eigenen Stamm des Tierreichs aufgestiegene Gemeine Schlangenstern den wissenschaftlichen Namen Ophiothrix fragilis (Abildgaard, 1789). Selbstverständlich trägt oder trug das in der Nordsee verbreitete Tier auch noch zwei Dutzend andere wissenschaftliche Namen, weil sich die Zoologen nicht einig waren, ob leicht unterschiedliche Schlangensterne Angehörige der gleichen Gattung, Art oder Unterart sind.

Denn Linnés absolutistische Klassenhierarchie und Darwins libereale Konkurrenzwirtschaft stimmten im Detail selten überein. Deshalb streiten Biologen bis heute über die Verwandtschaftsbeziehungen vieler Arten. Wenn neue Techniken populär werden, wie genetische Untersuchungen, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Datenbanken im Internet, werden viele alte Klassifizierungen wieder über den Haufen geworfen.

Das gilt auch für die Schlangensterne. Ihre Klassifizierung erwies sich bereits kurz nach Darwins Tod als überholt, was aber angesichts ihrer großen Ent­fernung zu allem Menschlichen nur wenige Leute störte. Während des Ersten Weltkriegs machte der junge japanische Zoologe Hikoschichiro Matsumoto Vorschläge zu einer neuen Klassifizierung, ihm folgten erst in den vergangenen Jahrzehnten weitere Versuche, Ordnung unter den inzwischen weit über 2 000 beschrieben Arten zu schaffen.

Seit mehreren Jahren beschäftigt sich auch ein junger Paläontologe des Musée national d’histoire naturelle im Stadtgrund, Ben Thuy, mit der Systematik der Schlangensterne. Zusammen mit der Zoologin Sabine Stöhr vom Schwedischen Museum für Naturgeschichte machte er nun neue Vorschläge, um das System der Verwandtschaftsverhältnisse dieser Tiere darzustellen, und veröffentliche dazu in der wissenschaftlichen Online-Zeitschrift Plos one einen Beitrag unter dem Titel A New Morphological Phylogeny of the Ophiuroidea (Echinodermata) Accords with Molecular Evidence and Renders Microfossils Accessible for Cladistics.

Für ihre Untersuchung haben die beiden Forscher jeweils mindestens zwei zeitgenössische oder fossile Exemplare aus 17 der 19 heute vorkommenden Schlangensternfamilien nach 184 Merkmalen katalogisiert. Dabei legten sie besonderen Wert auf die unterschiedlich gestalteten Kalkplättchen an den Seiten der Schlangensternarme. Für die mikroskopische Betrachtung wurden die winzigen Skelettteile mit Hilfe von Eau de Javel aus den toten Tieren gewonnen, gewaschen, getrocknet, auf Aluminiumhalter montiert und vergoldet.

Im Zeitalter der globalisierten Wirtschaft und der Elektronischen Datenverarbeitung, der Quantifizierung aller Qualität und der Auflösung aller Urteile in statistischer Wahrscheinlichkeit, wurden die Listen mit den Merkmalen von Aussehen und Bau der Tiere, darunter ihrer Armplättchen, im Computer ausgewertet, einmal mit Hilfe der bayesschen Wahrscheinlichkeitsrechnung und einmal, indem mit Ockhams Rasiermesser ein Stammbaum errechnet wurde, der die wenigsten evolutionären Veränderungen voraussetzt. Zur Zufriedenheit der Forscher waren die Ergebnisse beider Berechnungen ähnlich; sie zeigen auch Übereinstimmungen mit den vor zwei Jahren veröffentlichten Ergebnissen einer genetischen Untersuchung von Schlangensternen, an der Ben Thuy ebenfalls beteiligt war.

So kommen die Forscher zu der Schlussfolgerung, dass der Stammbaum der Schlangensterne im Laufe der Jahrmillionen drei Zweige getrieben habe, von denen zwei jeweils drei weitere Verästelungen hätten. Bisher beruhte die Klassifizierung der Schlangensterne vor allem auf einem angeblichen Gegensatz zwischen der Ordnung der landläufigen Schlangensterne, der Ophiurida, und der Ordnung der Euryalida mit ihren oft fein verästelten Armen, die das Meerwasser durchfiltern. Ben Thuy und Sabine Stöhr fühlen sich aber nun in der Auffassung bestätigt, dass beide Ordnungen einen einzigen Zweig der Evolution darstellen.

Die Untersuchung legt zudem den Schluss nahe, dass ein Teil der Familien und Unterfamilien, in die die Schlangensternarten bisher aufgeteilt sind, gar keine sind, weil die gemeinsamen Merkmale nicht auf gemeinsame Ahnen zurückzuführen sind. Außerdem betonen die Forscher stolz, dass die von ihnen ausgewählten Armplättchen ergiebige Merkmale seien, um die Ent­wicklungsgeschichte von Schlangenster­nen zu untersuchen.

Denn Ben Thuy und Sabine Stöhr halten nach ihrer Forschung eine neue Klassifizierung der Schlangensterne für nötig. Aber sie wollen sie nicht selbst vornehmen oder zumindest noch nicht. Für die drei Entwicklungszweige und Verästelungen gleich neue Unterklassen und Überordnungen zu erfinden, dürfte die Unübersichtlichkeit nicht verringern. Deshalb drängen sich erst einmal weitere Untersuchungen auf. Die Schlangensterne haben vielleicht noch 500 weitere Millionen Jahre Zeit.

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Romain Hilgert
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